Angesichts der Katastrophe, auf die der Nahe Osten nach den Angriffen der Hamas und den Reaktionen Israels zusteuert, gibt es derzeit wenige Gewissheiten. Eine allerdings scheint sich im Meinungskarussell fast wie von selbst zu etablieren: Mastermind hinter den mit militärischer Präzision vorbereiteten Operationen der Hamas ist der Iran. Das wusste und verkündete Premierminister Benjamin Netanjahu, bevor er noch darüber nachdenken und sich vielleicht fragen konnte, wie der von ihm verantwortete Militär- und Sicherheitsapparat einen derart brachialen Überfall überhaupt zulassen konnte.
Der Reflex ist verständlich, tatsächlich lassen sich auf einen ersten und zweiten Blick hinreichend Gründe finden, die Teheran eine solche Rolle zuweisen. Ira
eisen. Iran ist der Paria schlechthin. Eine regionale Macht, die seit der Islamischen Revolution von 1979 darum ringt, diesen Status und Anspruch strategisch neu zu definieren und machtpolitisch umzusetzen. Der Revolutionsexport gehört zu den ideologischen Gründungsmythen der Islamischen Republik. Aber er ist längst genau das: ein Mythos, hinter dem sich ordinäre Machtpolitik verbirgt. Iran hat über seine Revolutionsgarden und diverse Milizen, deren prominenteste die schiitische Hisbollah ist, erheblichen Einfluss im Nahen Osten gewonnen. Die Hisbollah beherrscht de facto den Libanon, zudem wäre Syriens Machthaber Baschar al-Assad längst Geschichte, hätten sich Moskau und Teheran nicht entschieden, ihm militärischen Bestand zu leisten. Assads Rückkehr auf die regionale politische Bühne darf die iranische Führung als Erfolg verbuchen. Aber hat Iran derzeit wirklich ein außen- und regionalpolitisches Interesse, direkt oder mittelbar in einen sich abzeichnenden Großkonflikt einzugreifen? Was wäre für Teheran damit gewonnen? Was stünde auf dem Spiel? Als schiitische Theokratie hat Iran in der sunnitischen arabischen Welt nicht die besten Karten. Für das Land ist der palästinensisch-israelische Konflikt daher auch – und oft in erster Linie – ein Mittel, Einflusssphären zu schaffen und auszubauen.Irans staatliche Propaganda gegen IsraelDas beste Beispiel dafür ist die schiitische Hisbollah-Miliz, die zu Recht als verlängerter Arm des iranischen Regimes betrachtet wird und so auch agiert. Sollte diese Formation bei einer israelischen Bodenoffensive im Gazastreifen tatsächlich eine zweite Front an der Nordgrenze Israels eröffnen, wäre Teheran – ob es dies will oder nicht – Kriegspartei. Gut möglich, dass die Kriegsbilder aus dem Gazastreifen einen solchen Schritt der Hisbollah nahezu unvermeidlich machen. Aber ein dezidiertes Interesse Irans an einer damit wahrscheinlicher werdenden direkten Konfrontation mit Israel und seinen westlichen Verbündeten ist augenblicklich nicht erkennbar. Das steht durchaus im Widerspruch zur offiziellen Propaganda, die Israel als „kleinen Satan“ nach den USA (der „große Satan“) zum Hauptfeind erklärt, unverhohlen die Auslöschung des jüdischen Staates fordert und die Palästinenser als Präzedenzfall für die von der westlichen Weltordnung entrechteten Völker glorifiziert. Auch wenn Teheran, das die sunnitische Hamas – deren eigentlicher Sponsor Katar ist – in Gaza mit aufgerüstet hat, politisch davon profitieren mag, dass der Nahostkonflikt gerade in extremer Weise auf seinen palästinensisch-israelischen Kern zurückgeworfen wird und zunächst Versuche auf Eis liegen, die Beziehungen Israels mit den Golfmonarchien, vor allem mit Saudi-Arabien, weiter zu normalisieren – dies alles in Betracht gezogen: Die Aussicht, in einen bewaffneten Konflikt mit Israel zu