Wie das Leben auf der Internationalen Raumstation ISS trotz Kriegen weitergeht
Raumfahrt In der Internationalen Raumstation ISS teilen sich Astronauten aus Russland und dem Westen ein Fluggefährt in der Größe eines großen Einfamilienhauses
Viel Platz ist auf der ISS ist. Und abgesehen von einem gelegentlichen Weltraumspaziergang können die Astronauten nicht wirklich nirgendwo hin
Foto: Imago/Zuma Wire
An einem Abend im Januar 2015 beschloss Terry Virts, ein Nasa-Astronaut an Bord der Internationalen Raumstation ISS, in den Bereich seiner russischen Kolleg:innen zu gehen, sich mit ihnen über Neuigkeiten auszutauschen und die Aussicht zu genießen. Was die Aussicht angeht, ist die Raumstation unschlagbar. Aus dieser Umlaufbahn etwa 400 Kilometer über der Erde haben zahlreiche Astronaut:innen ein Loblied auf die Schönheit unseres Planeten gesungen: seine faszinierenden, im Zeitraffer ablaufenden Sonnenaufgänge und Untergänge, seine leuchtenden Farben und seine verblüffende Zerbrechlichkeit.
Als früherer Space-Shuttle-Pilot, der damals zum zweiten Mal auf der Raumstation war, hatte der 47-jährige Virts all dies selbst erlebt und würde es noch
tion war, hatte der 47-jährige Virts all dies selbst erlebt und würde es noch viele Male tun. Aber diese Nacht war anders.Neben Virts trat Alexsandr Samokutjajew ans Fenster. Drei Jahre jünger als der US-Amerikaner war der russische Kosmonaut ebenfalls zum zweiten Mal in der Raumstation. Beide waren zuvor Militärpiloten in ihrem jeweiligen Land. Beide sprachen die Sprache des anderen. Sie schenken sich gegenseitig etwas zu Weihnachten. Da schwebten der Russe und der US-Amerikaner also freundschaftlich nebeneinander in der Schwerelosigkeit des Orbits und blickten auf die Welt unter ihnen herab.Von der ISS sieht der Ukraine-Krieg aus wie rote BlitzeNormalerweise bieten die bewohnten Gebiete der Erde ein sensationelles optisches Spektakel, das von den schillernden Lichtern der Städte herrührt. Aber zu diesem Zeitpunkt überquerte die Raumstation gerade den Osten der Ukraine. Unten herrschte Dunkelheit, unterbrochen von plötzlichen roten Blitzen. Sie beobachten einen Krieg.Erst ein Jahr zuvor hatte Russland die Krim annektiert. Jetzt griffen prorussische Kräfte die Ukrainer:innen an ihrer Ostgrenze an. Die beiden Männer starrten wie gebannt. „Wir sahen aus dem All zu, wie Menschen durch den von Russland ausgehenden Krieg getötet wurden“, erzählt Virts. „Wir sahen einander an. Es war ein düsterer Moment. Aber wir sagten kein Wort.“Heute werden noch viel mehr Waffen abgefeuert. Die Astronaut:innen und Kosmonaut:innen in der Raumstation sehen ähnliche Bilder wie Virts und Samokutjajew – und noch viel mehr. Allein die Tatsache, dass sie sich gemeinsam dort oben befinden, macht den früheren Astronauten Virts sehr ärgerlich. „Es ist, als wenn man sich 1943 mit deutschen Wissenschaftlern zusammengetan hätte, um auf eine Arktisexpedition zu gehen“, erklärt er seinen Unmut. „Das ist im Grunde, was wir gerade tun.“ Seine eigenen Beziehungen zu früheren russischen Kolleg:innen sind fast völlig abgebrochen. Im vergangenen Jahr wurde Samokutjajew, heute Mitglied der russischen Staatsduma, von westlichen Staaten mit Sanktionen belegt. Er hat sich als aktiver Unterstützer von Präsident Wladimir Putins Invasion erwiesen. „Es ist Verrat“, sagt Virts, „wie er schlimmer nicht sein könnte.“Die Internationale Raumstation bleibt von Sanktionen gegen Russland ausgeschlossenVerrat oder nicht, seit Beginn des Ukraine-Krieges heißt es offiziell von der Nasa und der Europäischen Raumfahrtagentur Esa ebenso wie von den entsprechenden Agenturen in Kanada und Japan, dass an Bord der ISS „business as usual“ herrsche. Im April dieses Jahres verpflichtete sich ihr russischer Partner, das staatliche Unternehmen Roscosmos, offiziell dazu, den Betrieb der Station bis 2028 fortzusetzen, nur zwei Jahre vor ihrer geplanten Stilllegung. Während jedes andere gemeinsame Weltraumprojekt zwischen dem Westen und Russland abgesagt wurde und die USA und ihre Verbündeten das größte Sanktionspaket der Geschichte gegen Russland verhängten, bleibt die Raumstation immun – eine sanktionsfreie Zone. „Es ist eine Ausnahme“, erklärt Robyn Gatens, Nasas Direktorin für die ISS, von ihrem Büro in Houston aus. „Wir machen Geschäfte miteinander.