„Frieden ist etwas für die, die sich mit eingeschränkten Freiheiten zufriedengeben können“
Interview Die iranische Journalistin Shiva Akhavan Rad und Bestsellerautorin Elena Ferrante unterhalten sich über die Proteste im Iran, feministische Kämpfe in Europa und die Frage, welche Lehren jede Freiheitsbewegung aus der Geschichte ziehen muss
Shiva Akhavan Rad ist eine iranische Journalistin. Sie war als Psychologin tätig, bevor sie begann, für iranische Lokalzeitungen und Zeitschriften über Film und Kultur zu schreiben. Rad sprach mit der italienischen Autorin Elena Ferrante über die Proteste im Iran, da sie Parallelen zur Situation der jungen Frauen in Ferrantes Neapolitanischer Saga sieht. Dieser vierbändige Romanzyklus brachte der unter Pseudonym schreibenden Autorin weltweite Anerkennung. Sie erzählt darin die Geschichte der Mädchen Lila and Lenù, 1944 in Neapel geboren, die versuchen, sich inmitten einer gewalttätigen und repressiven Kultur ein eigenes Leben aufzubauen.
Shiva Akhavan Rad: Die Frauen im Iran legen aus Protest gegen den obligatorischen Hijab ihre Kopftücher a
rotest gegen den obligatorischen Hijab ihre Kopftücher ab und gehen auf die Straße, manche verbrennen sie sogar – ein Zeichen eines großen Wandels. Im Iran eine Frau zu sein, ist heute ein politischer Akt. Manche sprechen deshalb schon von der ersten feministischen Revolution der Welt, die mit dem Slogan „Zan, Zendegi, Azadi“ („Frau, Leben, Freiheit“) angetreten ist. Wir leben in patriarchalen Verhältnissen und nachdem ich Ihre Neapolitanische Saga gelesen und die dazugehörige TV-Serie geschaut hatte, empfand ich eine große Ähnlichkeit zwischen der Atmosphäre damals in Italien und der heute im Iran. Psychologisch konnte ich mich sehr stark mit Lila und Lenù identifizieren. Ich frage mich, was die beiden machen würden, wenn sie in diesen turbulenten Tagen im Iran lebten? Oder auch Sie selbst?Elena Ferrante: Was soll ich sagen? Lila wäre sicherlich an vorderster Front, und Lenù, um mitzuhalten, um nichts zu verpassen, würde ihr folgen, sogar bis ins Gefängnis und in den Tod. Was mich selbst angeht, kommt es mir vermessen vor, eine Behauptung aufzustellen. Ich bin weit weg, an einem sicheren Ort. Aber ich verfolge, was passiert, und mich bewegen insbesondere die Frauen, die sich mit absoluter Entschlossenheit der Gefahr aussetzen. Unter Einsatz des eigenen Lebens zu demonstrieren, setzt großen Mut und extreme Verzweiflung voraus, aber auch einen Funken Hoffnung. Ich bewundere Menschen, die sich der Gewalt der Macht offen entgegenstellen, und frage mich immer, ob ich selbst dazu fähig wäre. Ich halte mich für schüchtern, aber ich nehme es nicht hin, dass jemand mir Angst einflößt. Repressive Machthaber sollten ihr Volk fürchten müssen: Ist es umgekehrt, versetzt mich das in Wut. Und Wut lässt mich meine Angst vergessen. Ich stelle mir daher zumindest vor, dass ich im Iran auf die Straße ginge: wie Lila mit Leidenschaft und Wut; aber auch wie Lenù, aus Pflichtgefühl, aus dem Bedürfnis heraus, zu sehen, zu verstehen und zu versuchen, es zu beschreiben.Shiva Akhavan Rad: Im ersten Band der Saga, Meine geniale Freundin, erzählt Lila Lenù von ihrem Gespräch mit Pasquale, dem älteren Bruder einer Freundin: „Er erklärt die Dinge, die vor uns geschehen sind ... Wir wissen nichts. Wir wussten nichts, als wir Kinder waren, und auch jetzt nicht. Daher sind wir nicht in der Lage, irgendetwas zu verstehen.“ Ein Hauptthema des Romans ist, dass wir nicht aus der Vergangenheit lernen und daher die historischen Fehler der Generationen vor uns wiederholen. Lila erkennt, dass ihre Eltern nichts über die Geschichte Italiens wissen, weder über den Faschismus noch über Gerechtigkeit, Unterdrückung und Ausbeutung. Sie ist auf der Suche nach historischem Bewusstsein, aber sie ist Opfer eines traditionellen Familiensystems, einer patriarchalen Gesellschaft und krimineller Banden wie der Camorra. Im Iran gibt es seit der Konstitutionellen Revolution (1905 – 1911) eine Freiheitsbewegung und den Kampf gegen die Tyrannei. Fortschrittliche und nationale Kräfte wie auch die Linke wurden von verschiedenen