„Wir sind auf TikTok? Was ist Tiktok?“ Vergessene Bands, die dank Gen Z trenden
Musik In die Jahre gekommene Bands gehen viral – und finden sich plötzlich in großen Konzerthallen oder sogar als Soundtrack des ukrainischen Widerstands wieder. Aber wie knüpft man an einen Hit an, den sich keiner erklären kann?
Keiner weiß, warum manche alte Songs auf Social Media plötzlich viral gehen
Foto: Imago/Fotoarena
Wie für die meisten Musiker verlief das Jahr 2020 für Ryan Guldemond von der kanadischen Indieband Mother Mother außergewöhnlich ruhig. Doch gegen Ende des Jahres fiel dem Frontman der Band auf, dass plötzlich die Lieder ihres 2008 erschienenen Albums O My Heart auf Streamingplattformen durch die Decke gingen. Tag um Tag stiegen die Zahlen. Etwas sehr Merkwürdiges ging da vor sich. „Es ließ sich dann auf TikTok zurückführen. Unsere Reaktion war: Okay …, ‚und was ist TikTok?“, erinnert Guldemond sich. „Da war diese Parallelwelt von Leuten, die gern Mother-Mother-Lieder hörten, die vor langer Zeit geschrieben wurden.“
2008 gelang es Mother Mother weder, einen ihrer Songs ins Radio zu bringen noch ein bedeute
en noch ein bedeutendes internationales Publikum zu erreichen, so Guldemond: „Man nennt es den kanadischen Fluch: Erfolgreich in Kanada, aber den Sprung nach draußen schafft man nicht.“ Die Band gewöhnte sich daran, auf eher bescheidenem Niveau zu arbeiten. Heute hat sie dank TikTok acht Millionen monatliche Hörer:innen auf Spotify – fast doppelt so viele wie ihre prominenteren kanadischen Zeitgenossen Arcade Fire. Mother Mothers Lied Hayloft, eine skurrile Geschichte über Gewalt auf dem Land, wurde mehr als 400 Millionen Mal gestreamt — das ist mehr als jeder Song, sagen wir, von REM, abgesehen vom Megahit Losing My Religion. Während Mother Mother bei ihrem letzten Aufritt in der britischen Hauptstadt London noch im 100 Club vor 350 Leuten spielte, ist die Band Ende Februar dort in der Wembley Arena zu sehen, in die 12.500 Leute passen.Eingebetteter MedieninhaltTikTok ist wie ein fremdes Land: Dort laufen die Dinge anders. Die Beliebtheit auf der Soziale-Medien-Plattform, die es Usern erlaubt, bis zu drei Minuten lange Videos zu erstellen und zu verschicken, katapultierte Miguels Single Sure Thing aus dem Jahr 2011 mehr als zehn Jahre nach der Erstveröffentlichung in die britischen Top 10, machte Edison Lighthouses Hit Love Grows (Where My Rosemary Grows) aus dem Jahr 1970 zu einem Lied, das für die Generation Z zum Kanon gehört, und brachte dem früheren kalifornischen Nischen-Slowcore-Trio Duster mehr monatliche Hörer:innen als den US-amerikanischen Rockbands Sonic Youth und Pavement zusammen ein. Und niemand versteht richtig, warum.Während TikTok ein essenziell für jeden Record-Label-Marketing-Plan ist, lässt sich ein echtes Viral-Gehen nicht steuern – und stellte die konventionelle Weisheit der Musikindustrie, was einen Song zum Hit macht, auf den Kopf. Für ältere Künstler:innen, die einige Jahre von TikToks Kern-Demographie entfernt sind, kann die Reanimation eines Liedes wie ein wunderbares, wenn auch unerklärliches Geschenk der Götter sein. Wie fühlt es sich an, wenn TikTok plötzlich seinen Suchscheinwerfer auf einen richtet, und wie lässt sich dieser glückliche Zufall in ein richtiges Karriere-Revival ummünzen?Im Sommer 2022 beobachteten Jarrod Gosling and Dean Honer vom englischen Electronic-Musik-Duo I Monster, dass ihre 2004 erschienene EP Who Is She? plötzlich ihren einzigen Top-40-Hit Daydream in Blue aus dem Jahr 2001 überholte. Sie erfuhren, dass der Titel durch Top-Influencerinnen wie Charli D’Amelio („Ich hatte noch nie von ihr gehört“, gibt Gosling zu) und Kim Kardashian („Von ihr schon“) einen Höhenflug erlebte. Gruselige Gothic-Grindcore-Musik basierend auf einem Hammer-Horror-Muster, damit erwies sich Who Is She? als perfekt für Makeover-Videos und Fan-Edits von Szenen aus der Netflix-Serie Wednesday. Dank dieses Songs hat das Duo derzeit mehr monatliche Spotify-Hörer:innen als Wolf Alice, Björk oder die Stone Roses. „Der Titel war deshalb keine Single, weil niemand sich dafür interessierte“, erklärt Gosling. „Es dauerte 20 Jahre, bis er bei einer völlig anderen Generation gut ankam.