Israels Ziel: Die Palästinenser nach Ägypten zu drängen, mit westlicher Unterstützung

Meinung Erste Lkw mit Hilfsgütern haben den Grenzübergang Rafah überquert. Zugleich steht Ägypten unter Druck, die Palästinenser aufzunehmen, die Israel aus dem Norden des Gazastreifens vertrieben hat. Solche Umsiedlungspläne sind nicht neu
Palästinenser mit mehreren Staatsbürgerschaften warten am 16. Oktober am geschlossenen Grenzübergang Rafah im Süden Gazas darauf, nach Ägypten einreisen zu dürfen.
Palästinenser mit mehreren Staatsbürgerschaften warten am 16. Oktober am geschlossenen Grenzübergang Rafah im Süden Gazas darauf, nach Ägypten einreisen zu dürfen.

Foto: Haitham Imad/Picture Alliance/EPA

Am 7. Oktober, wenige Stunden nach der brutalen Überraschungsoffensive der Hamas, bei der 1.400 Israelis starben, erklärte der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu der Hamas den Krieg und warnte die Palästinenser im Gazastreifen: Gehen Sie jetzt. Die Frage, wohin 2,3 Millionen Palästinenser, die überwiegende Mehrheit von ihnen Flüchtlinge, die seit 16 Jahren unter einer brutalen Belagerung und Blockade leben, gehen sollen, blieb unbeantwortet.

Daraufhin startete Israel beispiellose Luftangriffe, warf allein in den ersten fünf Tagen 6.000 Bomben auf die dicht besiedelte Enklave ab. Es folgte der Befehl zur Evakuierung in den Süden innerhalb von 24 Stunden – eine Anordnung für 1,1 Millionen Menschen im nördlichen Gazastreifen. Karten mit Evakuierungskorridoren, entlang derer die Palästinenser fliehen sollten, erschienen wie Offenbarungen kolonialer Fantasien: zwei lange Pfeile, die nach Süden, weg von Palästina, zur ägyptischen Grenze zeigten.

Ägypten wird sie aufnehmen müssen“

Ägypten, das einzige Land neben Israel, das eine gemeinsame Grenze mit dem Gazastreifen hat, wird von den USA und anderen westlichen Staaten gedrängt, die Tore zu öffnen und eine Flut von Palästinensern aufzunehmen, die vor den unerbittlichen Angriffen und der humanitären Krise fliehen. In einem Interview auf Sky News sagte der ehemalige israelische Botschafter in den USA, Danny Ayalon: Die Menschen aus Gaza sollten evakuiert werden und in die riesigen Weiten auf der anderen Seite von Rafah an der Sinai-Grenze in Ägypten gehen ... und Ägypten wird sie aufnehmen müssen.“

Anstatt Druck auf Israel auszuüben, damit es seine Bombardierungen einstellt, die Zivilbevölkerung schützt und Hilfslieferungen zulässt, haben verschiedene westliche Regierungen laut der ägyptischen Nachrichtenseite Mada Masr versucht, einen Deal mit Ägypten auszuhandeln, indem sie Kairo wirtschaftliche Anreize boten, damit es Palästinenser ins Land lässt.

Ägypten hatte erklärt, dass es Ausländer und palästinensische Staatsbürger mit doppelter Staatsangehörigkeit über den Grenzübergang Rafah einreisen lassen würde, insofern Israel humanitäre Hilfe zuließe. Tausende Tonnen an Lebensmitteln, Treibstoff, Wasser, Medikamenten und anderen lebensrettenden Hilfsgütern hatten sich in den vergangenen Tagen in einem Lastwagenkonvoi auf der ägyptischen Seite von Rafah gestaut. Am Mittwoch erklärte Israel, dass es Ägypten gestatten werde, in begrenztem Umfang humanitäre Hilfe nach Gaza zu liefern, auch wenn die Hilfslieferungen voraussichtlich nicht den Bedarf decken werden; am Samstag passierten erste Lastwagen tatsächlich den Grenzübergang Rafah in Richtung Gaza.

Was Ägyptens Präsident al-Sisi sagt

Die Möglichkeit einer Massenumsiedlung von Palästinensern nach Nordsinai weist Ägypten jedoch strikt zurück. Wir lehnen die Vertreibung der Palästinenser von ihrem Land ab“, sagte der ägyptische Präsident Abdel Fatah al-Sisi am Mittwoch und betonte, dass die palästinensische Frage die Mutter aller Fragen sei, mit erheblichen Auswirkungen auf Sicherheit und Stabilität“. Er warnte auch davor, dass Ägypten dann zu einer neuen Ausgangsbasis für palästinensische Angriffe auf Israel werden könnte. Der ägyptische Außenminister Sameh Shoukry warnte auf CNN, dass die Zwangsumsiedlung von Palästinensern nach Ägypten ein Kriegsverbrechen darstellen könnte.