“Warum das so ist, dazu kommen wir ein bisschen später. In der Zwischenzeit umkreist dieses technische Wunderwerk aus Laboratorien und Wohnräumen die Erde mit der zehnfachen Geschwindigkeit einer Gewehrkugel, 16 Mal am Tag, jeden Tag, so wie schon seit einem Vierteljahrhundert – in einem physischen, und manche würden sagen, moralischen, Vakuum schwebend, hoch über dem Chaos hier unten.Ende August erreichten vier neue Crew-Mitglieder die Station, darunter ein Russe und ein US-Amerikaner. Zuvor lebten dort sieben Personen: drei Amerikaner (Stephen Bowen, Warren Hoburg, Frank Rubio), drei Russen (Sergej Prokopjew, Dmitri Petelin, Andrej Fedjajew) und – vielleicht etwas unglücklich in der metaphorischen Mitte – der Emirati Sultan al-Neyadi. Während der Krieg in der Ukraine auf beiden Seiten immer mehr Menschenleben fordert und das Kriegsgeschrei zwischen Russland und dem Westen immer lauter wird, mussten diese sieben Menschen monatelang im Weltraum zusammenleben. Drei von ihnen sogar fast ein Jahr.Ihr Zuhause hat ungefähr die Größe eines Hauses mit sechs Schlafzimmern, mit getrennten Wohn- und Arbeitsbereichen für Russ:innen und US-Amerikaner:innen (der Emirati schläft bei letzteren, wie alle Nicht-Russ:innen), die durch einen Korridor verbunden sind. „Ein 10- bis 15 Sekunden langes Schweben entfernt“, erklärt der kanadische Astronaut Bob Thirsk, der 2009 oben war. Abgesehen von einem gelegentlichen Weltraumspaziergang in der lebensfeindlichsten aller Umgebungen können sie wirklich nirgendwo hin.Placeholder image-1Wie kommen die Astronaut:innen dort oben klar? Wie funktionieren sie, wenn ihre Länder zerstritten sind, oder wenn Putin mit einem Atomkrieg droht? Sprechen sie den Krieg an? Am 20. November feierte die ISS ihr 25-jähriges Bestehen. Es stellt sich die Frage, wie weit sie sich von den internationalen Idealen entfernt hat, die in ihrem Namen enthalten sind. 2014 war die Raumstation sogar für den Friedensnobelpreis nominiert. Doch wie steht es um die Partnerschaft zwischen Russland und dem Westen dort oben heute? Gleicht sie eher einer dieser unglücklichen Ehen, aus denen beide Parteien gerne aussteigen würden, aber durch die Umstände feststecken?Um diese Fragen zu beantworten, muss man mit dem Anfang beginnen, der Raumstation selbst. Was ist sie genau? Und wofür ist sie da?Die Geschichte der Internationalen RaumstationKurz gesagt sei die ISS dazu da, unser aller Leben auf Erden besser zu machen, erklärt Charles Bolden, ein rüstiger 77-jähriger früherer Astronaut und Nasa-Chef von 2009 bis 2017. Selbst er lächelt angesichts der Größe dieser Behauptung. „Ich weiß, das kling ziemlich nach Apple-Pie-Amerika“, sagt er, „aber es ist eine Tatsache.“ Die 16 Druckmodule, aus denen die Station heute besteht, sind für einen zentralen Zweck konzipiert: Sie sollen ein dauerhaft bewohntes Labor im Orbit sein. Über die Jahrzehnte wurden unter diesen einzigartigen Bedingungen der Schwerelosigkeit tausende Experimente durchgeführt. Begeistert beginnt Bolden, die lebensrettenden Ergebnisse aufzuzählen, wie etwa die Entwicklung von Proteinkristallen, die zur Entwicklung moderner Krebsimpfstoffe beigetragen habe.Die ISS international anzulegen, sei eine „Frage der Notwendigkeit“ gewesen, meint Bolden. Unter der Regierung des früheren US-Präsidenten Ronald Reagan war die Station ursprünglich als Projekt namens „Freedom“ (Freiheit) geplant. Es erwies sich aber als zu teuer und wurde trotz mehrerer Entwurfsveränderungen niemals gebaut. Anfang der 90er Jahre brach die UdSSR zusammen und in Russland herrschte Chaos. Doch Russland kannten sich mit Raumstationen aus: Zu Sowjetzeiten hatten sie sieben davon gebaut, angefangen mit der Saljut 1 im Jahr 1971. Es war also eine hervorragende Gelegenheit, russisches Know-how und Mitarbeiter:innen zu nutzen und gleichzeitig Milliarden Dollar zu sparen.Präsident Bill Clinton setzte sich stark für das Projekt ein, das nun in Internationale Raumstation umbenannt wurde. Er begründete es damit, dass er durch die Einbeziehung Russlands der jungen Demokratie helfen würde. „Wir nahmen sie an Bord, um sie davon abzuhaltent, sich schlechter zu verhalten als zuvor“, sagte Bolden, die Ironie bemerkend. Weniger offen diskutiert wurde das Motiv, russischen Raketeningenieur:innen einen bezahlten Arbeitsplatz in Russland zu verschaffen, bevor sie am Ende im Iran oder in Nordkorea Raketen bauen würden. „Es war ein Fall von ,die Freunde nah bei dir behalten und deine Feinde noch näher.