“„Wir tauchten neben Little Simz auf – völlig aus der Zeit gefallen“Daniel Hunt von der Elektro-Pop-Band Ladytron erzählt eine ähnliche Geschichte: Ihr 2002 veröffentlichter Titel Seventeen stellte plötzlich ihren langjährigen Streaming-Champion Destroy Everything You Touch in den Schatten. „Seventeen war schon sehr lange nicht mehr auf unserer Setlist für Konzert“, erzählt er von zuhause in Brasilien aus. „Plötzlich landeten wir damit in den Top 10 der viralen Charts. Es fühlte sich wirklich unheimlich an, weil dieses alte Plattencover neben Songs von Leuten wie der britischen Rapperin Little Simz auftauchte – völlig aus der Zeit gefallen.“ Weil der Synth-Pop-Wiederbelebung des Songs seither von Künstlern wie dem kanadischen R&B Sänger Weeknd normalisiert wurde, nahmen viele Hörer:inenn an, dass Seventeen neu herausgekommen sei. „Dieses neue Publikum hat keinen Sinn für Chronologie“, meint Hunt. „Man wird Teil davon, dass alles permanent vom Augenblick geprägt ist.“Placeholder image-2Was Online-Kultur angehe, sei er ein „klassischer Vater aus dem Viktorianischen Zeitalter“, sagt Tim Rice-Oxley von der Band Keane. Daher habe er gar nicht gemerkt, was mit der Debüt-Single der Band Somewhere Only We Know aus dem Jahr 2004 geschah – bis Keane im vergangenen Sommer auf Festivals spielten. „Nicht, dass wir steinalt wären“, erklärt Rice-Oxley, „aber über 20 Jahre lang haben wir zugeschaut, wie unser Publikum zusammen mit uns älter wurde. Und plötzlich waren da eine Menge deutlich jüngerer Leute. Ich fragte mich, warum. Und man erzählte mir von TikTok.“Man könnte jetzt sagen, dass Somewhere Only We Know das nicht nötig hatte. Seinerzeit ein großer Erfolg und ein verlässliches Highlight der Live-Shows coverte die britische Popsängerin Lily Allen den Song für den jährlichen Weihnachtswerbefilm des britischen Traditionskaufhauses John Lewis 2013. Doch erst vor kurzem fand er Eingang in Spotifys Eliteclub der Titel mit mehr als einer Milliarde Streams. „Der Anstieg war so schnell und so enorm“, erzählt Rice-Oxley noch immer ungläubig. „Vor einigen Jahren hatten wir ein paar Lieder, die alle gleichwertige Mitsing-Songs waren. Aber dieser eine hat ein besonderes Eigenleben entwickelt. Es ist ein Song, den wirklich jeder kennt.“Tim Rice-Oxley von der Band Keane ist es ein Rätsel, warum die Songs beschleunigt werdenAls Rice-Oxley sich zum ersten Mal auf TikTok umschaute, gefielen ihm die zahlreichen Bedroom-Coverversionen, also Eigenproduktionen, die nicht im Studio aufgenommenen wurden. Der Trend, das Original zu beschleunigen verwirrte ihn hingegen. „Mit ist das ein Rätsel“, gibt er zu. „Ich weiß nicht, ob es die Energie des Songs erhöht oder ob die Leute schneller fertig sein wollen. Er klingt leicht entgeistert. „Vielleicht denken sie, das Lied ist so besser.“TikToks Musikgeschmack ist am Nutzen orientiert: Songs gehen normalerweise viral, wenn sie mit einem bestimmten Format oder einer Botschaft verknüpft werden. Manche erhalten durch das Schwarmbewusstsein eine völlig neue Bedeutung. Mother Mothers Hayloft ist mittlerweile eine Art Coming-Out-Hymne für transsexuelle und binäre User:innen, und Tom Odells Hit Another Love aus dem Jahr 2012 ist zum Protestsong geworden, der als Soundtrack für den Widerstand in der Ukraine und im Iran eingesetzt wird. Hunt stellte fest, dass Seventeens bissige Satire über die Modewelt („Sie wollen dich nur, wenn du 17 bist / Wenn du 21 bist, machst du keinen Spaß mehr“) auf TikTok einen unerwarteten Nerv bei jungen Frauen traf. „Bei den meisten geht es darum: ‘Ich bin jetzt 21!’ Aber es gibt auch diese ziemlich düsteren, verstörenden Videos über ihre Probleme und die Erfahrungen, die sie in diesem Alter machen. Wir konnten nur eine gewisse Menge davon ertragen. Wir dachten: Das betrifft nicht uns, das betrifft sie.“TikTok zahlt entsprechend der Zahl an Videos, in denen ein Song verwendet wirdVon TikTok erhalten die Rechteinhaber eine Auszahlung, die sich nicht nach der Popularität der einzelnen Videos richtet, sondern nach der Anzahl der Videos, in denen ein Song verwendet wird. Je mehr Kreativität man also anregt, desto mehr Geld kann man verdienen. I Monster-Musiker Honer, dessen Song in rund 56.000 Videos vorkommt, sagt zu seinem TikTok-Verdienst: „Keine Summe, die mein Leben verändert, aber ein ganz ordentlicher Betrag.