Süße Kätzchen, glitzernde Einhörner: Wie Niedlichkeit unsere Kommunikation revolutioniert
Rosa Globalisierung Die Antwort „OK“ klingt heute in Emails, als würde man dem Empfänger Hundekot in den Briefkasten schmeißen. Also hat sich die Industrie süße Emojis ausgedacht, um unseren Austausch freundlicher zu gestalten. Doch es gibt eine Schattenseite
Foto: Graphic Thought Facility (1990, UK). Playing dress-up with AI, 2023
Kleine Schweinchen in Kostümen, außerirdische Kreaturen, die sich gegenseitig den Hintern versohlen oder Kauderwelsch sprechende Katzen: Jeden Tag stehe ich morgens auf und versende erstmal solche bezaubernden Videos. Meine Freunde und ich sind wie Börsenhändler, die mit niedlichem Bildmaterial handeln. Und manchmal frage ich mich: Wie konnte es nur soweit kommen? Die Ursprünge des „Niedlichkeitskultes“ liegen wahrscheinlich in diesem denkwürdigen Katzen-Meme aus dem Jahr 2007: „I can has cheezburger?“, steht auf dem Bild einer fragend dreinschauenden britischen Kurzhaarkatze. Das hat eine Internetrevolution ausgelöst.
Im Grunde ist Niedlichkeit eine evolutionäre Anpassung, die von Babys entwickelt wurde, damit wir sie nicht au
m Grunde ist Niedlichkeit eine evolutionäre Anpassung, die von Babys entwickelt wurde, damit wir sie nicht aussetzen. Aber es hat auch etwas mit Kultur zu tun. So stammt der größte Teil unseres glitzernden, regenbogenfarbenen Vokabulars vom ästehtischen Konzept Kawaii ab, das sich um 1900 in japanischen Mädchenschulen entwickelte. Es hat Manga und Anime beeinflusst, bevor es von Marken kommerzialisiert wurde. Besonders von einer: Hello Kitty.In den 1990er Jahren waren alle Mädchen, die ich kannte, von Hello Kitty besessen. Überall klebten sie die kleinen Bildchen hin, auf ihre Bücher, auf ihre Taschen. Die Autorin Christine Yano hat den Begriff „rosa Globalisierung“ geprägt, um die Vorherrschaft der katzenähnlichen Figur zu beschreiben. Dabei wurde diese von der japanischen Unterhaltungsfirma Sanrio vor allem aus einem Grund geschaffen: Um der amerikanischen Mickey Mouse Konkurrenz zu machen. Nach dem Erfolg von Hello Kitty kamen dann San-X-Bären, Tamagotchi, Pokémon und Pusheen-Katzen auf den Markt. Seither wird Niedlichkeit als eine Art Kult zelebriert. Dabei steckt dahinter eine Manipulation. Sie zielt darauf abzielt, unseren Beschützerinstinkt zu wecken. Um damit kräftig Geld zu verdienen.Diese körperliche Merkmale finden wir an Lebenwesen süß!Im Jahr 1943 beschrieb der Tierverhaltensforscher Konrad Lorenz, welche körperlichen Merkmalen bestimmte Lebewesen für uns liebenswert machen. Dazu gehören große Köpfe und Augen, kurze, dicke Gliedmaßen und runde Körper. Lorenz nannte diese Eigenschaften das „Kinderschema“. Dabei haben Studien bewiesen, dass wir Welpen niedlicher finden als Babys. Die Dinge werden noch verrückter, wenn man die Bandbreite an Dingen betrachtet, die wir niedlich finden: Kätzchen und Kaninchen, aber auch haarlose Katzen und Killerpuppen. In seinem Buch The Power of Cute sagt der Philosoph Simon May, Niedlichkeit sei ein Spektrum. An dem einen Pol stehen kindliche Objekte, die unsere Beschützerinstinkte wecken; am anderen Ende werden „süße Eigenschaften in etwas Dunkleres, Unbestimmteres und Verletzteres verwandelt.