Flucht Die Europäische Union gibt Milliarden aus, um die Flucht von Migrant:innen nach Libyen zu blockieren. Die Sahara wird für viele von ihnen zum Friedhof: Sie werden von Schleusern alleine gelassen oder verdursten in der Wüste
Auf der Suche nach ein wenig Schatten in der Wüste
Foto: Joe Penney/NYT/Redux/Laif
In einem schwer bewachten Gefängnis in der Stadt Agadez im Norden Nigers sitzt der Menschenschmuggler Sade Yaya* auf einem Hocker im Hof. Mehrere Jahre lang hat er Migrantinnen und Migranten aus dieser Region durch die Wüste gefahren, meist bis zur libyschen Grenze. Nun ist er zu 18 Jahren Haft verurteilt.
Die Passage durch die Region Agadez war einst eine zentrale Durchgangsstraße für Menschen, die nach Norden zogen, um in Libyen oder Algerien zu arbeiten oder um nach Europa zu gelangen. 2015 erließ die nigrische Regierung – mit Unterstützung durch EU-Behörden – jedoch ein Gesetz , das den Menschenschmuggel bekämpfen sollte. Nun ist es den meisten Reisenden verboten, die zentrale Route zu nehmen, engmaschige Patrouillen sollen die Mensche
ie Menschen schon auf dem Weg nach Norden aufhalten. Aufgrund dieses Gesetzes wurde Sade Yaya verurteilt. Er sagt, nach Inkrafttreten habe er bei seinen illegalen Fahrten nach Norden Leichen im Sand gesehen – „häufig“.Agadez wird als „Tor zur Wüste“ bezeichnet, eine Stadt mit alten Handelsrouten. Jetzt gehen von ihr noch gefährlichere Routen durch die Wüste als zuvor aus. Forscher und Menschenrechtsorganisationen, darunter auch der UN-Berichterstatter für Menschenrechte, haben die Sorge geäußert, dass das Gesetz die Menschen zu riskanteren Migrationsreisen zwingt. Auch hebelt es das in der Region verankerte Recht auf Freizügigkeit aus.Yaya erzählt, das Routenverbot habe ihn und andere Schleuser dazu veranlasst, tiefer in die Wüste zu fahren und Wasserstellen zu meiden, weil an ihnen häufig nigrische Soldaten patrouillieren und Ausschau nach Migranten halten. Manche Schleuser lassen Menschen aus Angst vor Strafverfolgung deshalb in der Wüste zurück.Die Wüste, das sind rund 400.000 Quadratkilometer in der Sahararegion: Die Ténéré-Wüste reicht vom Nordosten Nigers bis in den Westen des Tschad. Such- und Rettungsmissionen sind hier schwierig, hinzu kommt die Bedrohung durch bewaffnete Banditen oder terroristische Gruppen. Wie viele Todesopfer es in dieser Wüste gibt, diese Zahl bleibt unbekannt, sagt Julia Black vom Projekt Missing Migrants, das das Verschwinden von Migranten und Migrantinnen dokumentiert: „Die 212 Todesfälle, die wir letztes Jahr in der Sahara verzeichnet haben, sind nur die Spitze des Eisbergs. Die Todesfälle während der Transsahara-Migration bleiben weitgehend unsichtbar, da ihre Dokumentation in einem so riesigen und unwirtlichen Gebiet wie der Sahara eine große Herausforderung darstellt.“Die Organisation Ärzte ohne Grenzen Niger, die im Norden des Landes Kliniken betreibt, sagte, dass alle von ihr durchgeführten Such- und Rettungseinsätze aufgrund der „Größe der Wüste“ kompliziert seien. Manchmal finden sie selbst diejenigen, die einen Notruf absetzen konnten, nicht mehr.1,3 Milliarden für die GrenzeRalan Abi* aus Senegal wurde gefunden. 2021 war Abi auf der Wüstenroute ausgesetzt worden, in einer Gruppe von 75 Personen wollte er nach Libyen. Zwei Tage nach Beginn ihrer Reise wurden sie in der Nähe von Séguédine, einer Oase mitten in der Sahara, von ihren Wegführern im Stich gelassen.Einige der Gruppe gingen auf die Suche nach Wasser, und Abi sagt, dass fünf von ihnen neben ihm verdursteten. Er wurde schließlich von nigrischen Soldaten gerettet, die sich später auf die Suche nach weiteren Überlebenden machten. „Sie fanden neun Menschen tot“, sagt er. „Von etwa 75 Menschen waren noch 28 übrig.