Fritten für den Todesstern: Vogelfreundliche Glasfassaden
Architektur In den USA verenden jährlich bis zu eine Milliarde Vögel an Glasfassaden. Architektinnen wie Jeanne Gang und Deborah Laurel wollen das ändern
Free as a bird? Dass Städte für Zugvögel zur Falle werden, hat auch mit Perfektionsdrang zu tun
Foto: Ian Willms/NYT/Redux/laif
Der Aqua Tower in Chicago, 82 Stockwerke hoch, scheint im Wind zu flattern. Mit seiner wellenförmigen Fassade hebt er sich von den rechtwinkligen Glastürmen in der Skyline ab. „Er ist so konzipiert, dass er für Menschen und Vögel funktioniert“, sagt seine Architektin Jeanne Gang. Beim Entwurf berücksichtigte sie nicht nur die Perspektive der Menschen, die seine Silhouette vor dem Himmel tanzen sehen. Die unregelmäßige Form lässt auch Vögel das Gebäude besser sehen und tödliche Zusammenstöße vermeiden.
In den USA sterben jedes Jahr fast eine Milliarde Vögel beim Zusammenprall mit Gebäuden. Chicago liegt an einer der vier wichtigsten Nord-Süd-Zugrouten – dem Mississippi Flyway – und ist dah
nd ist daher einer der gefährlichsten Orte für Vögel. Im Oktober 2023 starben an einem einzigen Tag mehr als 1.000 Vögel bei der Kollision mit einem einzigen glasverkleideten Gebäude. In New York, das an der Atlantikflugroute liegt, überfliegen Hunderte von Vogelarten die Skyline, und Zehntausende sterben dabei Jahr für Jahr.Tote Vögel am Kindermuseum auf Staten IslandSich der Gefahren verstärkt bewusst, die von glitzernden Türmen und hellen Lichtern ausgehen, beginnen Architekten, die Skylines der Städte neu zu gestalten und Gebäude zu entwerfen, die sowohl ästhetisch gewagt als auch vogelsicher sind. Einige experimentieren mit gemustertem oder beschichtetem Glas, das Vögel sehen können. Andere überdenken das Konzept des Glasturms und experimentieren mit Außenfassaden aus Holz, Beton oder Stahlstäben. Einige Architekten arbeiten mit begrünten Dächern und Fassaden, die Vögel zum Nisten einladen. „Viele betrachten vogelfreundliches Design als eine weitere Einschränkung, als eine weitere Auflage“, sagt Dan Piselli, Direktor für Nachhaltigkeit beim New Yorker Architekturbüro FXCollaborative. „Aber es gibt so viele zukunftsweisende Gebäude, die perfekte Beispiele dafür sind, dass es die gestalterische Freiheit nicht einschränken muss.“Deborah Laurel vom Architekturbüro Prendergast Laurel Architects gelangte schon vor ein paar Jahrzehnten zu dieser Erkenntnis. Als ihr Büro einen Preis für die Renovierung des Kindermuseums auf Staten Island verliehen bekam, machte sie dessen Direktor darauf aufmerksam, dass etliche Vögel in den neuen Anbau gestürzt waren. „Ich war entsetzt“, sagt sie. Laurel begann, wie wild zu recherchieren, um mehr über Vogelkollisionen zu erfahren. Und musste feststellen, dass es kaum praktische Tipps für Architekten gab. Laurel tat sich mit der Naturschutzorganisation NYC Audubon zusammen, um einen Leitfaden für vogelsicheres Bauen zu entwickeln. Sie fand heraus, wie der technische und architektonische Fortschritt binnen eines halben Jahrhunderts New York City und andere Städte in Todesfallen für Vögel verwandelt hatte.Davor wurde ein Großteil der Glasscheiben in einem mühsamen und kostspieligen Verfahren durch Gießen und Polieren hergestellt. Das Glas enthielt oft Blasen oder andere Unvollkommenheiten, die seine Klarheit beeinträchtigten. In den 1960ern kam dann Floatglas auf, das mittels eines neuen technischen Verfahrens gleichmäßige, klare Scheiben ermöglichte. „Dieses neue Glas ist sehr perfekt – perfekt flach, perfekt glatt, und außerdem reflektiert es besser“, erklärt Laurel. In den folgenden Jahrzehnten setzten Bauherren zunehmend auch Doppelglas ein, das zur Isolierung und Energieeinsparung beitragen sollte – mit dem Nebeneffekt, dass das Glas noch stärker reflektierte.Zu bestimmten Tageszeiten verschmelzen die Glastürme geradezu mit dem Himmel. Zu anderen erscheinen die Scheiben so makellos klar, dass sie für Vögel nicht wahrnehmbar sind. Tagsüber täuschen Bäume und Grünflächen, die sich auf den Fassaden spiegeln, die Vögel, nachts verwirren sie die hell erleuchteten Gebäude.Der Todesstern mitten in New YorkZum Unglück der Vögel wurde das glänzende Glas in den 1970ern zu einer beliebten Ästhetik, die sich bis heute hält. „Am Anfang stand die gute Absicht, lichtdurchflutete Räume zu schaffen, um den Menschen ein Gefühl von Offenheit zu vermitteln“, sagt Piselli. „Aber das Material hat eben vielschichtige Auswirkungen.