Regierungen unterdrückt. Dennoch setzte sich der Kampf für die Freiheit im Lauf der Geschichte in unterschiedlicher Form immer fort. Und heute geht die junge Generation wieder einen neuen Weg, um die Freiheit zu erlangen. Was denken Sie, wie kann dieses historische Bewusstsein der Frauenbewegung im Iran helfen? Ist es möglich, die historischen Fehler zu überspringen und nicht erneut in den Abgrund zu fallen?Elena Ferrante: Bildung ist fundamental. Lernen, Erinnern und Selbstanalyse sind unerlässlich, um eine bewusste Entscheidung zu treffen, wie wir unsere Leben gestalten. Es so zu formulieren, ist aber zu linear. Wir dürfen nicht vergessen, dass jeder Mensch wie ein verworrener Knoten ist. In uns allen vermischen sich verschiedene Zeitalter, unvereinbare Überzeugungen, widersprüchliche Gefühle. Hier in Europa neigen wir dazu, die Komplexität unseres Weges zur Freiheit zu vereinfachen. Wenn wir überzeugt sind, dass wir gewonnen haben, schieben wir den Schmerz, die Widersprüchlichkeiten, die ungelösten Probleme beiseite. Doch die Geschichte, die uns Frauen wirklich nützt, sieht nicht wie ein Triumphzug aus, sondern erinnert uns an die Leiden und die Ungerechtigkeiten, die frühere Generationen durchgemacht haben: Diese Geschichte stellt sicher, dass wir ihnen Gerechtigkeit widerfahren lassen, uns über unsere Siege nichts vortäuschen, nach Niederlagen trotzdem weitermachen, und dass uns bewusst bleibt, dass jede Generation am Ende ihre eigenen Fehler macht. Wir müssen wachsam sein. Kein Triumphalismus bitte. Im Westen meinen wir, wir hätten bestimmte Rechte unwiderruflich erlangt. Dabei vergessen wir, dass – insbesondere für Frauen – kein Recht jemals wirklich erlangt ist.Shiva Akhavan Rad: Italien hat eine lange Tradition gesellschaftspolitischer Literatur. Einflussreiche Autoren wie Ignazio Silone, Cesare Pavese und Pier Paolo Pasolini schrieben Romane mit gesellschaftskritischem und antifaschistischem Hintergrund. Ihre Romane stehen in demselben Kontext. Beeinflussten Sie diese Autoren?Elena Ferrante: Ich habe mehr von Autorinnen gelernt: Elsa Morante, Natalia Ginzburg, Alba de Céspedes sind nur einige Namen aus der Generation vor mir.Shiva Akhavan Rad: Weshalb schreiben Sie unter Pseudonym?Elena Ferrante: Die Antwort darauf erscheint mir heute sehr einfach: Erfolg und Ruhm zu vermeiden, ist eine von vielen Möglichkeiten, sich komplett frei zu fühlen. Aber es gibt noch eine etwas kompliziertere. Man ist nicht Vollzeit-Autorin. Ich mache viele andere kleine Dinge, die mir wichtig sind. Der Drang zum Schreiben ist mein Moment der größten Wahrheit. Ich nenne ihn Elena Ferrante, was für mich und meine Leser:innen mein wahrer und einziger Name ist.Shiva Akhavan Rad: Sie sagten einmal in einem Interview, Gewalt sei Männersache. Doch die Gewalt, die derzeit im Iran herrscht, richtet sich nicht nur gegen Frauen. Männer sind ebenfalls Opfer staatlicher und häuslicher Gewalt. Und auch wenn Frauen Männer betrügen, üben sie eine Form von Gewalt aus. Oder wie sehen Sie das?Elena Ferrante: Wir Frauen – wo auch immer auf der Welt – sind von Geburt an von einer männlichen Kultur umgeben. Die Sprache ist männlich, die Familie ist männlich, die Religion ist männlich, die Gesetze sind männlich, die Regierungsinstitutionen sind männlich, Literatur ist männlich, die Künste und die Wissenschaften ebenso wie Bildung. Was meine ich damit? In all unseren Erscheinungsformen – selbst der Mutterschaft – nehmen wir die Form einer Frau an, die von den Formen geprägt ist, die die patriarchale Vorherrschaft seit Tausenden Jahren für uns erfunden hat. Alles, was ich, eine Frau, versuche auszudrücken, bewegt sich zwangsläufig zunächst innerhalb der männlichen Tradition. Auch Gewalt ist da keine Ausnahme. Angenommen weibliches Fremdgehen sei eine Form der Gewalt gegen den Partner. Es wäre aber ein Gewaltakt, den die Frau innerhalb eines männlichen Konzepts von Treue und Untreue verübt, ein Konzept, das vor allem auf der obsessiven Überwachung des weiblichen Körpers basiert. Es ist diese grundlegende Gewalt, die uns weiblichen Betrug als gewaltsamen Akt und Sünde verstehen lässt, die