Plötzlich ist Jewgeni Prigoschin ein Phantom: „Als habe er nie existiert“
Russland Lange nutzte Moskau Jewegeni Prigoschin, um plausibel Dinge abstreiten zu können. Jetzt wird er schlicht ignoriert. Die russischen Medien fragen, wie lange er noch leben wird
Hinter der Maske: Jewgeni Prigoschin und Wladimir Putin
Foto: Anatoly Maltsev/picture alliance/EPA
Befindet sich Jewgeni Prigoschin in Belarus oder in Sankt Petersburg? In unbestätigten Filmaufnahmen, die ihn aussehen lassen wie einen Schurken in einem James-Bond-Streifen, schreitet er über ein Dach, einen muskulösen Leibwächter an der Seite, setzt sich in einen Hubschrauber und entschwindet in den Himmel über Sankt Petersburg.
Fast ein Jahrzehnt lang verursachte Prigoschin in Russland Skandale, indem er ein Trollfabrik-Imperium aufbaute, die russische Einmischung in ausländische Wahlen anführte und die Wagner-Söldnergruppe finanzierte, die in der Ukraine kämpfte und Diktaturen in Afrika stützte.
Bei der Meuterei am vorletzten Wochenende rief er zudem zum Umbruch auf: Er führte eine bewaffnete Rebellion an, von der viele befürcht
ele befürchteten, dass es in Moskau zu einer Abrechnung oder sogar zu Plünderungen kommen könnte, unter anderem in den gehobenen Häusern in Moskaus reichen Stadtteil Rubljowka.„Der Aufruf, diese Diebe in Rubljowka zu holen, war revolutionär“, urteilte der Chefredakteur der Zeitung „Nesawissimaja Gazeta“, Konstantin Remtschukow, der den russischen Präsidenten Wladimir Putin kürzlich bei einem Treffen mit den höchsten Chefredakteuren hinter geschlossenen Türen traf. „Die Elite fürchtet Prigoschin wirklich als mögliche Alternative zu Putin. Dann würde es keine Garantien, keinen Schutz, keine Spielregeln geben.“Stattdessen ist es jetzt Prigoschins Imperium, das bröckeln wird. Damit geht ein Jahrzehnt seiner Machenschaften und Tricks zu Ende, bei denen er die schmutzigsten Aufgaben des Kremls übernahm. Am Freitag blockierte Russland die Internetseiten der Onlinemedien Ria Fan, Politics Today, Economy Today, Newa News und People’s News, die Teil einer Sammlung von Online-Seiten sind, die Fake News zur Unterstützung von Prigoschins Agenda verbreiteten.Das in Sankt Petersburg sitzende Online-Medium Rotunda berichtete auch, dass Prigoschins Trollfabrik Internet Research Agency ebenfalls geschlossen wurde. Dort waren schlecht bezahlte Praktikanten mit dem Versuch beschäftigt, Wut und Misstrauen zu sähen, indem sie aggressive Kommentare unter Nachrichten und Soziale-Medien-Beiträge schrieben.Jahrelang hatte Prigoschin bestritten, der Gründer der Agentur zu sein. Dagegen erklärte er in diesem Jahr: „Ich war nie nur der Finanzier der Internet Research Agency. Ich habe sie erfunden, ich habe sie geschaffen, ich habe sie eine lange Zeit gemanagt. Sie wurde gegründet, um den russischen Informationsraum vor der rüden, aggressiven Propaganda der antirussischen Darstellung des Westens zu schützen“.In einem außergewöhnlichen Auftritt verteidigte ein Redakteur aus Prigoschins Patriot Mediengruppe die Funktion der Trollfabrik seit ihrer Gründung 2009. Sie sei „strategisch wichtig, um die Arbeit von oppositionellen Journalisten zu kritisieren, die versuchten, unser Land zu zerstören“.Die russische Regierung hat viele von Prigoschins Taktiken übernommen, von online