Man war sich von Washington bis Berlin vermutlich der Risiken bewusst, die eintreten, wenn Russland mitten im Krieg die anarchischen Zustände eines Machtwechsels heimsuchen. Wenn niemand weiß, wer dann über die Nuklearpotenziale gebietet und was damit anstellt. Insofern war der Westen gegen jede Verführung gefeit, im Warlord Jewgeni Prigoschin einen Hoffnungsträger zu sehen, der Wladimir Putin zu Fall bringt.
Dazu kam es nicht, weil Russlands Präsident Herr des Verfahrens blieb. Dies nicht anerkennen zu wollen, sollte nicht davon entbinden, es erkennen zu können. Putin geht gestärkt aus dieser Meuterei hervor, weil er Konzessionen machte, obwohl er den „Verrätern“ zuvor mit Revanche und Rache gedroht hatte. Im Interesse der Staatsräson mochte Vergeltung legitim sein, doch erschien es für die moralische Konstitution Russlands unverzichtbar, dieser zu entsagen, falls der Zweck die Mittel eben nicht heiligt. Entsprechend war Prigoschin schon amnestiert, bevor er überhaupt bestraft werden konnte – ein lumpiger Meuterer, kein lupenreiner Putschist. Putin, dem so gern die Rationalität bestritten wird, erwies sich als nüchterner Realist, der auch um seiner selbst willen eine innere Krise löste, indem er sie entschärfte, ob sein Prestige nun darunter litt oder nicht.
Wer das mit Häme quittiert, muss nach der Alternative gefragt werden. Als sich Prigoschins Kolonne am 24. Juni durch Südrussland bewegte wie das berühmte Messer durch die Butter, sprach nicht nur viel, sondern so gut wie alles dafür, dem zunächst keinen Widerstand entgegenzusetzen. Man musste mit vielen Toten rechnen. Von der Initialzündung für einen Bürgerkrieg ganz zu schweigen. Fällt in derart brisanter Lage der erste Schuss, ist nie ausgemacht, wann der letzte fällig ist, und was bis dahin passiert. Alles war besser, als sich gegenseitig umzubringen und der Welt ein Schauspiel russischer Selbstzerfleischung zu liefern. Und das in einem Augenblick, da die ukrainische Armee vielfach zum Angriff übergeht, um gegnerische Linien zu durchbrechen.
Mutmaßlich deshalb hat Putin in seiner Fernsehansprache am Vormittag des 24. Juni eine Analogie bemüht, die aufmerken ließ. Er sprach von „Intrigen, Streitereien und Ränken hinter dem Rücken der Armee“, die zu Beginn des Jahres 1917 einem „Zerfall des Staates“ Vorschub geleistet hätten. Eine Anspielung darauf, dass in dieser Phase des Ersten Weltkrieges auf der Schwelle zu Februarrevolution und Zarensturz inneres Chaos herrschte, sich Truppenteile von der Front absetzten und damit deren Zusammenbruch bewirkten. Dem deutschen Heer bescherte das riesige Geländegewinne im Osten, der Raubfrieden von Brest-Litowsk im März 1918 war die Konsequenz.
Käme es derzeit in der Ukraine zu einer ähnlichen Flucht aus den Gräben, wäre das für Russland gleichbedeutend mit einer militärischen Niederlage, an der es nichts zu rütteln gäbe. Putins historische Reminiszenz lief unterschwellig auf den Appell hinaus: Wehret den Anfängen, erhaltet den handlungsfähigen Staat, gerade jetzt. Allerdings birgt der Rückgriff auf eine solche Analogie durchaus Risiken. 1917 hatte Zar Nikolaus II. den Oberbefehl über die Streitkräfte übernommen und büßte für ausbleibende Siege mit Thronverzicht. Wladimir Putin ist als Oberkommandierender vergleichbar hohen Erwartungen in einer kritischen Zeit ausgesetzt. Er muss ihnen nun – vorübergehend oder für immer – ohne Jewgeni Prigoschin gerecht werden.
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