Die Türkei wird seit 2002 von einer Partei regiert, die Tag für Tag totalitärer wird und ihre Macht dadurch festigt, die Opposition mundtot zu machen. Der Vorsitzende der Regierungspartei kündigt mit der Wahl vom Sonntag quasi an, dass er das parlamentarische System abgeschafft hat.
Wir Frauen sind angesichts einer von Männern beherrschten, autoritären Regierung, die auf Nationalismus und Religion baut, besorgter denn je. Zumal der Staatspräsident, der sich anschickt, Vertreter aller islamischen Staaten zu werden, sich als Verbündete die extrem nationalistische MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) gewählt hat. Die Zahl der Frauenmorde in der Türkei hat sich in der 16-jährigen AKP-Herrschaft um 1.400 Prozent gesteigert. Ungleiche Repräsentation, sexistische Diskriminierung im gesellschaftlichen und kulturellen Leben und im Beruf, eine Sprache, die Frauen eine bestimmte Rolle in der Familie zuweist, Gesetze im Strafrecht, die Gewalt und Missbrauch relativieren und tolerieren, sind an der Tagesordnung.
Der stark beschnittene Einfluss des Parlaments bedeutet, dass unsere politischen Repräsentantinnen ihrer Handlungsfähigkeit beraubt werden. Während Frauen nach den Wahlen im Juni 2015 durch 97 Abgeordnete (17,6 Prozent) vertreten waren, sank diese Zahl nach der ebenfalls 2015 unter widrigen Bedingungen abgehaltenen nächsten Abstimmung auf 76. Diesmal sind nur 84 weibliche Abgeordnete im Parlament vertreten, obwohl die Gesamtzahl seiner Mitglieder von 550 auf 600 stieg.
Die HDP (Demokratische Partei der Völker) ist die einzige Partei, in der sowohl auf Führungsebene als auch in der Parlamentsfraktion eine Frauenquote gilt. Doch neben der ehemaligen Co-Vorsitzenden sitzen mehrere Parlamentsvertreterinnen und Bürgermeisterinnen der HDP nach wie vor in Haft.
Aufgrund des Einflusses der sozialistischen Frauen in der HDP wie auch der weltweit beachteten, säkularen kurdischen Frauenbewegung ist es abzusehen, dass die weiblichen HDP-Mitglieder ihre Positionen und Bereiche nicht mehr so leicht wieder an Männer abtreten werden. Wie feministische Politik inner- und außerhalb des Parlaments im neuen System angesichts der Repressalien aussehen wird, kann man sich aufgrund der bisherigen militanten Bestrebungen vorstellen. Fest steht auch, dass bloße Parlamentsvertretung nicht ausreichen wird.
Das monistisch autoritäre Regime wird danach trachten, alle Lebensbereiche zu durchdringen – dabei wird es sich zuerst Frauen und Kinder vornehmen. Da seit über zwei Jahren ein Ausnahmezustand herrscht, in dem eine Reihe von Rechten entweder eingeschränkt oder ganz abgeschafft wurde, und von dem niemand weiß, wann er wieder aufgehoben wird, kann ich mein gegenwärtiges Gefühl nur als tiefe Sorge, ja als darüber hinausgehende Angst beschreiben. Ich kann wahrlich nicht einschätzen, wozu die durch Wahl und Verfassungsreform gestärkte Staatsmacht imstande ist, die jetzt schon in unser Privatleben eindringt und über die Erziehung unserer Kinder, über unsere Kleidung, über unser Verhalten auf der Straße oder unsere Jungfräulichkeit bestimmen will. Ich weiß nicht, wie wir uns vor „seinem“ Volk schützen sollen. Ich bin zutiefst besorgt.
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