“Ernsthafte finanzielle Vorteile ergeben sich, wenn sich die virale Wirkung von TikTok in Streams auf anderen Plattformen und in prestigeträchtigen Live-Buchungen niederschlägt. Die meisten TikTok-User:innen interessieren sich über den viralen Hit hinaus nicht weiter dafür, was Band oder Künstler sonst so macht. Aber wenn auch nur ein kleiner Prozentsatz von Zehnmillionen neuen Zuhörer:innen echte Fans werden, kann das einen enormen Unterschied machen. Fast 20 Jahre nach ihrem letzten Live-Auftritt erhielten I Monster Konzertangebote von Booking-Agenten. Die Band legte Who Is She? neu auf (mit beschleunigten und verlangsamten Versionen) und ließ sich dazu anregen, ein neues Album aufzunehmen. „Die nächste Single heißt Who Is He? “, witzelt Honer.Placeholder image-1Dabei gibt es keine einfache Formel, wie sich der TikTok-Erfolg nutzen lässt. Unterstützt von über zwei Milliarden Spotify-Streams für Another Love kehrte Tom Odell kürzlich mit der Single Black Friday zum ersten Mal seit 2016 in die Top 40 zurück. Dagegen wurde keine der beiden Singles von Miguel, die nach dem viralen Erfolg von Sure Thing herauskamen, ein Hit.Wie den Erfolg nutzen? Mother Mother nahmen den Song „Hayloft II“ auf„Unser Label wollte, dass wir Videos mit ‘Hey Leute, vielen Dank!‘ posten“, erzählt Ladytron-Musiker Hunt. „Und wir sagten: ‘Warum sollten wir in dieses schöne merkwürdige Ding eingreifen, das da geschah? Lass es schön laufen.’ Dann wollten einige große Labels eine Lizenz für den Track übernehmen. Aber wir wollten nicht aktiv für eine 20 Jahre alte Platte werben, sondern uns auf die neue Platte konzentrieren.“Mother Mother dagegen nahmen einen Folge-Song mit dem Titel Hayloft II auf, der bisher 56.000 Videos inspirierte. Guldemond scherzt: „Es wirkt wie etwas, das sich ein Anzugträger ausgedacht hat. Aber ich hielt es für ein fantastisches kreatives Experiment. Der Song erzählt eine Geschichte. Er schreit geradezu danach, fortgesetzt zu werden.“ Vor allem aber stützte die Wiederbelebung von O My Heart das künstlerische Selbstvertrauen der Band. „Es ist das Album, bei dem wir am stärksten das Gefühl hatten, wir selbst zu sein, unbeeinflusst von den Vorgaben der Musikindustrie“, erläutert Guldemond. „Die Tatsache, dass diese Musik bei den Leuten auf Resonanz stieß, ermutigte uns zu dem zurückzukehren, was wir am besten machen.“Fragt man einen Künstler, wie genau das Lied seiner Band viral ging, erhält man eine Version dessen, was der legendäre Drehbuchautor William Goldman einst über die Vorhersehbarkeit des Erfolgs eines Films sagte: Keiner weiß das wirklich. I Monster wissen ebenso wenig, wie D’Amelio auf Who is She? aufmerksam wurde, wie Rice-Oxley erklären kann, warum Somewhere Only We Know in Indonesien erfolgreich wurde. „Meine Eitelkeit lässt mich glauben, dass es ein wirklich guter Song ist, der die Leute anspricht. Aber darüber hinaus verstehe ich nicht, wie es zu einem so einem verrückten Schneeballeffekt kommen konnte“, erzählt er. „Aber sicher versucht jemand gerade, das herauszufinden.“Früher war man dem Radio oder MTV ausgeliefertVor 15 oder 20 Jahren waren Künstler den Gatekeepern von Radio und MTV ausgeliefert und waren deren Formeln ausgeliefert, welche Songs populär sein könnten. Auf TikTok dagegen kann alles zum Hit werden. „Das lässt sich als positive Veränderung betrachten, aber ohne Gatekeeper und Formeln herrscht auch Chaos“, meint Guldemond. „In unserem Fall hat das Universum uns plötzlich dieses TikTok-Geschenk gemacht. Daher können wir sagen: ‘Oh, das ist nett! Es ist befreiend!’ Aber für neue Künstler:innen, die ihre Steine in den Abgrund des Internets werfen, kann es wirklich erschreckend sein.“Wenn er 2019 vorhergesagt hätte, dass Halyoft eine TikTok-Sensation werden würde, hätte ihm dann jemand geglaubt? „Nein, damals nicht“, ist er überzeugt. „Heute dagegen würde jeder glauben, dass auf TikTok alles möglich ist.“
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