Nach Tokio sollte Schluss sein

Olympia Der Wanderzirkus hilft autoritären Regimen, schadet dem Sport und zerstört die Natur. Zeit für die Auflösung
Ausgabe 30/2021
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Foto: Behrouz Mehri/AFP

Die leeren Tribünen sind noch das relativ Beste. Denn das olympische Spektakel von Tokio ist ein Super-Spreader-Event inmitten einer präzedenzlosen Gesundheitskrise. Das IOC, das seine Kunden ohne Rücksicht auf Verluste beliefert, entpuppt sich endgültig als Wanderzirkus der Sportindustrie. Dabei waren diese Spiele schon ohne Pandemie problematisch. Mal wieder sind die Kosten außer Kontrolle; Japan trägt 30 Milliarden Dollar, das IOC keinen Cent. Es zeigt sich die übliche Suppe aus Sportstätten, die bald verwaisen dürften, und Korruptionsvorwürfen rund um Bewerbungsprozesse und Auftragsvergabe. Erneut wurden Menschen aus ihren Häusern vertrieben. Die „Spiele der Wiedergeburt“ nach der Kernschmelze von 2011 lassen Softball in der belasteten Region Fukushima stattfinden.

Laut IOC trägt sein Event zu Wirtschaftswachtum bei und hinterlässt ein positives Erbe in der Sport- und Stadtentwicklung – doch lassen sich solche Impulse mit Ausnahme von Barcelona 1992 nicht belegen. Falsch ist auch die Behauptung, Olympia steigere die Sportbeteiligung vor Ort. Auf die Normalbevölkerung haben die Spiele keinen Einfluss. Finnland, das sein Geld lieber in zugänglichen Breitensport steckt, gewinnt kaum noch Titel, hat aber die gesündesten Alten der Welt. Großbritannien hingegen hat massig Medaillen und eine Adipositas-Krise. Seoul 1988 und Peking 2008 haben zwei Millionen Umzüge erzwungen, Rio 2016 immerhin 60.000, meist in schlechtere Verhältnisse und ohne Entschädigung. Die für Olympia aufgerüstete Polizei jagt Randgruppen von einst öffentlichen Plätzen.

„Sauberer Sport“? Russlands Staatsdoping wurde äußerst milde geahndet. Umweltschutz? In Peking stieg nach den Spielen die Umweltbelastung, Pyeongchang, Rio und Sotschi zerstörten geschützte Naturräume. Immerhin senkt heuer Corona den sonst gigantischen CO₂-Abdruck; trotzdem ist fraglich, wie das IOC künftige Emissionen in Zeiten rechtfertigen will, in denen schon Tokio den Marathon aufgrund erwarteter Hitze ins nördliche Sapporo verlegen musste. Und Menschenrechte? Die Idee, Olympia könne in autokratischen Regimes Öffnungstendenzen bewirken, wurde in Peking 2008 unterminiert und in Sotschi 2014 lächerlich gemacht. Die Pekinger Winterspiele im nächsten Jahr werden angesichts der genozidalen Unterdrückung der Uiguren ein Übriges tun. Am Vorabend der Spiele von 1968 brachte das mexikanische Regime bei einer Demonstration 300 Kritiker um. IOC-Chef Avery Brundage aber zerstörte kurz darauf die Karrieren der Sportler Tommie Smith and John Carlos, die auf dem Podium die Black-Power-Geste gezeigt hatten.

Das IOC, selbst ernannt seit Bestehen, lernt nicht aus Fehlern, ernennt keine Unabhängigen und kommuniziert nicht mit Kritikern. Sport ist eine globale Sprache in einer fragmentierten Welt, an sich ein wunderbares Vehikel. Er verdient etwas Besseres. Nach Tokio sollte die Scharade ihr Ende finden. Das IOC ist aufzulösen, seine Belange sind einer demokratischen Körperschaft zu übergeben.

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Der Text erschien in längerer Fassung zuerst im Guardian

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Übersetzung: Velten Schäfer
Geschrieben von

David Goldblatt | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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