Naomi Klein: „Gerechtigkeit und Klima müssen zusammen gedacht werden“
Interview Die Globalisierungskritikerin Naomi Klein glaubt: Es reicht nicht, eine CO₂-Steuer einzuführen, um den Planeten zu retten. Warum es mehr braucht, als grüne Politik und wie Gerechtigkeit noch helfen kann, die Erde vor dem Untergang zu retten
„Fragen wir, was wir kollektiv tun können, und nicht als Einzelne!“: Die Professorin für Klimagerechtigkeit Naomi Klein im Gespräch
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Naomi Klein veröffentlichte ihr viel beachtetes Buch Die Entscheidung: Kapitalismus vs. Klima vor fast einem Jahrzehnt. Sie war eine der Organisatorinnen und Autorinnen des kanadischen Leap Manifesto, eines Plans für einen schnellen und gerechten Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen. Doch wie motiviert man die Bevölkerung, weniger CO₂ auszustoßen? Und hat uns Corona eine Blaupause dafür geliefert, wie man mit einer echten Krise schnell und erfolgreich umgehen kann?
der Freitag: Naomi Klein, was ist Klimagerechtigkeit?
Naomi Klein: Wir leben in einer Zeit, in der sich mehrere Krisen überschneiden: Gesundheitsnotstand, Ungleichheit, Rassismus, Wohnungsnot – Klima. Der Begriff Klimagerechtigkeit meint, dass im Zuge der Dekarbonisierung auch gleichzeit
ismus, Wohnungsnot – Klima. Der Begriff Klimagerechtigkeit meint, dass im Zuge der Dekarbonisierung auch gleichzeitig eine gerechtere Gesellschaft aufgebaut wird. Quasi Multitasking. Aber klar, viele Umweltschützer sagen: „Das hört sich viel schwieriger an, als nur eine Kohlenstoffsteuer einzuführen ...“Stimmt das nicht?Doch. Aber wie soll es sonst gelingen, eine Machtbasis für Klimaschutzmaßnahmen aufzubauen? Wenn man nur über Kohlenstoff spricht, wird jeder, der eine alltägliche Notsituation hat – sei es Polizeigewalt oder prekäre Wohnverhältnisse – so über das Klimathema denken: „Das ist ein Problem der reichen Leute. Ich konzentriere mich darauf, am Leben zu bleiben!“ Wenn man aber zeigen kann, wie Klimaschutz auch bessere Arbeitsplätze schaffen, Ungleichheiten beseitigen und den Stresspegel senken kann, dann erregt man die Aufmerksamkeit der Menschen.Sie sprechen seit über einem Jahrzehnt über dieses Problem.Mein Erwachen war der Hurrikan Katrina im Jahr 2005. Ich habe gesehen, wie Katrina bestehende Ungerechtigkeiten aufgedeckt und verschärft hat. Die Menschen, die über Ressourcen und Autos verfügten, verließen die Stadt und nahmen sich ein Hotel. Diejenigen ohne Auto, überwiegend Arme und Schwarze, saßen auf ihren Dächern und hielten Schilder mit der Aufschrift „Hilfe“ in die Luft. Und was hat die Regierung danach gemacht? Ausverkauf des Schulsystems. Ausverkauf der Sozialwohnungen. Das war eine Umwandlung der Stadt in ein neoliberales Laboratorium! Also habe ich gesagt: Wenn wir auf diesem Weg bleiben, führt er in eine Welt der Katrinas. Dann werden die Geier kommen, die das Leid ausnutzen, um sich zu bereichern.Heute klingen Sie optimistischer.Ja. Seit meinem Buch Die Entscheidung: Kapitalismus vs. Klima erzähle ich eine andere Geschichte. Und zwar diese: Was wäre, wenn wir eine intersektionale Antwort finden, die tatsächlich versucht, das System zu verändern, das diese Krisen hervorbringt?Glauben Sie, dass es eine gute Idee ist, Hoffnung zu wecken, um die Menschen zum Klimaschutz zu motivieren?Ich habe ein zwiespältiges Verhältnis zum Wort Hoffnung. Wir müssen realistisch sein: Viele Menschen haben eine sehr schwierige Zukunft vor Augen. Selbst dann, wenn wir von jetzt an alles richtig machen, werden wir immer noch eine Zukunft mit Klimakatastrophen im Stakkato sehen. Aber ich glaube nicht, dass wir den Luxus haben, die Hände in den Schoß zu legen und zu sagen: „Wir sind dem Untergang geweiht, lasst uns einfach Mad Max spielen.