Libanon: Angst und Trotz. Die Gefahr eines neuen Krieges mit Israel reißt alte Wunden auf
Eskalationsgefahr In einem überfüllten Vorort von Beirut beten einige dafür, dass ihnen ein Waffengang mit Israel wegen der Lage im Gazastreifen erspart bleibt, während sich andere darauf vorbereiten, den Widerstand der Hisbollah zu unterstützen
Eine Frau aus Aita asch-Scha'b, einer kleinen libanesischen Ortschaft an der Grenze zu Israel, steht am Fenster einer Schule in der Hafenstadt Tyros, die in eine Notunterkunft für aus dem Süden des Libanon Geflohene umgewandelt worden ist.
Foto: Manu Brabo/Getty Images
Die drei Frauen sitzen im abgedunkelten Wohnzimmer. Der Strom ist ausgefallen, und es gibt ein Problem mit dem Generator in der Nachbarschaft. Auf einem niedrigen Tisch zwischen ihnen stehen eine große Kaffeekanne, kleine Tassen und ein Aschenbecher voller Zigarettenkippen. Lubban gießt schwarzen Kaffee in die Tassen ihrer Mutter und einer Freundin, ihre Wohnung liegt über einem lauten Restaurant. „Ich habe unglaubliche Angst, kann nicht mehr einschlafen, bleibe oft bis zum Morgengrauen wach und sehe mir die Fernsehnachrichten an“, erzählt Lubban und deutet auf einen alten Monitor, der in einem Regal zwischen Geschirr aus Porzellan steht.
Der Menetekel Dhahiye wirkt nach
Seit zwei Wochen fragen sich libanesische Bürger: Wird es erneut einen Krieg geben?
Seit zwei Wochen fragen sich libanesische Bürger: Wird es erneut einen Krieg geben? Entlang der libanesisch-israelischen Grenze, einer Demarkationslinie, die von UN-Blauhelm-Soldaten überwacht wird, kommt es zu Zermürbungsscharmützeln. Hisbollah-Kämpfer feuern Raketen auf israelische Militärstellungen und Siedlungen, während Israel ebenfalls mit Raketen und Drohnen antwortet. Nach den verfügbaren Angaben sind in den vergangenen zwei Wochen 40 Menschen gestorben. Die Frequenz der Angriffe hat zuletzt stark zugenommen und die Hisbollah damit gedroht, die Hamas zu unterstützen, falls Israel zum Bodenkrieg im Gazastreifen ausholt. Die Furcht vor einem größeren regionalen Konflikt beschäftigt die Menschen im Libanon, seit erste Nachrichten über die Hamas-Angriffe auf Israel am 7. Oktober eintrafen.Placeholder image-4Während des Krieges zwischen der Hisbollah und Israel im Jahr 2006 verwandelten israelische Kampfjets ganze Wohnblöcke im dicht besiedelten Viertel Dhahiye – eine Hochburg der Hisbollah in der Banlieue von Beirut – in Haufen aus Schutt, verdrehtem Metall und zerbrochenen Möbeln. Hunderte wurden getötet, die meisten Bewohner flohen und suchten Zuflucht im benachbarten Syrien oder in anderen Teilen des Libanon. Kaum Fluchtmöglichkeiten Lubbans Mutter, eine Überlebende von fünf Jahrzehnten der wiederkehrenden Kriege im Libanon, zeigt auf das Fenster, durch das die Strahlen der untergehenden Sonne und Geräusche der Dhahiye-Straße darunter dringen. „Dort drüben gab es seinerzeit einen gewaltigen Luftangriff“, sagt sie. „Wir hatten Dhahiye zuvor verlassen, aber als ich zurückkam und die Trümmer der Gebäude sah, konnte ich nicht aufhören zu weinen.“ Diesmal werde sie nicht gehen. So gut wie jeder im Libanon ist sie in finanzieller Not. „Ich kann nicht hingehen und andere Menschen belasten. Wenn ich sterbe, sterbe ich in Würde zu Hause.