Wagner-Putschversuch: Putins Reaktion zeugt nicht von Schwäche
Meinung Der fehlgeschlagene Wagner-Putsch zeigt, dass das Regime des russischen Präsidenten hartnäckig standfest ist. Wladimir Putins Gnade gegenüber Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin war kein Zeichen von Schwäche, sondern ein geschickter Schachzug
Wladimir Putin konnte noch einmal sein Image der Stärke unter Beweis stellen
Foto: Sergei Guneyev/Sputnik/AFP/Getty Images
Ein Großteil der westlichen Analyse der Ereignisse in Russland am vergangenen Wochenende kam zu dem Schluss, dass die Reaktion des russischen Präsidenten Wladimir Putin von seiner Schwächung zeugt: Geschlossen wurde das daraus, dass er dem Gründer der Wagner-Gruppe Jewgeni Prigoschin und anderen Offizieren erlaubte, friedlich nach Belarus auszureisen und den unteren Soldatenrängen die Möglichkeit anbot, in die russische Armee einzutreten oder sich nach Hause zurückzuziehen.
Hätte Putin tatsächlich die Revolte mit Gewalt zerschlagen und ihre Anführer hingerichtet, hätten aber die Kommentatoren das als weitere Beweise für seine Brutalität und Skrupellosigkeit bewertet, vielleicht sogar für die inhärente Grausamkeit und
amkeit und Gewalttätigkeit der russischen nationalen Tradition.Solche Folgerungen sind von einer verständlichen Abneigung gegen den russischen Staatschef gefärbt und stellen keine nüchterne und objektive Analyse dar. Obwohl Putin offensichtlich für den Hintergrund des Chaos‘ verantwortlich ist, sollte man die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass er mit den Ereignissen am Wochenende gut umgegangen ist. In seiner Rede an die Nation am Samstagvormittag zeigte er Zielstrebigkeit und Entschlossenheit. Putin machte deutlich, dass er nicht die Absicht hatte, Prigoschins Forderungen zu erfüllen. Für den Fall, dass der Wagner-Chef und die anderen Wagner-Anführer die Revolte fortführten, kündigte er an, dass sie des Hochverrats angeklagt werden würden (und infolge wahrscheinlich hingerichtet).Es zeigte sich auch schnell, dass es innerhalb der regulären Armee keine Meuterei zur Unterstützung der Wagner-Gruppe geben würde. Daher stand Prigoschin vor der Wahl, Moskau anzugreifen, was fast sicher zu einem Abschlachten seiner Männer und seinem eigenen Tod geführt hätte, oder sich unter bestimmten Bedingungen zu ergeben. Vor diesem Hintergrund hatte Putin nichts zu gewinnen durch gewalttätige Rache, die einer großen Zahl von Russen das Leben gekostet und den russischen Krieg in der Ukraine stark untergraben hätte. Dagegen hatte er alles zu gewinnen, wenn er Großmut zeigte. Er war schließlich der Sieger.Dabei gibt es noch einen wichtigen Grund, warum Putin nicht früher versuchte, Prigoschin zu unterdrücken und seine Fehde mit dem russischen Oberkommando zu beenden: Die russische Propaganda im Land hatte über ein Jahr lang gerade ein Image von den Wagner-Kämpfern als russische militärische Helden aufgebaut. Sie abzuschlachten, wäre bei der russischen Bevölkerung nicht gut angekommen.Umstürze, Fast-Umstürze und RebellionenAus dem, was am vergangenen Wochenende in Russland passiert ist, lassen sich zwei weiterführende Dinge lernen. Eins hat mit der langen Geschichte von Umstürzen, Fast-Umstürzen und Rebellionen der Eliten auf der ganzen Welt zu tun. Ein sehr großer Teil davon zielte nicht darauf ab, den Herrscher zu stürzen und die Macht an sich zu reißen, und sie führten auch nicht zu Kämpfen. Eher handelte es sich um bewaffnete Demonstrationen lokaler Eliten. Sie waren vergleichbar mit