“Claire Catterall, Kuratorin der Ausstellung „Cute“ im Londoner Somerset House, verweist auf ET und Yoda, die zwar unheimlich aussähen, aber trotzdem als niedlich wahrgenommen würden. Ich hingegen fühle mich sofort an Gus erinnert, den dreibeinigen, einäugigen chinesischen Schopfhund, der acht Mal zum „hässlichsten Hund der Welt“ gewählt wurde, bevor er 2008 an Krebs starb. Ich habe ein Bild von Gus an meiner Wand hängen, lebergefleckt und mit der Zunge aus dem Mund. Wirklich ein abscheulicher Anblick. Aber er lässt mein Herz vor Liebe zerspringen!Der beunruhigendste Aspekt der Niedlichkeit ist jedoch ihre Amoralität. Zum Beispiel bin ich süchtig nach dem Instagram-Account @sylvaniandrama. Auf dem werden Geschichten von Gefängnisausbrüchen, Drogenkonsum und Sex mit süßen Familienpuppen nacherzählt. Niedlichkeit ist zutiefst subversiv, sagen auch Wissenschaftler. Warum ist sie plötzlich überall? Die Antwort liegt in unserem kulturellen Moment. Wir fühlen uns zu naiven Dingen hingezogen, als eine Form des magischen Denkens – ein Wunsch, in einer grausamkeitsfreien Welt zu leben, in der alles sicher ist. Wir verwenden „erwachsen werden“ als Verb, als ob es eine Alternative dazu gäbe. Glitzernde Einhörner sind eine Möglichkeit, diesem Planeten mit seinen täglichen Schrecken zu entkommen. Aber ganz können wir die Angst nie besiegen. Deshalb kreieren wir Figuren wie Gloomy Bear, einen rosafarbenden Teddy, dem Blut über das Gesicht läuft.Während ich dies schreibe, schickt mir eine Freundin, die gerade in Thailand Urlaub macht, ein Bild von einem T-Shirt, auf dem eine Cartoon-Sonne und Delphine mit Hundegesichtern zu sehen sind. Die Aufschrift lautet: „I'm dead inside!“, ich bin innerlich tot. Ich habe sie gebeten, mir zwei davon zu besorgen. Wie mir der Philosoph Simon May in einer E-Mail mitteilt, tröstet uns die dunkle Seite der Niedlichkeit „in einer Welt der beunruhigenden Ungewissheit.“ Sie gebe dieser Welt eine „heitere Tonlage".Mittlerweile gibt es sogar ein „Hello Kitty für Millennials“. Gemeint ist die Comicfigur Gudetama, ein Eigelb ohne Hals, das klebrig und antriebslos ist und sich durch keine besondere Persönlichkeit auszeichnet. Meist liegt es in seinem Eiweiß, fühlt sich träge und unterlegen. Es ist verletzlich, aber vor allem: müde. Steckt nicht in jedem von uns ein bisschen Gudetama?„Wir verstecken uns hinter niedlichen Emojis“„Wir nehmen niedliche Dinge nicht ernst, aber wir haben Interesse an ihnen“, sagt die Kuratorin Claire Catterall. „Sie erlauben uns, dass schwierige Dinge offen gesagt werden. Es ist ein sicherer Raum“. Ihre „Cute“-Ausstellung in London zeigt, wie Künstler von der grenzenlosen, fließenden Natur des Niedlichen angezogen werden, von der Art und Weise, wie es starre Kategorien untergräbt und Raum für Andersartigkeit schafft. Die Sprache der Niedlichkeit wird immer ausgefeilter. Aber die meisten von uns sind keine Künstler.Im wirklichen Leben bin ich sehr besorgt, dass ich mich langsam zum Idioten mache. Ich verwende zu viele Ausrufezeichen und Kuss-Smileys – ob ich nun auf das Zitat eines Klempners oder des Pressesprechers des Premierministers antworte. Ich glaube, das ist der Grund, warum sich viele von uns bei schriftlichem Austausch quälen. Wir sind uns bewusst, wie leicht der Tonfall verfehlt werden kann – was, wenn wir jemanden beleidigen, ohne es zu merken? In dieser paranoiden Atmosphäre wirkt ein kurzer Satz abweisend. Ein