“Placeholder image-3Da Syrien von seinem eigenen Bürgerkrieg erschüttert ist und sich die Mieten in „sicheren“ Gebieten mittlerweile verdoppelt haben, ist es für die Menschen in Dhahiye schwierig, im Fall eines neuen Krieges an Orte zu gehen, die als sicherer gelten. Wer kann es sich schon leisten, umzuziehen. Die libanesische Wirtschaft liegt weiter am Boden, und die Lebenshaltungskosten schießen in die Höhe. Nur Gott und die HisbollahAbu Qassem lebt in Beirut. Seine beiden Schwestern und deren Kinder, seine Tochter mit der Familie – sie alle sind gerade aus dem Süden angekommen. 13.000 Menschen sollen von dort bisher abgewandert sein, Dörfer leeren sich. Abu Qassem berichtet, dass die Männer zurückgeblieben seien. Einige seien „beim Widerstand“, andere blieben in der Grenzgegend, um die Hisbollah zu unterstützen. „Ich bin zu alt, um selbst zu kämpfen, aber wenn ein Krieg ausbricht, werde ich für die Kämpfer kochen oder ihre Kleidung waschen. Für uns im Süden gibt es nach Gott nur Vertrauen in den Widerstand“, beteuert Abu Qassem. Im Jahr 2006 wurde ein Großteil seines Heimatdorfes zerstört, darunter auch das Haus, an dem er und sein Bruder gerade bauten. Auge um Auge an der Grenze „Es war die Arbeit unseres Lebens. Wir hatten uns so viel Geld geliehen, um es fertigzustellen. Dann rief mich mein Bruder an und sagte lachend: ‚Du kannst das Haus vergessen, es ist jetzt ein Trümmerhaufen‘.“ Tage später wurde der Bruder getötet, als er daran beteiligt war, Raketen auf israelische Stellungen abzufeuern. Auf seinem Handy zeigt Abu Qassem ein Bild von ihm: ein Mann mittleren Alters mit einem quadratischen schwarzen Bart. Abu wischte über das Telefon. Weitere Bilder von „Märtyrern“ erscheinen. „Insgesamt starben 17 Freunde und Verwandte im letzten Krieg 2006. Acht davon gehörten zum Widerstand, der Rest waren Zivilisten.“ Es sei den Toten von damals zu verdanken, dass sich im Südlibanon viel verändert habe. „Vor 2006 hatte Israel dort freie Hand. Wir sagten immer, die Israelis könnten mit einer einzigen Militärmusikkapelle fünf Dörfer besetzen. Der Krieg hat das geändert. Der Widerstand bewirkte, dass unsere Dörfer standhaft bleiben. 20 Jahre lang konnten wir nicht auf unser Land, weil damit zu rechnen war, dass uns israelische Soldaten belästigen, auf uns schießen oder uns festnehmen und demütigen. Nach 2006 konnte ich meine Olivenhain, der teilweise nur zehn Meter von der Grenze entfernt liegt, bewirtschaften, wann ich wollte. Ich konnte den Feind sehen, der es nicht wagte, sich zu rühren, weil er wusste, dass Kämpfer in den Hügeln auf unsere Seite zuschauen. Der Krieg hat eine Regel aufgestellt: Tötet ihr einen von uns, töten wir einen von euch.“ Für die Armen wäre Krieg die größte KatastropheSelbst wenn ein Viertel wie Dhahiye erneut zerstört würde, wäre damit „der Widerstand“ nicht erstickt, so wie das auch beim letzten Mal nicht der Fall war, meint Abu Qassem. Nach 2006 baute seine Familie das zerstörte Haus wieder auf, und Abu Qassems damals siebenjähriger Neffe trat in die Fußstapfen seines getöteten Vaters. „Jetzt ist er selbst Mitglied des Widerstands und steht im Süden.“Placeholder image-2In der Nähe des Hauses von Abu Qassem, in einer engen Straße mit herunterbaumelnden Stromkabeln, arbeitet Abbas in seiner Autowerkstatt. Seine Arme sind wie die Wände mit Motoröl verschmiert. Abbas wiederholt die üblichen Phrasen über den „Widerstand“, bevor er zugibt, dass die Realität komplizierter ist. „Natürlich gibt es Menschen, die für die Partei sind, egal was passiert, und das ist ihre Entscheidung. Aber es gibt auch Menschen, die nicht in der Lage sind, ihre Kinder zu ernähren, sich keine Milch oder keine Schulbildung leisten können“, sagt er. „Sie werden im Falle eines Krieges völlig am Ende sein.