“Was muss geschehen?Wir brauchen ein Recht auf Wohnen, Essen und sauberes Wasser. Wenn wir diese Infrastruktur ausbauen, können wir Schocks viel besser überstehen. Darin setze ich meine Hoffnung.Wie hat sich die Pandemie auf unsere Klimapolitik ausgewirkt?Es ist zu früh, um das zu sagen. Klar ist aber: Wir neigen dazu, darüber nachzudenken, was wir als Einzelne tun können, anstatt darüber nachzudenken, was wir kollektiv tun können. Das ist das größte Hindernis für Veränderung. Die Bewegung für Klimagerechtigkeit scheint ihr Feuer nicht wieder so entfacht zu haben, wie wir es 2019 mit den Klimastreiks der Schüler gesehen haben. Allein in Vancouver waren damals Hunderttausende auf der Straße ...Hat die Pandemie andere hilfreiche Dinge ans Licht gebracht?Wir haben jetzt eine kollektive Erinnerung an eine Notfallreaktion. Jeder hat schon den Klimanotstand ausgerufen – ob Universitäten, Städte oder Nationen. Aber wir haben noch nie etwas gesehen, das nur annähernd an das „Alles- ist-möglich“-Niveau heranreicht, das wir in den ersten anderthalb Jahren Covid gesehen haben. Vor Corona musste ich auf den New Deal oder die Mobilisierung im Zweiten Weltkrieg verweisen, um sagen zu können: Seht her, damals in den Zeiten des Schwarz-Weiß-Films gab es diese gesellschaftlichen Antworten auf Krisen! Das Klima erfordert den gleichen Sinn für Dringlichkeit wie Corona.2022 machten Sie während der Klimakonferenz Cop27 in Ägypten auf die Menschenrechtslage aufmerksam. Was ist der Schnittpunkt zwischen Klimagerechtigkeit und Menschenrechten?Ich drücke es mal so aus: Wir werden keine Klimagerechtigkeit erreichen, wenn wir nicht die Freiheit haben, dafür zu kämpfen, wenn wir nicht die Freiheit haben, zu forschen, zu sprechen, zu protestieren und zu streiken. Keine dieser Freiheiten gibt es für Ägypter unter dem derzeitigen Regime. Mich hat im Vorfeld der Cop27 gewundert, dass sogar innerhalb der Klimagerechtigkeits-Bewegung wenig darüber diskutiert wurde, dass der Gipfel in einem so repressiven Polizeistaat stattfindet. Dabei befindet sich Ägypten in einer Menschenrechtskrise. Das Land hat mehr als 60.000 politische Gefangene! Diejenigen von uns, die Beziehungen zur ägyptischen Zivilgesellschaft unterhalten, waren der Meinung, dass es ethisch nicht vertretbar sei, diesen Klimagipfel wie jeden anderen zu behandeln und einfach mit Namensschildern aufzutauchen und das Land als eine Art Kulisse für unsere PowerPoint-Präsentationen zu betrachten.Eine der Schlagzeilen, die aus der Cop27 hervorgingen, war das „Loss-and-Damage-Abkommen“: Das sieht Mittel vor, um einkommensschwache Länder für Klimaschäden zu entschädigen, die von reichen Verschmutzern verursacht wurden. Wird Klimagerechtigkeit seit dem Gipfel ernster genommen als zuvor?Es gab definitiv einen Durchbruch bei der Akzeptanz der Klimaschuld. Ich erinnere mich an den ersten Cop-Gipfel, an dem ich 2009 teilnahm: Als dort das Thema Klimaschulden zur Sprache kam, wurde das von den amerikanischen Delegierten rundweg abgelehnt. Die Erkenntnis, dass es eine Schuld gibt, ist das Ergebnis jahrzehntelanger Arbeit. Aber der Teufel steckt im Detail, wenn es darum geht, ob die Finanzierung tatsächlich ankommt – und wenn ja, wie sie ausgegeben wird. Meine Sorge ist, dass es sich nicht wirklich um einen politischen Durchbruch handelt.Wieso?Weil die Entschädigungszahlungen zu einem Zeitpunkt ankommen könnten, an dem immer mehr Länder unter autoritäre Herrschaft geraten sind. Diese Regierungen befinden sich im Krieg mit ihrer eigenen Bevölkerung. Das ist der Punkt, auf den unsere ägyptischen Kollegen während der Cop hingewiesen haben: Ein System, das unser Militärregime subventioniert, hilft uns nicht wirklich. Dies entbindet jedoch historisch große Emittenten wie die USA, Kanada und die EU keineswegs von ihrer Verantwortung. Wir können den Autoritarismus im globalen Süden nicht als Ausrede benutzen, um unsere internationalen Schulden nicht zu bezahlen.Worauf werden Sie 2023 achten, wenn es um Klimagerechtigkeit geht?Hier in Kanada beobachte ich, ob Ottawa dem Druck aus Alberta nachgibt und seine längst überfälligen Pläne für einen gerechten Übergang für die Beschäftigten in der fossilen Energiewirtschaft fallen lässt. Ich beobachte auch, wie der Krieg in der Ukraine sowohl die Umstellung auf erneuerbare Energien beschleunigt als auch die Ausgrabung der letzten verbliebenen fossilen Brennstoffe profitabler macht, weil der Preis dafür gerade so hoch ist. Ich beobachte auch mit zunehmender Sorge, wie sich Covid-Leugnung und Klimawandel-Leugnung überschneiden und gegenseitig verstärken. Und ich frage mich, ob wir als Klimabewegung auf der nächsten Cop, die in den äußerst repressiven Vereinigten Arabischen Emiraten stattfinden soll, die Menschenrechte besser mit dem Klimaschutz verbinden können, als das in Ägypten der Fall war.Sie unterrichten in diesem Semester gemeinsam mit Studenten einen Kurs über den Klimanotstand. Was raten Sie Studierenden und jungen Menschen, die sich in ihrem eigenen Leben und mit ihrer Arbeit für Klimagerechtigkeit einsetzen wollen?Ich glaube, das Wichtigste ist, dass man einfach andere Menschen findet. Wenn man versucht, das allein zu bewältigen, fühlt man sich schnell als Versager und wird sehr, sehr schnell entmutigt. Der Vorteil, Teil einer breiteren Bewegung zu sein, besteht darin, dass man weiß, dass einige Leute einige Dinge tun und andere Leute andere Dinge tun, und niemand muss alles machen. Ich rate Studenten immer, eine Bewegung zu finden, in der sie sich wohlfühlen, sicherzustellen, dass sie mit anderen Bewegungen vernetzt ist, und dann so breit wie möglich in einer Koalition zu arbeiten. Und dann verbindet eure Leidenschaft mit der Notwendigkeit. Was auch immer ihr tun wollt, findet einen Weg, es mit der Klimakrise zu verbinden.In welche Branchen sollten die jungen Menschen dafür gehen?Vielleicht ist es Kunst, vielleicht ist es Technik, vielleicht ist es Planung – alles wird gebraucht. Ich glaube nicht, dass die Menschen ihre Leidenschaften aufgeben müssen, um den Klimawandel zu bekämpfen. Ich denke, sie müssen herausfinden, wie sie ihre Leidenschaften mit der Klimakrise verbinden können. Denn dies ist die Aufgabe unseres Lebens.Placeholder infobox-1