mittelalterlichen Baronen, die darauf abzielten, den Monarchen unter Druck zu setzen, um die „Behebung von Missständen“, Entlassung rivalisierender Barone vom Hof und Vergabe einiger lukrativer Posten an die Rebellenführer zu erreichen.Wenn der Monarch hart blieb, baten die involvierten Barone häufig um Verzeihung, versprachen dem König die Treue, zogen ihre Männer zurück und gingen für eine Weile ins Exil. Wenn der Monarch aufgab, zogen sie ebenfalls ihre Männer zurück, steckten die Gewinne ein und gelobten dem König die Treue. Dabei konnte der Monarch allerdings, wie Edward II., Richard II. und andere feststellten, so viel Autorität verlieren, dass er einer späteren Revolte zum Opfer fiel und ein schlimmes Ende fand. Am vergangenen Wochenende in Russland blieb der Monarch hart.Die andere Lektion steht im Zusammenhang mit der großen Hemmschwelle in der russischen Gesellschaft, wenn es darum geht, dass russische Soldaten das Blut anderer Russen vergießen, was wiederum mit tiefen Ängsten vor Bürgerkrieg und Chaos zu tun hat. Diese haben alte Wurzeln in den Alpträumen der Eliten von „russischen Revolten, sinnlos und gnadenlos“, wie Puschkin sie nannte. Aber noch mehr gehen sie auf die geerbten Erinnerungen von den grässlichen Folgen der bolschewistischen Revolution von 1917 und der Anarchie und ökonomischen Misere der 1990er Jahre zurück, die auf das Auseinanderbrechen der Sowjetunion folgten.Putins Worte zu 1917 in seiner Rede vom Samstag fanden daher bei vielen Russen großen Widerhall: „Ein ähnlicher Schlag wurde Russland 1917 versetzt, als das Land im Ersten Weltkrieg kämpfte. Doch der Sieg wurde ihm gestohlen: Intrigen, Streitereien und politische Machenschaften hinter dem Rücken der Armee und der Nation führten zu den größten Unruhen, zur Schwächung der Armee und zum Zusammenbruch des Staates, zum Verlust großer Gebiete und schließlich zur Tragödie des Bürgerkriegs … Wir werden nicht zulassen, dass das erneut geschieht.“Putins Image der StärkeDas vielleicht größte Rätsel im Zusammenhang mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist die Frage, warum die sowjetische Armee nicht viel härter gekämpft und viel mehr Menschen getötet hat, um sie zusammenzuhalten. Zudem ist die Frage, warum der versuchte Coup gegen Michail Gorbatschow 1991 vom Großteil der Armee abgelehnt wurde und daher so schnell zusammenbrach. Diese Aspekte der russischen Geschichte geben einen Teil der Antwort auf das Rätsel.Jedenfalls bestätigen die Ereignisse am vergangenen Wochenende, dass das Schicksal des Putin-Regimes nicht in erster Linie durch Verschwörungen in den Reihen der russischen Elite entschieden wird, sondern dadurch, was auf dem Schlachtfeld in der Ukraine passiert. Wenn die russische Armee ihre aktuellen Positionen halten kann, wird Putin das als Sieg darüber bezeichnen, was er der russischen Bevölkerung erfolgreich als vereinten westlichen Versuch, Russland zu zerstören, präsentiert hat.Wenn die Ukrainer einen Durchbruch schaffen, wird Putin vielleicht gezwungen sein zurückzutreten, aber er könnte die Sache auch in Richtung Nuklearkrieg eskalieren lassen. Die vielleicht gefährlichste Folge des Schlages gegen Putins Ansehen durch die Wagner-Revolte könnte sein, dass er sich selbst ohne einen ukrainischen Sieg gedrängt sieht, sein Image der Stärke wiederherzustellen, indem er am Westen Vergeltung übt, weil er die Ukraine unterstützt. In dem Fall würde die Bedrohung für Putins Regime durch die Bedrohung für die ganze Menschheit in den Schatten gestellt.