verübter sozialer Sabotage bis hin zur Rekrutierung von Häftlingen in Gefängnissen. Zahlreiche staatliche Unternehmen und sogar private Geschäftsleute sponsern inzwischen ihre eigenen kleinen Söldnergruppen.Placeholder image-1Und seine mitreißende und überzeugende Medienpräsenz machte ihn über Nacht zum Star, als sich sein Konflikt mit dem Verteidigungsministerium zuspitzte.Lange nutzte Moskau Prigoschin, um plausibel Dinge abstreiten zu können. Jetzt wird er schlicht ignoriert, während die russische Regierung versucht, sein Söldnerimperium in Übersee und seinen Einfluss in Afrika zu erhalten, aber gleichzeitig Prigoschins persönliche Rolle zu unterbinden.„Bis zum Krieg und Bachmut schrieben wir sehr selten über Prigoschin. Er wurde als unklarer Charakter betrachtet; nicht gegen die Regierung eingestellt, aber jemand, den man am besten nicht anrührte“, erzählte ein früherer Redakteur bei einer staatlichen Nachrichtenagentur, der Gespräche mit Kollegen zitierte. „Jetzt ist es, als habe er nie existiert“, fuhr er fort. „Die Redakteure sagen: ‘Okay, wir haben über die Meuterei berichtet, aber jetzt kehrt wieder Normalität ein. Prigoschin wird nie wieder ein Thema sein, definitiv nicht im Fernsehen.’“Laut politischen Insidern in Russland hätte der Konflikt vermieden werden können, wenn Putin früher interveniert und Prigoschins Rolle für Russland im Krieg anerkannt hätte sowie den Bedenken des Kriegsherrn entgegengekommen wäre.„Putin hätte diese Sache schon vor langer Zeit klären können. Aber was solche Dinge angeht, ist er nicht sensibel“, urteilte ein politischer Insider, der anonym bleiben wollte. „Er hätte nur jemanden schicken müssen, der jemandem sagt: ‘Bitte, treffen Sie sich mit Prigoschin, rufen Sie ihn herein und sagen Sie ihm, dass er fantastisch ist, dass wir ihn wertschätzen, aber dass er bitte seinen Mund halten soll, weil wir gerade diese öffentlichen Kämpfe nicht gebrauchen können.‘ Aber Prigoschin merkte, dass er den Verteidigungsminister kritisieren durfte und ungeschoren davonkam. Und dann hat er die Sache immer weiter aufgeheizt.“Für manche wohlhabenden Russen steht Jewgeni Prigoschin jetzt synonym für das Chaos eines möglichen Kampfes um die Macht in Russland. Der Kreml und seine Unterstützer behaupten, die Meuterei habe Putins Macht sogar noch gestärkt, weil sie zeigte, dass es ohne ihn einen Bürgerkrieg geben würde.„Als wir am Samstag die Nachrichten sahen, sagten wir unserem Sicherheitspersonal, dass es sich bereit machen solle, um den Ort zu verteidigen, wenn es nötig wird“, erzählte ein wohlhabender Einwohner von Rubljowka dem Observer. „Prigoschin ist verrückt – er ist der Schlimmste und zu allem fähig. Er spricht immer über Rubljowka und wie sehr er uns hasst. Er wäre wahrscheinlich zuallererst zu uns gekommen.“Prigoschin selbst soll sich in Belarus aufhalten, auch wenn es keine Fotos gibt, die ihn in jüngster Zeit dort zeigen. Viele stellen sich allerdings die Frage: Wie lange kann er überleben?„Ich habe schon ein paar Mal darüber nachgedacht, was ich schreiben würde, wenn er stirbt“, antwortete der frühere Redakteur der staatlichen Nachrichten auf die Frage, ob bereits einen Nachruf für Prigoschin vorbereitet sei. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass er noch sehr lang lebt.“