‘“Durch die Verbindung exklusiver Bereiche des US-amerikanischen und russischen Know-hows schufen die beiden größten Partner effektiv ein von beiden Partnern abhängiges System. „Es ist ein einziges integriertes Raumschiff“, erklärt der ISS-Biograph Jay Chladek. „Stellen Sie sich vor, zwei Menschen würden je ein Haus bauen und es zu einem Doppelhaus zusammenfügen.“ Die Russen bringen den Antrieb und die Höhenkontrolle mit, um sie in der Umlaufbahn zu halten, sowie den Treibstoff, um diese Systeme zu versorgen. Die US-Amerikaner kümmern sich um die interne Stromversorgung und andere Systeme. Diese Arbeitsteilung wurde beibehalten, als die Raumstation Modul um Modul wie beim Bauen mit Legosteinen zu der gewaltigen technischen Leistung heranwuchs, die sie heute ist – ein Monstrum, das auf der Erde fast so viel wiegen würde wie zwei Freiheitsstatuen.Dabei gab es in dieser Verbindung nicht nur Russ:innen und Amerikaner:innen. Es war und ist die größte und ehrgeizigste Zusammenarbeit im Weltraum, die es je gab. Insgesamt sind fünf Raumfahrtorganisationen beteiligt, darunter Esa, die 22 Länder repräsentiert. In den ISS-Verträgen ist eine Klausel enthalten, die es jeder Agentur erlaubt, sich mit einer Kündigungsfrist von einem Jahr von der Raumstation auszuklinken, dagegen gibt es keine Klausel, die es erlaubt, andere rauszuwerfen. Wenn man all diese gegenseitigen Abhängigkeiten einbezieht, wird klar, warum es sehr schwierig ist, das Programm aufzugeben. „Wollte man eine Scheidung“, erklärt der unabhängige russische Weltraumreporter Anatoly Zak, der heute in den USA lebt, „kann man sie nicht durchziehen, ohne die Raumstation zu verlieren.“ Und das würde laut Bolden bedeuten, „ein Kronjuwel“ zu verlieren, dessen Nutzen für die Menschheit „viel größer ist als die Beziehung zu irgendeinem Land“.Aus diesem Grund bleibt sie von Sanktionen ausgenommen. „Wir brauchen einander, um zu funktionieren“, erklärt Gatens. Die Crew-Mitglieder trinken sogar den Urin der anderen – nachdem er wiederaufbereitet worden ist. „Er wird zu über 90 Prozent wiederverwertet“, sagte Hoburg kürzlich gegenüber Reportern. „Es schmeckt tatsächlich sehr gut.“Der Chef der russischen Raumfahrtagentur droht, die ISS zu zerstörenAuch wenn die Ehe noch hielt, wurde sie am 24. Februar 2022 brutal getestet. Nur wenige Stunden nach Russlands Invasion in der Ukraine drohte der volkshetzerische Chef der russischen Raumfahrtagentur, Dmitri Rogosin, – ein Mann, der unablässig behauptete, dass Alaska immer noch zu Russland gehört –, die ISS zu zerstören.Als US-Präsident Joe Biden Sanktionen gegen die russische Raumfahrtindustrie ankündigte, antwortete Rogosin am gleichen Tag auf Twitter darauf. Er warf dem US-Präsidenten vor, unter Alzheimer zu leiden. Eine Blockade der Zusammenarbeit könne bedeuten, dass die „500-Tonnen“ Raumstation in eine „unkontrollierte Umlaufbahn eintreten und auf die USA oder Europa stürzen könnte. Die ISS fliegt nicht über Russland. Das ganze Risiko liegt also bei Ihnen. Sind Sie bereit dafür?“ So verrückt es auch schien: Rogosin drohte, den Stöpsel aus dem System zu ziehen, das die ISS oben im All hält – und sie ihrem Schicksal zu überlassen.Die Nasa und ihre westlichen Partner ignorierten ihn und bekräftigten, dass sie den Betrieb fortsetzen wollten. „Wir beachteten die Tweets von Herrn Rogosin nicht“, erklärte Frank De Winne, Leiter des Astronautenzentrums der Esa in Köln, das für die Auswahl und Ausbildung der europäischen Astronaut:innen zuständig ist. „Es war eine sehr unruhige Zeit“, erinnert sich Gatens. „Wir taten unser Bestes, um die Beziehungen normal zu halten, von Experte zu Experte, von Programmleiter zu Programmleiter ... Wir wollten die Spannung rausnehmen.“Sie wollten das vielleicht, Rogosin dagegen nicht. Er war bereits 2014 von den USA wegen seiner lautstarken Unterstützung der Annexion der Krim sanktioniert worden und Putin ernannte ihn 2018 zum Leiter von Roscosmos. „Er ist groß, er ist laut, er trinkt viel“, beschreibt ihn Virts, der ihn während einer Ausbildungseinheit in Russland kennenlernte. „Er ist Putin hoch zwei“, sagt Zak. „Ein extremer Nationalist, der dafür bekannt ist, den Hitlergruß zu machen.