“Niger, eines der ärmsten Länder der Welt, hat umfangreiche Spenden der Europäischen Union erhalten, von denen ein großer Teil in die Migrationssteuerung fließt. Die Gelder bezifferten sich zwischen 2014 und 2020 auf insgesamt mehr als 1,3 Milliarden Euro. Zwischen 2015 und 2022 drehten sich 13 von 19 EU-finanzierten Projekten für das nordafrikanische Land um Grenzkontrollen und Strafverfolgung. Im selben Zeitraum gab Deutschland nach Angaben der deutschen Nichtregierungsorganisation Misereor über 166 Millionen Euro für 14 migrationsbezogene Projekte aus.Der Niger ist zu einer „externalisierten europäischen Grenze“ geworden, stellt Privacy International fest. Die NGO hat herausgefunden, dass der EU-Treuhandfonds für Afrika von fünf Milliarden Euro zur Bekämpfung der „Grundursachen der irregulären Migration“ allein 11,5 Millionen Euro für die Migrationskontrolle vorsieht, also für Drohnen, Software und Kameras.Diese Investitionen verändern die Fluchtroute massiv. Ein aktueller Bericht der Ermittlungsgruppe Border Forensics kommt zu dem Schluss, dass die Auswirkungen des Anti-Schmuggel-Gesetzes in Niger die Menschen auf immer gefährlichere Wege getrieben haben. Das „wahre Ausmaß der Todesfälle unter den Migranten in der Wüste ist unbekannt“, heißt es in dem Bericht der Gruppe.Auf Anfrage beschwichtigen die nigrischen Behörden: In diesem Jahr habe es keine Todesfälle gegeben, und im vergangenen Jahr nur 52. Die EU-Grenzschutzagentur Frontex sagt, sie habe „keine Daten über die Anzahl der in Niger als vermisst gemeldeten Migranten gesammelt“. Die Europäische Kommission bedauert den Verlust von Menschenleben und ist der Überzeugung, „dass es eine moralische Pflicht ist, Leben zu retten“. Sie fügte hinzu, dass sie die Such- und Rettungsbemühungen in dem Land weiterhin unterstützen werde.Die Europäische Union erneuerte 2022 ihre Partnerschaft mit der Republik Niger, die sie als „Schlüsselpartner“ zur Bekämpfung der Schleuserkriminalität bezeichnete. EU-Beamte besuchen das Land häufig, so auch eine niederländische Delegation im Februar, die versprach, noch in diesem Jahr eine eigene „Migrationspartnerschaft“ zu gründen.Und die Gelder fließen. Laut einem Entwurf der EU-Kommission, der dem Guardian vorliegt, unterstützen die Niederlande die Internationale Organisation für Migration (IOM) in Niger bis 2023 mit 55 Millionen Euro bei der Migrationssteuerung. Auch Großbritannien hat der IOM Mittel in Höhe von knapp drei Millionen Euro für ein einjähriges Projekt zur Bekämpfung von „Menschenhandel und Schmuggel zwischen Nigeria und Niger“ zur Verfügung gestellt. Dem Bericht zufolge soll das Projekt gegen eine „extrem durchlässige und unregulierte“ Grenze arbeiten.Merkam Linou* sitzt inzwischen in einem Hof in Agadez, sie ist 35 Jahre alt, sie kommt aus Kamerun. Auf ihrem Schoß sitzt ein Baby. Vor eineinhalb Jahren, erzählt Linou, sei sie in der Wüste gewesen, auf einer gefährlichen Route Richtung Libyen. Es habe Tage gedauert, bis sie gefunden wurden. Aber alle aus ihrer Gruppe hätten überlebt.Etwas weiter sitzt Nassim Amanda*, 24, aus Eritrea unter einem Baum. Er wurde aus Algerien ausgewiesen und schläft seit Mai letzten Jahres auf der Straße in Agadez, weil er sich auf der Straße sicherer fühlt als im Lager. „Ich werde nicht die Kraft finden, noch einmal in die Wüste zurückzugehen“, sagt er leise. Amanda kennt die Gefahren des Sandes nur zu gut: Zu den meisten Menschen, die er kannte und die die Passage wagten, kann er inzwischen keinen Kontakt mehr herstellen.Placeholder infobox-1