“Vor rund zehn Jahren übernahm Pisellis Büro den eine halbe Milliarde Dollar schweren Auftrag, das New Yorker Jacob K. Javits Convention Center zu renovieren. An dessen glänzender, mit Glas verkleideter Fassade verendeten jährlich bis zu 5.000 Vögel. „Das Gebäude war der Todesstern der Stadtlandschaft“, sagt Piselli.Um es vogelfreundlicher zu gestalten, reduzierte FXCollaborative (damals noch unter dem Namen FXFowle) die Glasflächen und ersetzte das Glas der verbliebenen durch Frittenglas, in das ein Keramikmuster eingebrannt ist. Die winzigen strukturierten Punkte sind für Menschen kaum wahrnehmbar – aber Vögel können sie sehen. Und es kann die Sonnenwärme reduzieren, wodurch das Gebäude kühler bleibt. „Dieses Gebäude wurde in den 2010ern zum Vorzeigeobjekt für vogelfreundliches Design“, so Piselli.Heute nisten hier HeringsmöwenBei der Renovierung wurde ein begrüntes Dach angelegt, das NYC Audubon betreut. Es dient als Zuflucht für verschiedene Vogelarten, darunter eine Kolonie von Heringsmöwen. „Living roofs“ sind populär und ein Gegenmodell zu der jahrzehntelangen Praxis, Gebäude mit Vogelschutzspikes zu rüsten. In den Niederlanden enthält die Fassade des WWF-Hauptsitzes Nistkästen und Lebensräume für Vögel und Fledermäuse.Azadeh Omidfar Sawyer, Assistenzprofessorin an der Carnegie Mellon School of Architecture, nutzte mit Studierenden eine Open-Source-Software, um Designern bei der Erstellung maßgeschneiderter vogelfreundlicher Glasmuster zu helfen. Ein Buch mit 50 Mustern, das Sawyer kürzlich veröffentlichte, enthält komplizierte geometrische Gitter und abstrakte Anordnungen von Linien und Klecksen. „Jeder Architekt kann dieses Buch in die Hand nehmen und ein Muster auswählen, das ihm gefällt, oder es individuell anpassen“, sagt sie.Experimentiert wird auch mit UV-Druck, um Muster zu erzeugen, die für Menschen unsichtbar, für die meisten Vögel jedoch wahrnehmbar sind. Und Architekten integrieren zunehmend Blenden oder Gitter in die Fassaden, die von Vögeln gesehen werden und ihnen Schatten bieten. Dem 52-stöckigen New-York-Times-Gebäude zum Beispiel ist ein Gitter aus Keramikröhren vorgelagert. Der Abstand zwischen den Stäben vergrößert sich zur Spitze hin, um den Eindruck zu erwecken, dass sich das Gebäude in den Himmel auflöst.Zuhause experimentiert die Architektin mit VogelfutterhäuschenJeanne Gang arbeitet in ihre Entwürfe Elemente ein, die als Sichtschutz oder Sitzgelegenheiten zur Vogelbeobachtung dienen können. Ein von ihr entworfenes Theater in Glencoe, Illinois, ist von einem Spazierweg auf einem Holzgitter umgeben, das Besuchern das Gefühl gibt, sich in einer Baumkrone zu befinden. Die Idee des schillernden, verspiegelten Gebäudes, „bei dem man den Unterschied zwischen Habitat und Himmel nicht erkennen kann“, lehnt sie grundsätzlich ab und strebt das Gegenteil an. „Ich habe immer versucht, die Gebäude mit Licht und Schatten und Geometrie sichtbarer zu machen, um eine solidere Präsenz zu haben.“ Im Kleinen experimentiert Gang damit, Vogelfutterhäuschen um ihr eigenes Haus herum aufzustellen, um Kollisionen mit Fenstern zu vermeiden, und sie ermutigt andere Hausbesitzer, es ihr gleichzutun. „Ich habe festgestellt, dass die Vögel langsamer werden und an den Futterstellen haltmachen, anstatt zu versuchen, durch das Glas zu fliegen.“Auch wenn Hochhäuser und große städtische Projekte die meiste Aufmerksamkeit erregen, sterben die meisten Vögel beim Zusammenprall mit Wohnhäusern und Flachbauten. „Die große Herausforderung ist: Glas befindet sich überall“, sagt Christine Sheppard von der American Bird Conservancy (ABC). Die ABC hat eine Liste mit Materialien zusammengestellt, die sie nach ihrer Vogelsicherheit bewertet hat.Gebäude so zu gestalten, dass sie für Vögel sicher sind, kann „befreiend“ sein, sagt Jeanne Gang noch, die eine begeisterte Vogelbeobachterin geworden ist und jetzt beim morgendlichen Joggen ein Fernglas dabeihat. „Man dringt damit gedanklich in eine andere Dimension vor.“Placeholder authorbio-1
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