Mag die Ablehnung einer Politik, die im Grunde auf eine zweite Nakba (die Massenvertreibung von Palästinensern während des arabisch-israelischen Krieges von 1948) hinausläuft, lobenswert sein – Kairos Rhetorik in Bezug auf die palästinensische Frage klingt hohl. Ägyptens Entscheidungen werden letztlich von nationalen Sicherheitsbedenken und dem Willen zur Vermeidung des Alptraums einer palästinensischen Massenflüchtlingsbevölkerung auf sein eigenes Territorium bestimmt.

Kairos Umgang mit den Palästinensern

Seit Jahren macht sich Ägypten an der Belagerung des Gazastreifens mitschuldig. Es hilft bei der Durchsetzung der Blockade, zerstört Tunnel, die eine Lebensader für den Streifen darstellen, und koordiniert die Sicherheitsmaßnahmen mit Israel, indem es israelischen Drohnen, Hubschraubern und Kampfflugzeugen erlaubt, verdeckte Luftangriffe in Sinai durchzuführen. Ägyptens Umgang mit Palästinensern, die in den Gazastreifen ein- und ausreisen wollen, ist berüchtigt für Unmenschlichkeit – zuletzt versuchten Palästinenser, in den Gazastreifen einzureisen, mussten aber feststellen, dass die Grenze am 7. Oktober geschlossen wurde, so dass sie im Nordsinai festsaßen; sie werden von Familien aufgenommen, die strenge Anweisung der Sicherheitsbehörden haben, ihnen nicht zu gestatten, die Viertel, in denen sie sich befinden, zu verlassen.

Ägypten hat an der Grenze Barrikaden errichtet, um einen etwaigen Massenexodus – sollte er denn eintreten – einzudämmen. In der Zwischenzeit hatte Israel den Grenzübergang Rafah viermal bombardiert, zuletzt war eine Rakete direkt an der Betonbarriere auf ägyptischem Gebiet eingeschlagen.

Die Lage im Gazastreifen gleicht einer katastrophalen Sackgasse. Lebensmittel und Wasser gehen zur Neige. Medikamente und andere lebenswichtige Güter sind aufgebraucht, Ärzte führen Operationen auf dem Fußboden durch, oft ohne Betäubung. Es gibt wenig bis gar keinen Treibstoff oder Strom. Sogar die Farben sind verschwunden, ganze Stadtteile liegen nur noch in Schutt und Asche, umhüllt von grauem Betonstaub. Die Zahl der Toten ist hoch, darunter auch viele Kinder, weitere Opfer werden unter Trümmern begraben vermutet. Etwa eine Million Menschen sind vertrieben worden. Viele weitere unsagbare Schreckensgeschichten warten erst noch darauf, überhaupt bemerkt zu werden.

UNO-Plan und Allon-Plan

Mohammed Ghalayini, der Sohn eines Bekannten, floh aus seinem Haus in Gaza-Stadt nach Khan Yunis, im Süden des Gazastreifens. Er erzählte mir am Mittwoch: Ich glaube, Israels Ziel ist es, die Palästinenser aus dem Gazastreifen nach Ägypten zu vertreiben: Das ist zu 100 Prozent ihr Plan. Ich denke, das ist ethnische Säuberung und Völkermord in einem.“

Die Idee, Palästinenser aus dem Gazastreifen auf den Sinai umzusiedeln, ist nicht neu. Mitte der 1950er Jahre entwickelte die UNO einen Plan zur Umsiedlung Tausender palästinensischer Flüchtlinge aus dem Gazastreifen in die nordwestliche Region des Sinai, ein Projekt, das in der Bevölkerung auf Empörung stieß und in einem Massenaufstand niedergeschlagen wurde. Nach der Naksa von 1967 (dem Sechs-Tage-Krieg, in dem die israelischen Streitkräfte Ost-Jerusalem und die palästinensischen Gebiete, einschließlich des Gazastreifens, eroberten) sah der vom israelischen Politiker Yigal Allon entworfene Allon-Plan die Angliederung des Gazastreifens an Israel vor. 1971 wurden etwa 400 von der israelischen Armee vertriebene palästinensische Familien nach Arish umgesiedelt, während 12.000 Angehörige mutmaßlicher palästinensischer Guerillas in Internierungslager in der Wüste Sinai deportiert wurden und erst zwei Jahrzehnte später nach erheblichem internationalem Druck in den Gazastreifen zurückkehren konnten.

Israel ergreift die Gunst der Stunde. Mit Unterstützung westlicher Regierungen treiben sie die Palästinenser in Gaza an den Rand des Abgrunds. Möglicherweise versuchen sie, sie ganz aus dem Gazastreifen zu vertreiben, um jene nach Süden weisenden Pfeile auf den Landkarten zu verlängern.

Sharif Abdel Kouddous ist freier Journalist, er lebt in New York und Kairo. Seit 2011 hat er mehrfach aus Gaza und ganz Palästina berichtet.

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Geschrieben von

Sharif Abdel Kouddous | The Guardian

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