“Provokationen durch Roscosmos, auch auf der ISS, nehmen zuUnd so hörten die Provokationen nicht auf. Neun Tage nach der Invasion erschien ein offenbar von Roscosmos erstelltes Fake-Video auf Telegram, das mit dem Logo der staatlichen russischen Nachrichtenagentur RIA Novosti versehen war. Der stark zusammengeschnittene Clip, eine Mischung aus echten Aufnahmen und computergenerierten Bildern, zeigt zwei russische Kosmonauten, die ihrem US-Kollegen Mark Vande Hei zum Abschied zuwinken, bevor sie in den russischen Teil der Raumstation klettern, die Luken schließen und – unter dem Beifall der Moskauer Missionsleiter – diesen von der restlichen Raumstation abkoppeln und Vande Hei an Bord zurücklassen.Es war ein absurdes und total unpraktikables Szenario. Aber das Video löste einen Aufschrei in den westlichen Medien aus, da Vande Hei nur drei Wochen später mit seinen russischen Kollegen auf die Erde zurückfliegen sollte, nach fast einem Jahr im All. Vande Heis Mutter Mary bezeichnete die ganze Sache als „schreckliche Androhung“ und sagte einem Reporter: „Wir beten gerade sehr viel“. Roscosmos behauptete, das Video sei nur ein Scherz gewesen und brachte Vande Hei wie geplant mit den beiden Kosmonauten zurück. Auf einer Pressekonferenz nach seiner Landung erklärte der Astronaut, seine „russischen Besatzungskollegen waren, sind und bleiben sehr gute Freunde von mir“. Roscomos' internationale Partnern jedenfalls fanden die Sache nicht witzig. Vande Heis Mutter ging es vermutlich genauso.Es sollte noch mehr kommen. Bei einem Weltraumspaziergang im darauffolgenden Monat entfalteten zwei Kosmonauten eine russische Siegesfahne, um angeblich an den Sieg über den Nationalsozialismus im Jahr 1945 zu erinnern, eine unverhohlene hetzerische Geste angesichts der Tatsache, dass Russland den aktuellen Krieg mit der Entnazifizierung der Ukraine begründet. Im Juli machten dann alle drei russischen Kosmonauten auf der Station Selfies mit den Flaggen der selbsternannten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk. Roscosmos bezeichnete die russische Eroberung der Region Luhansk als „einen Tag der Befreiung, der auf der Erde und im Weltraum gefeiert werden sollte“.Das war der Punkt, an dem der Nasa der Geduldsfaden riss. Die Agentur verurteilte die Nutzung der ISS zur Unterstützung des Krieges und erinnerte Rogosin daran, dass dies „grundlegend unvereinbar mit der Hauptfunktion der Station“ sei, nämlich der Förderung der Wissenschaft zu friedlichen Zwecken. Verglichen mit den gewöhnlichen diplomatischen Maßstäben der Nasa war dies wie das Zurückwerfen einer Atombombe. „Normalerweise“, erläuterte Gatens, „versuchen wir, keinerlei politischen Brände weiter anzufachen“. Doch die Erklärung erreichte ihr Ziel. Acht Tage später wurde Rogosin entlassen. „Er hat das russische Raumfahrtprogramm in Richtung Abgrund gefahren“, meint der amerikanische Raumfahrtreporter Eric Berger. Und dabei seinen Chef ernsthaft verärgert. „Nur Putin darf Brandreden halten“, sagt Cathleen Lewis, Kuratorin für internationale Raumfahrtprogramme an der Smithsonian Institution. „Und Rogosin hatte Putin im Putin-Sein übertrumpft.“Rogosin wurde durch Juri Borisow ersetzt, einen früheren Vize-Premierminister und genauso farblos wie Rogosin es nicht war – jedenfalls niemand, bei dem mit Brandreden zu rechnen ist. Die Lage sei „jetzt sehr viel stabiler“, berichtet Gatens mit spürbarer Erleichterung. Aber das wirklich Interessante daran ist, dass die Beziehung trotz Rogosins Drohungen hielt. Die Einsatzleitungen in Houston und Moskau kommunizierten weiter miteinander. Die Nasa unterhielt weiter Mitarbeiter:innen in Russland und ihre Astronaut:innen hatten weiterhin einen Sitzplatz an Bord des bewährten russischen Raumschiffs Sojus, das zur ISS und zurück fliegt. Im Rahmen eines neuen Sitzabkommens flogen dafür russische Kosmonaut:innen in einem der Crew Dragons von Elon Musk mit, einem hochmodernen Raumschiff, das erst 2020 in Betrieb genommen wurde. Im Oktober 2022 beförderte es seine erste Russin, Anna Kikina, von Cape Canaveral aus zur RaumstationWas Rogosin betrifft, so verbrachte er die folgenden arbeitslosen Monate damit, in Militäruniformen für seinen Telegram-Account zu posieren. Bei seiner 59. Geburtstagsfeier in einem Restaurant in Donezk im Dezember 2022 explodierte eine ukrainische Granate und verletzte ihn schwer. Kürzlich lief er wieder zu alter Form auf, indem er den Wahrheitsgehalt der Apollo-Mondlandungen in Zweifel zog. Aber die Raumstation hat überlebt.Die Kommunikation zwischen den Crews kommt zum ErliegenSoweit die Partnerschaft. Aber wie sieht es mit den Beziehungen der Crews untereinander aus? Nehmen wir zuerst die Russ:innen. „Ich weiß“, sagt Berger, „dass viele der Kosmonaut:innen mit dem Krieg sympathisieren.