geraten, dürfte dem Regime in Teheran erhebliche Kopfschmerzen bereiten. Zum einen, weil Iran damit rechnen muss, aus einer solchen Konfrontation deutlich geschwächt hervorzugehen. Das Land hat ungeachtet der Sanktionen einen beachtlichen und offensichtlich leistungsfähigen militärisch-industriellen Komplex entwickelt. Das zeigen nicht zuletzt die Waffen- und Drohnenlieferungen an Russland.Die Profiteure dieses Wirtschaftszweiges sind die Revolutionsgarden. Die „Pasdaran“ sind eine hochgerüstete, nicht staatliche Gruppierung, die neben den regulären Streitkräften existiert, über alle Waffengattungen verfügt und nicht nur als schnelle Eingreiftruppe Teherans in der Region auftritt. Seit Jahren besetzen die „Pasdaran“ wirtschaftliche und politische Schlüsselstellungen in der Islamischen Republik. In einer direkten Konfrontation mit Israel müssten sie damit rechnen, dass große Teile ihrer militärischen und wirtschaftlichen Infrastruktur zerstört werden.Folgen für den IranEs darf im Kriegsfall zugleich davon ausgegangen werden, dass nicht zuletzt die ökonomische, militärische und wissenschaftliche Basis des iranischen Atomprogramms erheblichen Schaden nimmt. Womöglich würde es in seiner Entwicklung um Jahre, wenn nicht Jahrzehnte zurückgeworfen. Darüber hinaus wären mit einer kriegerischen Auseinandersetzung alle Bemühungen torpediert, die internationale Isolation, in der sich Iran lange Zeit befand, weiter aufzubrechen. Die iranische Führung ist mit einigem Erfolg dabei, sich in einer multipolaren Globalordnung als Juniorpartner neben Russland und China zu etablieren. Man denke an die künftige Präsenz in der erweiterten BRICS-Gruppe. Eine solche außen- und bündnispolitische Ausrichtung entspricht durchaus dem Narrativ des 84-jährigen Revolutionsführers Ali Chamenei, der in seinem politischen Testament Iran genau in dieser Rolle sieht: Anwalt der Entrechteten weltweit zu sein in einem zu überwindenden System westlicher Hybris, das dem Globalen Süden weder Gleichheit noch Gerechtigkeit ermöglicht. Eine kommende Weltordnung sollte deshalb auch als eine Art pan-islamische Zivilisation begriffen werden. Das Problem der klerikalen Eliten in Teheran besteht darin, dass sie selbst den egalitären Gegenentwurf zur ordinär-kapitalistischen Weltordnung im eigenen Machtbereich nicht verkörpern. Die Kluft zwischen dem hohen Klerus und der iranischen Gesellschaft ist unübersehbar. Versuche, das System der Islamischen Republik zu reformieren, sind weitgehend gescheitert. Wachsende Bevölkerungskreise quittieren das mit sichtbarem Unbehagen, wie das die Unruhen vor einem Jahr gezeigt haben. Außerdem vertiefen sich Widersprüche und Rivalitäten innerhalb und zwischen diversen Fraktionen des politischen, militärischen und theologischen Machtapparates der Islamischen Republik, die vor einem absehbaren Wechsel an der Spitze des Staates steht. Wer dem greisen Ajatollah Chamenei als Revolutionsführer nachfolgt, ist gegenwärtig völlig offen. In einer solchen Situation wäre ein militärischer Schlagabtausch höchst riskant; wenngleich nicht ohne Beispiel. In den 1980er Jahren verhalf der Krieg zwischen Iran und Irak der klerikalen Elite zur Alleinherrschaft und wurde zum Geburtshelfer der Islamischen Republik in ihrer heutigen politischen Gestalt. Dass sich diese Geschichte wiederholen und eine nächste Phase der klerikalen Transformation befördern könnte, ist jedoch unwahrscheinlich. Im Gegenteil: Sollte Teheran zur Kriegspartei im Nahen Osten werden, stünde womöglich die Existenz der Islamischen Republik selbst auf dem Spiel.Placeholder authorbio-1