Paul Auster: „Das Recht auf Waffenbesitz ist in den USA ein Heiliger Gral“

Interview In seinem neuen Buch „Bloodbath Nation“ geht der Schriftsteller Paul Auster der Frage nach, woher die Obsession der Amerikaner für Waffen rührt. Hier erklärt er, wie die Idee dazu mit seinem Sohn entstand
Paul Auster will mit seinem Buch eine Diskussion über Schusswaffen anstoßen
Paul Auster will mit seinem Buch eine Diskussion über Schusswaffen anstoßen

Foto: Ritzau Scanpix/Imago Images

Herr Auster, wie kam es zu dem Buch Bloodbath Nation?

Lisa O'Kelly: Mein Schwiegersohn, der Fotograf Spencer Ostrander, kam eines Tages zu mir, er war sehr aufgebracht über die Waffengewalt, die er überall um sich herum sah – wie es sich für einen anständigen Menschen gehört. Er sagte, er habe beschlossen, durch das Land zu reisen und die Orte aller Massenschießereien der letzten 20 Jahre zu fotografieren. Wie ich in meinem Buch schreibe, machen Massenschießereien nur einen kleinen Bruchteil der amerikanischen Todesfälle durch Schusswaffen aus, aber sie treten dennoch mit erstaunlicher Häufigkeit auf – etwa eine pro Tag, Jahr für Jahr. Spencer unternahm im Laufe von zweieinhalb Jahren eine Reihe von Fernreisen und machte schließlich Fotos von 30 bis 40 Orten. Als er sie mir zeigte, sagte ich: „Ich finde, das sind sehr, sehr aussagekräftige Fotos, und wenn du sie in einer Art Buch zusammenstellst, könnte ich vielleicht einen Text dazu schreiben.“ Zu diesem Zeitpunkt war es nicht mehr als eine Idee, und im Laufe der Zeit entwickelte sich daraus eine Art Dialog zwischen uns – dem Mann des Wortes und dem Mann der Bilder.

Was macht Spencers Fotografien Ihrer Meinung nach so aussagekräftig?

Ich denke, die Abwesenheit von Menschen ist auffallend und dass keine Waffen zu sehen sind, kein Hinweis auf Massenschießereien, da sind nur diese oft ziemlich hässlichen Gebäude inmitten von eher unscheinbaren, deprimierenden amerikanischen Landschaften. Es herrscht eine gewisse Leere in ihnen. Ich will nicht zu hochtrabend werden, aber ich denke, diese Leere spiegelt die Leere dieser Welt wider, die wir geschaffen haben, in der Menschen abgeschlachtet werden, ohne dass dies Auswirkungen auf das Leben im Land hat. Wir alle regen uns auf, wir alle beschweren uns, und doch bleibt alles beim Alten. Und die Waffenlobby ist nach wie vor sehr, sehr stark.

Was erhoffen Sie sich von dem Buch?

Dass es eine Diskussion anstößt, die wir in Amerika noch nicht geführt haben, wie wir diese monströse Situation, die wir uns selbst geschaffen haben, angehen können. Ich sehe es als ein nationales Projekt, für das ich bereit bin, auf die Straße zu gehen und zu missionieren, und ich möchte unbedingt sehen, welche Auswirkungen es haben wird. Hoffentlich wird es auch für Menschen außerhalb der USA lehrreich sein, denn viele meiner britischen und europäischen Freunde sind völlig ratlos, wenn es darum geht, amerikanische Waffengewalt zu verstehen. Deshalb habe ich versucht, die Geschichte dahinter zu erklären.

Sie zeigen, wie lange Amerikas Affäre mit Schusswaffen schon andauert.

Sie begann ganz am Anfang. Die ersten britischen Siedler in Nordamerika waren verängstigt – sie hatten Todesangst. Sie waren nur wenige und die indigene Bevölkerung war zahlreich. Die Angst, massakriert zu werden, war groß. Also bewaffneten sie sich und sorgten dafür, dass sie als Erste angriffen – und genau damit begann unsere Verbundenheit mit Waffen.

In Ihrem Buch sagen Sie, dass der zweite Zusatzartikel zur Verfassung, der das Recht des Einzelnen auf das Tragen von Waffen regelt, bis vor wenigen Jahrzehnten kaum beachtet wurde. Erst später begann man diesen Text als grundlegenden dafür zu betrachten, was es bedeutet, ein Amerikaner zu sein. Warum geschah das?

Wegen der 1960er Jahre – den Attentaten und dem Chaos. Die Menschen waren verängstigt. Und es hatte auch mit den Black Panthers zu tun, die natürlich keine weißen Konservativen waren, aber sie waren die Gruppe, die als erste das Argument vorbrachten, dass Waffenbesitz ein Recht sei und der Selbstverteidigung diene. Es ist eine große Ironie: Die Panther wurden ausgelöscht, aber ihre Ideen blieben bestehen und wurden von der weißen Rechten übernommen. Heute hat der zweite Zusatzartikel der Verfassung für viele eine fast religiöse Komponente. Das Recht, eine Waffe zu besitzen, wird als eine Art heiliger Gral angesehen.

Was gibt Ihnen Hoffnung für die Zukunft?

Auch wenn es ein vollkommen utopischer Traum ist: Dass beide Seiten miteinander reden und den Albtraum beenden wollen. Wenn ich keine Hoffnung haben kann, wenn ich nicht zumindest von der Möglichkeit träumen kann, eine Lösung zu finden, wie ist es dann möglich, am Leben zu sein?

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Geschrieben von

Lisa O'Kelly | The Guardian

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