“ Virts früherer Kollege Samokutjajew wurde nicht als einziger Kosmonaut sanktioniert. Viele sind aus dem Militär hervorgegangen und hören nur eine Seite der Geschichte. „Einige von ihnen haben eine komplette Gehirnwäsche hinter sich. Es ist einfach verrückt“, ist der Eindruck des früheren Nasa-Raumstationskommandanten Scott Kelly. Er gab seine russische Raumfahrtmedaille nach der Invasion entrüstet zurück.Hier ist ein Beispiel aus dem vergangenen Mai: Oleg Novitzki, ein früherer Kampfpilot und dreifacher ISS-Veteran zwischen 2012 uns 2021, wurde von Putin persönlich mit dem Orden für Verdienste um das Vaterland ausgezeichnet. „Zu allen Zeiten“, so Nowizki, „haben unsere Feinde, meist westliche, versucht, unser Land zu erobern und unser Volk zu versklaven.“ Daraufhin bot er an, an der Front zu kämpfen, und das im Alter von 51 Jahren. Ebenfalls ausgezeichnet wurde sein Kosmonauten-Kollege Pjotr Dubrow, der verkündete, dass „heute die Masken fallen. Der westliche Nazismus hat der Welt sein wahres Gesicht gezeigt“.Es mag überraschen, dass Nowizki und Dubrow dieselben „guten Freunde“ sind, mit denen Vande Hei seine Zeit in der ISS verbrachte. Aber was zählt, ist, wer zuhört. „Diese Vorfälle sind sicher provokativ“, erklärt Lewis, „aber an ein Publikum auf der Erde gerichtet, nicht an ihre Kolleg:innen in der Raumstation.“ Und es gibt einige Kosmonaut:innen, die den Krieg anders sehen; sie sagen es nur nicht, weil es zu gefährlich ist. Alle acht westlichen Astronaut:innen, die ich befragte, hörten im Prinzip auf, mit russischen Kolleg:innen zu sprechen, oder, bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen sie das tun, niemals über Politik. Unter anderem auch, weil es die Russ:innen in Gefahr bringen könnte. „Die Leute zeigen sich gegenseitig an. Ich möchte niemanden in Gefahr bringen“, sagt Kelly. Aus dem gleichen Grund hat sich kein:e einzige:r Astronaut:in offen gegen den Krieg ausgesprochen. Nur einer, Gennady Padalka, der den Rekord von 879 Tagen im Weltraum aufstellte, machte in der inzwischen verbotenen Zeitung Nowaja Gaseta einen leicht skeptischen Kommentar. Das war 16 Tage nach der Invasion. Seither hat er sich nicht mehr geäußert.Öffentlich wird die Situation zwischen den Crew-Mitgliedern nicht besprochenVersucht man, mit Raumfahrtagentur-Insider:innen über die Auswirkung des Kriegs auf die aktuelle Crew zu sprechen, schlägt einem fast körperliche Abwehr entgegen. „Das ist keine leichte Aufgabe, das kann ich Ihnen sagen“, wiegelt De Winne ab. Er wählt seine Worte vorsichtig. Es sei „keine Verschlechterung der Dynamik unter der Crew“ zu beobachten. Es sei aber „extrem stressig für unsere Crews, unter diesen Umständen dort oben zu sein“. Längere Zeit in einer beengten Umgebung zu leben, ist sowieso hart, fügt er hinzu. 2009 selbst Commander der Raumstation weiß er, wovon er spricht. Aber der Krieg füge „noch eine Schicht Unbehaglichkeit hinzu“.Sehr wenige aktive Astronaut:innen geben öffentlich zu, wie sich diese zusätzliche Belastung anfühlt. Vande Hei ist einer davon. Auf der Pressekonferenz nach seiner Rückkehr im April 2022 bezeichnete er den Krieg als „herzzerreißend“. Alle seine Besatzungskolleg:innen, einschließlich der Russ:innen, hätten sich „machtlos“ gefühlt. Sie hätten darüber gesprochen und dann mit ihrer Mission weitergemacht. Sein deutscher Kollege Matthias Maurer, der einen Monat später zur Erde zurückkehrte, beschrieb, er habe „riesige Rauchwolken über Städten wie Mariupol“ und Raketeneinschläge in Kiew gesehen. „Wir haben das Problem sehr schnell und proaktiv angesprochen. Alle sechs, sieben von uns waren sofort der gleichen Meinung, dass es eine schreckliche Situation ist. Wir waren alle geschockt, die russischen Kolleg:innen, die amerikanischen Kolleg:innen – niemand konnte verstehen, was da unten passierte.