Punkt ist geradezu unhöflich. „OK“, einst eine unauffällige Antwort, fühlt sich jetzt an, als würde man dem Empfänger Hundekot in den Briefkasten werfen. Der Niedlichkeitskult hat eine Lösung – unseren Freund, das Emoji.Placeholder image-1Die farbenfrohen, unaggressiven Sticker haben das Messaging verändert. Ich verwende sie in jeder Nachricht, in jeder Reaktion. Aber zu welchem Zweck? Bei Zoom befrage ich Jo Nicholl, eine Beziehungstherapeutin und Podcast-Moderatorin, die in Asien gelebt hat. Bevor ich eine Frage stelle, demonstriert sie den neuesten Trend aus Vietnam, den ihr Sohn ihr beigebracht hat. Er ähnelt dem Trend, bei dem man die Hände zu einem Herz formt. Stattdessen kreuzt Nicholl die Spitzen ihres Daumens und ihrer ersten Finger zu einem Babyherzen.Was ist falsch daran, Emojis zu benutzen? „Es ist eine emotionale Entlastung“, erklärt Nicholl. Wir würden uns auf sie verlassen, um unsere Gefühle darzustellen. Aber das Problem sei ihr inflationärer Gebrauch. Wie oft am Tag senden wir das Herz-Emoji? Bedeutet es jedes Mal dasselbe? Unwahrscheinlich. Emoji homogenisieren also Gefühle und verkürzen den persönlichen Ausdruck, sagt Nicholl. „Wir verstecken uns hinter Niedlichkeit.“ Dabei sind unsere wahren Gefühle meist ambivalent und kompliziert. „Stattdessen werden wir darauf trainiert, Objekte mit begrenzter emotionaler Bedeutung zu betrachten und zu sagen: 'Das ist mein Gefühl'“, erklärt Nicholl.Wer liebt niedliche Dinge am meisten? Führungskräfte der Werbeindustrie! Es gibt einen Grund, warum Erdmännchen für langweilige Preisvergleichs-Websites hausieren gehen. Die Marketingsstrategin Rebecca Hughes führt das Beispiel der Blindenhunde an. Für „eine Wohltätigkeitsorganisation, die dringend benötigte Unterstützung für blinde Menschen bietet, waren in den ersten Anzeigen kaum blinde Menschen zu sehen“, stellt sie fest. Labradorwelpen waren einfach die effektivere Werbung. Außerdem verringert Niedlichkeit die Preissensibilität, sodass wir eher bereit sind, Geld für ein bestimmtes Produkt auszugeben. Forschungen legen auch nahe, dass ein niedliches Maskottchen die Verbraucher dazu veranlasst, Unternehmen eher Verstöße gegen Vorschriften zu verzeihen.Placeholder image-2Niedlichkeit ist ein schlafender Riese, der übersehen wird, weil er trivial wirkt. Aber zweifeln Sie nicht daran, dass er uns beeinflusst. Da sich das Internet weiterentwickelt und Selbstdarstellung immer wichtiger wird, bietet uns Niedlichkeit eine Möglichkeit, uns zu verstecken und zu entblößen, perfekt und verletzlich zu sein, unwiderstehlich und doch anarchisch. Niedlichkeit mag überall sein, aber es ist alles andere als klar, dass sie unser Bestes will. Der Horizont ist rosa, aber verschwommen.Mir scheint, der Vergleich mit der Comedybranche liegt nahe. Witze und niedliche Bilder fühlen sich beide gut an und können doch gleichzeitig unsere Werte untergraben. Auch Humor wurde als niedere Kunst betrachtet, bevor er den Mainstream dominierte. Seitdem ist er zu einem kulturellen Schlachtfeld geworden. Etwas, das so sympathisch ist wie Witze, hat sogar die Kraft, Demokratien zu unterminieren. Süße Emojs und Memes könnten dieselbe Macht entfalten. Will ich damit sagen, dass wir Katzenbildchen abschaffen sollten? Wie süß, dass Sie das glauben.
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