sogar mit dem Tod zu bestrafen ist. In Italien begibt sich eine Frau, die ihren Partner betrügt oder verlässt, auch heute noch in Lebensgefahr. Nein, nein, wir müssen uns antrainieren, das Männliche nicht für universell zu halten. Die menschliche Spezies gibt es nicht: Die weibliche Spezies existiert seit Jahrtausenden eingeschlossen in den Regeln der männlichen Spezies, innerhalb einer patriarchalen Kultur, die nur langsam ausstirbt, selbst unter den Männern, die dafür sensibilisiert sind, die auf unserer Seite stehen und unsere Ziele unterstützen. Selbst wenn wir Frauen Gewalt ausüben – und jetzt spreche ich nicht über Ehebruch, sondern über Gewalt im Allgemeinen –, tun wir es auf die Art und Weise, die von Männern entworfen wurde und auf männlichen Befürchtungen und Ängsten basiert. Unsere eigenen Formen von Gewalt – wenn es sie gibt, was ich nicht hoffe – sind noch nicht erfunden.Shiva Akhavan Rad: Slavoj Žižek sagte kürzlich: „Die Ereignisse im Iran haben eine welthistorische Bedeutung: Sie bündeln verschiedene Kämpfe (gegen die Unterdrückung von Frauen, gegen religiösen Fundamentalismus, für die politische Freiheit gegen Staatsterror) in eine organische Einheit. Iran ist nicht Teil der westlichen Industrieländer. Daher unterscheidet sich der Slogan ‚Zan, Zendegi, Azadi‘ sehr stark von dem MeToo in westlichen Ländern: Er mobilisiert Millionen gewöhnlicher Frauen und ist mit dem Kampf aller verbunden, Männer eingeschlossen. Es gibt keine anti-männliche Tendenz darin, die häufig bei westlichem Feminismus zu beobachten ist. Frauen und Männer sitzen im selben Boot; der Feind ist der religiöse Fundamentalismus, unterstützt von staatlichem Terror.“ Was sagen Sie dazu?Elena Ferrante: Im Wesentlichen stimme ich Žižek zu: Der Gegner ist der religiöse Fundamentalismus. Der Kampf überschreitet alle Grenzen, wird von verschiedenen Klassen unterstützt, von Männern und Frauen und so weiter. Aber angesichts dieses Bündnisses darf man nicht vergessen, dass die iranischen Frauen der Motor des Protests sind. Jeder Kampf der Frauen hat heute unweigerlich diesen Kern: Wir werden nie wirklich frei sein, solange wir uns innerhalb von Lebensformen ausdrücken müssen, die im Wesentlichen männlich sind. Welches Gender haben die, die uns unterdrücken, die despotische Theokratien schaffen, die uns unsere Rechte verwehren? Selbst wenn wir unter Einsatz unseres Lebens rebellieren, selbst wenn wir die absoluten Protagonistinnen unserer Rebellion sind, müssen wir uns bewusst sein, dass wir Gefahr laufen, männliche Kategorien zu benutzen, um uns und unsere Rebellion zu erklären. Wir müssen diese Kategorien kritisieren und nach neuen Wegen suchen, unseren eigenen.Shiva Akhavan Rad: Lila und Lenù kämpfen darum, ein normales Leben zu führen. Sie wollen nicht den gleichen Weg gehen wie ihre Mütter und die anderen Frauen in Neapel. Da gibt es eine Ähnlichkeit zwischen ihnen und den jungen Frauen im Iran, die für ein normales Leben kämpfen. Wir sehnen uns seit vielen Jahren danach.Ich habe mir beim Lesen der Neapolitanischen Saga oft vorgestellt, dass es für Lila Hoffnung geben müsste. Ich wünsche ihr ein Leben, das weniger bitter und traurig ist. Es scheint keine Quelle für Gelassenheit in ihrem Leben zu geben. Wenn doch, was wäre das?Elena Ferrante: In Lila steckt das Bedürfnis nach und die ganze Angst vor Veränderungen. Als würde sie sagen: Meine Situation ist unerträglich, ich muss sie ändern. Aber ich bin in ihr aufgewachsen, und wenn ich sie durchbreche, lasse ich nicht nur Leid, sondern auch Zuneigung und Routine zurück; Rebellion ist nicht nur gut für mich, sondern auch schädlich. Mit anderen Worten: Lila zeigt, dass es nicht leicht ist, die Grenzen, die uns gesetzt sind, zu überschreiten. Sie zeigt, wie schmerzhaft es ist – und nicht nur freudvoll, angesichts unzähliger Widersprüche die Käfige aufzubrechen, in denen wir eingesperrt wurden. Wird sie Frieden finden? Nein, Frieden ist etwas für die, die sich mit eingeschränkter Freiheit zufriedengeben können. Es liegt in Lilas Natur, immer neue Grenzen auszuloten.
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