“Doch Vande Hei und Maurer sind Ausnahmen. Bei Pressekonferenzen liegt der Fokus auf der Mission, nicht dem Krieg; jegliche Fragen zu “Crew-Dynamiken” werden kurz abgehandelt und dann wie Fliegen beiseite gescheucht. Als ich De Winne kürzlich fragte, ob ich mit Maurer oder anderen Mitgliedern seines Astronautenteams, die kürzlich in der ISS waren, sprechen könnte, war fast zu hören, wie die Klappe fiel. Wiederholte Anfragen in den folgenden Wochen führten auch zu keinem Ergebnis. Bei der Nasa das Gleiche: keiner der Astronaut:innen ist verfügbar. Aber ich gab nicht auf.Astronaut:innen in Rente sind gesprächigerUnterdessen nahm ich mit Astronaut:innen vorlieb, die nicht mehr arbeiten und daher weniger Beschränkungen unterworfen sind. Dabei kristallisiert sich ein Verhaltensmuster heraus: Diejenigen, die auf der ISS arbeiten, sind auf unvermeidliche Weise durch einen gemeinsamen Zweck verbunden, die Leidenschaft, die sie teilen. „Der Krieg ist ein Elefant auf der Station“, erklärt Thirsk, „aber die russischen Kosmonaut:innen sind den westlichen Astronaut:innen in vielerlei Hinsicht sehr ähnlich. Wir alle träumen, seit wir jung sind, davon, ins All zu fliegen. Wir sind alle Geeks. Und nach ein paar Tagen oder Wochen verliert die Nationalität an Bedeutung – sie tritt im eigenen Gehirn in den Hintergrund.“Diese Verbundenheit wird weiter verstärkt durch die Gefahren, denen die Astronaut:innen gemeinsam trotzen. Im Juli 2015 hatten Kelly und seine beiden russischen Besatzungsmitglieder nur 90 Minuten Zeit, sich in ihrer Sojus-Rettungskapsel zu verstecken, als ein Hagel von Weltraumtrümmern an der Station vorbeiflog. „Man ist regelrecht voneinander abhängig, um zu überleben.“Das war kein Einzelfall. Da sich immer mehr Weltraummüll und Satelliten in der niedrigen Erdumlaufbahn befinden, muss die ISS fast jedes Jahr ausweichen, um Zusammenstöße zu vermeiden. Im November 2021, nur drei Monate vor der Invasion, waren alle sieben Crew-Mitglieder – darunter zwei Russen – gezwungen, in ihren Fluchtkapseln Schutz zu suchen, nachdem 1500 nachweisbare Trümmerteile von einem russischen Anti-Satelliten-Raketentest die Raumstation bedroht hatten. Glücklicherweise trafen sie nicht – aber dieses Trümmerfeld kommt immer mal wieder zurück.Selbst Virts, der das gemeinsame Fliegen von Russ:innen und Amerikaner:innen im All für einen „Skandal“ hält, räumt ein, dass die Dinge anders liegen, sobald man oben ist. „Politik ist Politik. Wir werden die Politik nicht ändern. Lasst uns daher versuchen, nicht im Vakuum des Weltraums zu sterben. Lasst uns als Crew zusammenarbeiten.“Auf diese Fähigkeit wird bereits im Auswahlverfahren großen Wert gelegt. Von den fast 23.000 Astronautenbewerbungen, die im vergangenen Jahr bei der Esa eingingen, wurden die Kandidat:innen zum Teil wegen ihrer „Stressresistenz“ ausgewählt, wie De Winne es nennt. Um diese Widerstandsfähigkeit weiter zu stärken, hat die Nasa verschiedene Trainingstricks in der Schublade. Einer davon ist das Nasa Extreme Environment Mission Operations (Neemo), ein Unterwasser-Lebensraum auf dem Meeresgrund vor der Küste Floridas. Dort lernen die Astronaut:innen-Trainees, miteinander auszukommen, ohne sich gegenseitig die Augen auszustechen. Ein anderes Beispiel sind die anstrengenden Teamexpeditionen, die von der US National Outdoor Leadership School in der amerikanischen Wildnis durchgeführt werden.Der frühere Nasa-Flugingenieur Steve Swanson nahm an einer solchen Expedition teil und hat die dort gelernten Lektionen nie vergessen. Sein zehntägiger Aufenthalt auf einer Insel im nordwestlichen Pazifik sollte sich als entscheidend erweisen, nachdem er im März 2014 mit zwei russischen Besatzungsmitgliedern in einem Sojus-Raumschiff an die ISS angedockt hatte. Sie kamen dort nur wenige Tage nach Putins Annexion der Krim an. Es wurde unangenehm, als einer der russischen Kosmonauten Swanson erzählte, sein russischer Bruder sei aus der Ukraine herausgeworfen worden. Immer wieder bestand Aleksandr Skvortzow darauf, dass die Ukrainer Nazis und Hooligans seien. „Er war wirklich sehr aufgebracht“, erzählt Swanson. „Aber ich sagte ihm nicht, was ich dachte, weil es die Lage nicht verbessert hätte. Ich ließ ihn reden, weil er sich Luft machen musste.“Solche Geschichten sagen auch etwas über das Leben auf der Station heute. Aber ich hoffte immer noch auf eine:n Augenzeug:in, die seit der Invasion dort war. Und dann fand ich Mike López-Alegría, der schon länger Astronaut ist, als es die ISS gibt. Zum ersten Mal flog er im Jahr 2000 mit der Space Shuttle dorthin und dann noch einmal 2002 und 2006-7. Zu diesem Zeitpunkt hatte er zehn Weltraumspaziergänge absolviert, mehr als jede:r andere US-Astronaut:in damals. „Es ist eine fantastische Erfahrung, ein menschlicher Satellit zu sein“, berichtet er voller Ehrfurcht. „Du bist da draußen, du hast diesen Schutzanzug an, der ein Juwel der Ingenieurskunst ist, der dir erlaubt, unter nicht überlebbaren Bedingungen zu existieren … Es hat minus 200 Grad Fahrenheit (-129 Grad Celsius), es hat plus 200 Grad Fahrenheit (93 Grad Celsius), es ist ein Vakuum, es ist voller Strahlung. Es ist sehr aufregend. Ich würde es jederzeit wieder tun.