So kapitalisiert man Nostalgie: Dieses Festival ist zu dreist

Kolumne Nirvana, Springsteen, Prince: Die Musikindustrie hat Jubiläumsveröffentlichungen als Gelddruckmaschinen für sich entdeckt. Unseren Autor bekommen sie so nicht. Ganz anders sieht es mit dem US-amerikanischen „When We Were Young“-Festival aus
Ausgabe 47/2023
Avril Lavigne: Ikone des Pop-Punk der Nullerjahre
Avril Lavigne: Ikone des Pop-Punk der Nullerjahre

Foto: Frazer Harrison/Getty Images

Musiktagebuch

Konstantin Nowotny studierte Soziologie in Leipzig, Dresden und New York City. 2013 war er Hospitant bei der Tageszeitung DIE WELT, 2016 dann beim Freitag. 2019 betreute er dort die Gender-Seite und wechselte 2020 ins Online-Ressort. Seine Schwerpunkte liegen vor allem im Kulturbereich, unter anderem hat er beim Freitag eine monatliche Musikkolumne. Darüber hinaus schreibt er öfter über Themen rund um die Psyche und hin und wieder über Ostdeutschland.

Es gibt eine sehr schöne Passage in Max Frischs an schönen Passagen nicht armer Erzählung Montauk, in der er seinen Bezug zum Alter beschreibt: „Gelegentlich wundere ich mich, dass ich 62 werde. Kein körperliches Gefühl davon, dass es in wenigen Jahren zu Ende ist. Wie bei einem Blick auf die Uhr: So spät ist es schon?“ So ist das mit dem Alter: zunächst mal nur eine Zahl, ein menschengemachtes System zur Messung von „etwas“. Aber dieses „etwas“ ist so zentral, dass es sich zunehmend schlechter ignorieren lässt. Je älter man wird, desto mehr interessiert man sich fürs Alter – das von einem selbst, von anderen, zuweilen von Dingen.

Das „So spät schon?“-Gefühl erreicht mich in letzter Zeit öfter, beim Blick auf Alben-Jubiläen. Nirvanas letztes Album, In Utero, ist nun 30. Oasis’ Erstlingswerk Definitely Maybe wird es nächstes Jahr. Bruce Springsteens Born in the U.S.A. kam vor knapp 40 Jahren heraus, im selben Jahr wie Purple Rain von Prince and The Revolution. Es ist nicht auszuschließen, dass die Musikindustrie diese Jubiläen ähnlich auf dem Schirm hat wie ich. Gerade in jüngster Zeit betrachten viele Labels „Anniversary“-Editionen von Musikalben offenbar als große Gelddruckmaschine.

Ein paar Bonus- oder Livetracks, eine vom Original kaum zu unterscheidende „Remaster“-Version der alten Songs – irgendetwas wird sich schon finden lassen, um mit den nostalgischen Gefühlen der Hörer*innen noch einmal Geld zu verdienen. Ins Studio muss dafür praktischerweise niemand. Wäre Musik ein sogenanntes Verbrauchsgut, wäre das in etwa so, als würde eine Winzerei einen zehn Jahre alten Wein noch mal in eine neue Flasche umfüllen und erneut, diesmal teurer, verkaufen. Warum ist er jetzt teurer als eben, fragen Sie? Nun seien Sie mal nicht so: Der Wein hat Geburtstag.

Weil ich Jubiläumsveröffentlichungen aus den genannten Gründen in der Regel für reine Geldmacherei halte, erwischt mich die Industrie damit in der Regel nicht. Diesmal hat sie sich aber eine neue Volte ausgedacht. Das „When We Were Young“-Festival an der US-amerikanischen Westküste existiert eigentlich schon seit 2017, mit dem diesjährigen Line-up sorgte es aber für Wirbel. Nicht nur ist schon der Name streng genommen eine Frechheit – impliziert „Als wir jung waren“ nicht, dass das Kollektiv-Wir, egal welchen Altersdurchschnitts, nun zwangsläufig vergreist ist? –, auch das Line-up war geradezu obszön: etliche Bands der kurzen Hochphase von einem Genre, das manche als Emo, andere als Pop-Punk beschreiben, auf einem Fleck. Avril Lavigne, Fall Out Boy, My Chemical Romance – alles, was ich als trauriger Teenager so geliebt habe, an einem Ort. Nächstes Jahr legt das Festival noch einen drauf: Nicht nur spielen wieder lauter artverwandte Bands, nun sollen sie auf dem Festival auch noch ihre „ikonischsten“ Alben von Anfang bis Ende spielen – für nur wenige hundert US-Dollar, natürlich.

Um das zu verdeutlichen: Das ist in etwa so, als würden bei einem fiktiven Woodstock-Revival-Festival namens „Oldstock“ Led Zeppelin, The Who, The Doors, Pink Floyd, die Rolling Stones und Weitere zusammenkommen, um dann auch noch jeweils Who’s Next, Exile on Main St, The Dark Side of the Moon und so weiter zu spielen. Oder treiben wir es noch etwas weiter: Es ist, als würde man zu einem Klassentreffen kommen, für das man Eintritt bezahlt, damit die Themen des Abends nicht der Job, die Kinder und die Hypothek sind, sondern Wer-mit-wem, Partys und Hausaufgaben.

Eine Frechheit ist das, so mit den Gefühlen der Fans zu spielen, ihnen vorzumachen, es sei gar nicht „schon so spät“, alles sei noch genau wie damals, wenn man nur dafür bezahle. Eine unermessliche Dreistigkeit! Bodenlos! Bitte drücken Sie mir die Daumen, dass ich ein Ticket bekomme.

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