“Die Auswirkungen eines weiteren Konflikts auf die Wirtschaft sind völlig unabsehbar. Der Verfall des libanesischen Pfunds hat bereits dazu geführt, dass Staatsbedienstete einen zweiten oder dritten Job annehmen mussten, um zu überleben. Vorräte an Lebensmitteln oder anderen lebensnotwendigen Dingen sind ein Luxus, den sich nur wenige leisten können.Abbas hat seinen Vater in den vergangenen zwei Wochen jeden Tag angerufen und ihn angefleht, in den Norden nach Beirut zu kommen. „Ich sage ihm: 'Unser Haus wurde im letzten Krieg bombardiert. Was machst du da?' Aber er weigert sich zu gehen und bleibt bei meiner Mutter, die im Rollstuhl sitzt.“ Abbas sagt, sein Vater sei immer noch verbittert darüber, wie die Menschen ihn behandelt haben, nachdem sie 2006 aus ihrem Dorf geflohen waren. „Er sagt: 'Wenn etwas einen Dollar kostet, verkaufen sie es uns für 20 Dollar.'“ Mit „sie“ meint Abbas andere religiöse Sekten. Für ihn ist es unerheblich, ob seinem Vater zu viel berechnet wurde, weil er Schiit war und für den Krieg verantwortlich gemacht wurde, oder weil der Krieg alles teuer machte. „Mein Vater sagt mir, dass jetzt die Zeit der Olivenernte ist und 'Ich werde meine Bäume nicht zurücklassen, ich werde auf meinem Land sterben'“, sagt Abbas.In einem Einkaufszentrum in BeirutIm oberen Stockwerk eines glasüberdachten Einkaufszentrums im Beiruter Stadtteil Ashrafiya sitzt Hani auf der Terrasse. „Ich habe keine Angst vor dem Krieg“, sagt er. „Ich weiß, dass ich überleben werde, und die Gesellschaft wird überleben, so wie wir den letzten überlebt haben und den davor.“Placeholder image-1Hani fährt fort: „Sieh dich um! Glaubt ihr, dass es irgendjemanden interessiert, der hier sitzt? Wir haben das schon so oft durchgemacht. Die Banken und die Politiker haben unser Geld gestohlen, und wir haben gesagt: 'okay'. Dieselben Politiker verursachten eine riesige Explosion, die Tausende von Häusern zerstörte und Hunderte von Menschen tötete, und wir sagten 'okay'. Jetzt wird ein Krieg kommen, und die Leute werden wieder 'okay' sagen.“Hani ist einer von Tausenden, die sich über die konfessionellen Grenzen des Libanon hinweg zusammengetan haben, um Lebensmittelpakete, Babymilch und Medikamente zu organisieren. „Menschen, die frische Dollars hatten, die für ausländische Unternehmen oder NGOs arbeiteten, und die Diaspora gaben uns Geld, manchmal sammelten wir bis zu 10.000 US-Dollar“, sagt er. „Die gleichen Leute, die die Finanzkrise verursacht haben – die Politiker –, waren die Nutznießer des versteckten Marktes. Wir gingen herum und kauften von denselben Regierungsbeamten die Waren, von denen sie sagten, es gebe nichts davon für die Menschen. Dieselben Leute freuen sich jetzt über die Aussicht auf einen neuen Krieg. Der Krieg wird sie reich machen.“Zurück bei Lubban in DhahiyeIn Dhahiye zündet sich Lubban eine Zigarette an und reicht sie ihrer Mutter, bevor sie sich selbst eine anzündet. „Wenn ich Geld hätte, wäre ich weggegangen“, sagt sie. „Ich wäre nach Istanbul oder Tiflis gegangen, oder irgendwohin, wo ich kein Visum brauche. Oder hättezumindest irgendwo anders in Beirut eine Wohnung gemietet: Hamra, neben der amerikanischen Universität oder Ashrafiya, wo es ausländische Botschaften gibt. Diese Gebiete wurden im letzten Krieg nicht angegriffen, oder?“
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