“Mike López-Alegría kehrt nach Kriegs-Ausbruch auf die ISS zurück2012 hörte López-Alegría bei der Nasa auf. Aber im vergangenen Jahr war er im Alter von 63 Jahren zurück in der Raumstation. Er arbeitete für Axiom, ein aufsteigendes Unternehmen in der schönen neuen Welt der Raumfahrtindustrie. Die Firma plant, von 2025 an die erste kommerzielle Raumfahrtstation zu bauen, unter anderem mit einer Innenausstattung designt von Philippe Starck. López-Alegrías Aufgabe war es, drei private Astronauten (oft als „Weltraumtouristen“ bezeichnet), Larry Connor, Mark Pathy und Eytan Stibbe, zur ISS zu begleiten. López-Alegría wollte sich nicht auf einen Preis pro Sitzplatz festnageln lassen, aber 50 Millionen Dollar und mehr seien „in der richtigen Größenordnung“. Sie kamen am 9. April 2022 auf der ISS an, nur sechs Wochen nach der russischen Invasion. Und da er nicht mehr für die Nasa arbeitet, kann López-Alegría darüber reden.Er war 15 Tage oben. Ihm fiel nicht nur auf, wie viel sich seit 2007 verändert hatte – „Überall ist Zeug, alles ist voll mit Laptops und Kabeln.“ – sondern auch, dass keiner der ISS-Bewohner (drei Amerikaner, drei Russen und der deutsche Astronaut Maurer) den Krieg erwähnten. „Was auch immer da passierte, passierte nicht“, beobachtete er. „Es war, als würde überhaupt nichts Derartiges auf der Erde vor sich gehen.“ Da er sich als Gast betrachtete, brachte López-Alegría das Thema nie auf den Tisch. „Warum sollte man die Harmonie stören? Ich denke, man lässt es besser.“Auch nicht mit den amerikanischen Kollegen? López-Alegría hielt kurz inne. „Ich glaube, manchmal sprachen wir darüber, dass wir nicht darüber sprechen.“ Unterdessen waren die Russen „außerordentlich freundlich“. An den beiden Samstagabenden, an denen sie oben waren, trafen sich alle zum Filme gucken. Sie sahen „Die Braut des Prinzen“ und „Salyut 7“, einen russischen Film, frei nach der wahren Geschichte über eine beschädigte sowjetische Raumstation, die die Amerikaner während des Kalten Krieges zu entführen versuchen, (was ihnen aber nicht gelingt). Wie ironisch die Wahl dieses Films auch war, niemand sprach es offen aus. Am orthodoxen Osterfest luden die russischen Kollegen sie ein, an den Feierlichkeiten teilzunehmen. Es gab Dessert und russischen Tee und Oleg Artemjew machte ihnen kleine Geschenke – besondere Kekse, die seine Frau gebacken hatte. „Es war sehr nett“, erinnert sich López-Alegría. Die Russen ließen sie sogar ihre Toilette benutzen, als die amerikanische kaputt war. Tatsächlich war sie zweimal kaputt.Nichts an López-Alegrías Geschichte widerspricht den Eindrücken, von denen mir bereits zuvor erzählt wurde. Aber jetzt kommt es. Nur vier Tage nachdem er am 24. April die ISS wieder Richtung Erde verlassen hatte, waren es zwei dieser Kosmonauten, nämlich Denis Matweew und Artemjew (der mit den selbst gebackenen Keksen), die auf ihrem Weltraumspaziergang die hetzerische russische Sieges-Fahne ausrollten. Und alle drei Russen der ISS-Besatzung posierten im Juli mit den Flaggen von Donezk und Luhansk. Vielleicht ist es wieder das Publikum zuhause, das zählt. „Aber es machte mich traurig“, erzählt López-Alegría, „weil diese Männer machen müssen, was man ihnen sagt.“ Dann fügt er hinzu: „Ich möchte nicht darüber spekulieren, was sie persönlich über das Thema denken. Aber selbst wenn sie voll hinter dem Krieg stehen: Ich glaube, es geht nicht an ihnen vorbei, dass es nicht passend ist, diese Plattform für diese Art der Botschaft zu nutzen.“Ich weiß nicht, ob die ISS ein Symbol ist. Aber sie ist das beste Vorbild dafür, wie wir uns alle auf dem Boden verhalten sollten.Alle in der kleinen Astronauten-Community, mit denen ich sprach, verspüren diese Traurigkeit. Auch Swanson ist gemeinsam mit Artemjew geflogen und erinnert sich an ihn als „einen wunderbaren Menschen, den nettesten Kerl. Aber man weiß nie, was dort vor sich geht“.Unterdessen endete jeder meiner Versuche, für diesen Artikel mit eine:r russischen Kosmonaut:in zu sprechen, an verschlossenen Türen. Ein russischer Raumfahrt-Insider, der es vorzieht, anonym zu sprechen, sagte mir offen: „Ich kenne keine Person in Russland, die in diesen Tagen offen sprechen würde. Es ist die falsche Zeit. Glauben Sie mir. Das Land ist mit anderen Problemen beschäftigt.“Dann, endlich, durch einen Freund von einem Freund, fand ich doch noch jemanden. Alexander Misurkin ist dreimal in der ISS mitgeflogen. Das letzte Mal 2021, seine Rückkehr war nur zwei Monate vor der Invasion. Ich weiß nicht, wo er politisch steht, und wir halten aus unserem Gespräch über Zoom, das ziemlich sicher überwacht wird, die Politik heraus. Tatsächlich dreht sich ein Teil des Gesprächs auf eine etwas surreale Weise um seine Liebe zum Badminton. Er spricht begeistert von seiner Karriere im Weltraum und seine Zuneigung zu seinen Crew-Kolleg:innen wirkt sehr echt. Und je mehr wir reden, desto mehr fällt mir auf, dass unsere Interaktion merkwürdig die der Crews spiegelt: ein Gepräch über Sport, Familie, den Job, alles andere, aber keine Politik. Dann erzählt er eine Geschichte, die ihn bis zum heutigen Tag verfolgt.Im Jahr 2013 befand sich der italienische Astronaut Luca Parmitano auf einem Weltraumspaziergang, als sich plötzlich sein Helm durch eine undichte Stelle mit Wasser zu füllen begann. Misurkin war in der Raumstation, während der Notfall draußen im All schnell gefährlich wurde. Das Wasser stieg an Parmitanos Gesicht nach oben. „Er versank fast in seinen Raumanzug.“ Irgendwie schaffte er es aber, durch die Luftschleuse zurück an Bord – „Ich finde es bis heute unglaublich, wie er das hingekriegt hat“ – und alle, Russ:innen wie Amerikaner:innen, kamen sofort zusammen, um seinen Helm abzuziehen, ihn zum Atmen zu bringen und sein Leben zu retten. „Es war die gefährlichste Situation in meiner ganzen Raumfahrtlaufbahn“, erzählt Misurkin. „Gott sei Dank lebte er.“ Er hält einen Moment inne, um das Drama noch einmal zu durchleben. Und dann sagt er sehr bewegt: „Ich weiß nicht, ob die ISS ein Symbol ist. Aber sie ist das beste Vorbild dafür, wie wir uns alle auf dem Boden verhalten sollten.“Russland kann schon lange keine Erfolge mehr in der Raumfahrt feiernWenn es das ist, dann ist es alles, was Russland noch hat. Während die USA und ihre Alliierten sowie China die Entwicklung neuer Raumstationen, eine erneute Expedition zum Mond und schließlich zum Mars vorantreiben, ist die 25 Jahre alte ISS heute Russlands einziges echtes bemanntes Raumfahrtprogramm. Das ist ein Resultat von Putins schrecklichem Krieg. Sanktionen und Isolierung bewirkten den Rest. Die Technik altert, das Geld geht aus, die Geräte sind manchmal defekt. Und ein Schlag folgt auf den anderen. Erst Mitte August stürzte Luna-25, die erste russische Sonde, die seit fast einem halben Jahrhundert auf den Mond geschickt wurde, auf dessen Oberfläche ab. Nur vier Tage später landete eine indische Sonde erfolgreich.Innerhalb des vergangenen Jahres hatten zwei der russischen Raumschiffe, die an der ISS andockten, beunruhigende Probleme mit Kühlmittellecks in den gleichen Systemen, was ernste Produktionsmängel auf der Erde vermuten lässt. Und wie ich selbst Ende 2019 beobachten konnte, ist die Abflugstation in Baikonur in Kasachstan, von dem aus Juri Gagarin 1961 seinen Geschichte machenden Flug antrat, sichtbar am Verfallen, mit seinen verblassten sowjetischen Wandbemalungen und verwilderten streunenden Hunden.Es gab eine Zeit, da die Welt die Nation bestaunte, die den ersten Menschen ins Weltall schickte. Aber die Welt hat sich weitergedreht. Die Russen reden davon, ihre eigene Raumfahrtstation zu bauen oder zum Mond zu fliegen oder mit China zusammenzuarbeiten. Aber wie Zak es formuliert: „Das zentrale Wort ist reden. Russland hat nichts. Ohne die ISS hat Russland nichts, wo es hingehen könnte.“Unterdessen dreht die Station weiter tapfer ihre Runden, die erste und vielleicht letzte große Zusammenarbeit ihrer Art. Und außer Putin tut etwas wirklich Dummes – in welchem Fall, wie Gatens trocken erklärt, „unsere Regierung definitiv ein paar Gespräche führen wird“ – wird die ISS wie geplant ihre letzten paar Jahre dort oben verbringen und elliptische Umlaufbahnen des Planeten erstellen, während die Männer und Frauen an Bord ihre Experimente machen, essen, schlafen, zusammen Filme gucken, Feiertage gemeinsam feiern, die Aussicht genießen, vermeiden, über Politik zu reden, und im Notfall aufeinander aufpassen.In einer klaren Nacht kann man die ISS sogar am Himmel entdecken: ein leuchtender Stern, der sich stetig von West nach Ost bewegt, während seine vielen Sonnenkollektoren das Sonnenlicht unter dem Horizont einfangen, eine moralische Schande für manche, ein Hoffnungsträger für andere. Aber unbestreitbar erstaunlich.
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