Die Wahlverweigerer: Champagner trinken, aber nicht wählen gehen
Misstrauen Die liberalen Freunde unseres Autors machen ihr Kreuz nirgendwo mehr. Er wollte von ihnen wissen: Was stört Euch an unserem System? Ein Lehrstück über die gesellschaftlichen Folgen von Covid, Krieg und Wirtschaftskrise
Ist nicht für die Tonne – manch eine verleiht ihrer Kritik Ausdruck, indem sie ihren Stimmzettel bewusst ungültig macht und einwirft
Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa
Kürzlich im bayerischen Voralpenland. Mit meiner Frau bin ich in das neue Domizil von Bekannten eingeladen. Das frisch restaurierte Bauernhaus am Chiemsee ist ein Traum: Blick auf die Berge, es gibt den ganzen Abend lang Champagner, Raclette und lebhafte Diskussionen. Beim Abendessen sagt der Gastgeber eher beiläufig: „Wir wählen schon lange nicht mehr.“ Er ist Geschäftsführer eines mittelständischen Maschinenbauunternehmens und meint sich und seine Frau, beide Mitte 40. Daneben sitzt Christian, Inhaber einer Kommunikationsagentur in München, und sagt: „Noch wähle ich, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich das noch mal tun soll.“ Wieder zu Hause besucht uns Alexandra, eine langjährige Freundin meiner Frau, es gibt Antipas
pasti und Rotwein. Alexandra ist Redakteurin bei einem privaten TV-Sender in der bayerischen Landeshauptstadt, ich erzähle ihr von unserer Wahldiskussion neulich. Sie nickt, grinst und sagt: „Seit Corona wähle ich auch nicht mehr.“Mein Freundeskreis wählt nicht mehr?! Ich bin baff. Auch, weil ich das bis dahin gar nicht wusste. Seitdem diskutieren wir andauernd. Ich will ihre Argumente verstehen, will wissen, wie es so weit kommen konnte, ich will mit ihnen diskutieren und streiten. Das Gute ist: Sie wollen es auch.Kürzlich am Wochenende: Besuch von Ingrid und Sebastian, ganz alte Freunde aus der Heimat. Ich frage direkt darauflos: „Wählt ihr eigentlich noch?“ Die Antwort von Ingrid, die lange im Bildungssektor gearbeitet hat und nun seit einem knappen Jahr im Ruhestand ist: „Ich habe noch nie gewählt!“ Sebastian sitzt ihr gegenüber und widerspricht vehement: „Stimmt nicht, 2021 habe ich dich zur Wahl genötigt!“ Er arbeitet als Geschäftsführer beim Film. Nach dem rot-grünen Kriegseintritt im ehemaligen Jugoslawien unter Gerhard Schröder habe er eine „Wahlpause“ eingelegt, erzählt er. Heute geht Sebastian nur noch dann an die Urne, wenn die Gefahr besteht, dass die AfD zu stark werde. Wie konnte es so weit kommen?Wer arm ist, wählt öfter nichtDie freie, geheime Wahl ist in einem Rechtsstaat Privatsache, auch deshalb heißen meine Freunde und Bekannten in Wirklichkeit anders. Ich halte das Nichtwählen für falsch. Aber haben sie womöglich gute Gründe für das völlig Falsche?Fragt man Armin Schäfer, Professor für Vergleichende Politikwissenschaft in Mainz, der seit Jahren zu Nichtwählern in Deutschland forscht, dann gibt es keine signifikant große Gruppe von Nichtwählern aus dem bürgerlichen, akademischen Milieu. „Aus den Daten, die ich kenne, spricht wenig dafür, dass sich an dem sozialen Muster der Nichtwahl etwas geändert hat“, erklärt er gegenüber dem Freitag. Er meint die Entwicklung seit der Bundestagswahl 2021. Damals wählten exakt 14 Millionen 326.654 Tausend Menschen nicht, knapp ein Viertel der Wahlberechtigten. In einer Studie für die Friedrich-Ebert-Stiftung vom September 2023 kam Schäfer zu dem Ergebnis, dass „die Wahrscheinlichkeit, nicht zu wählen, bei Menschen mit geringem Einkommen und niedriger formaler Bildung besonders hoch“ sei. Das alles ist bei meinen Freunden nicht der Fall.Es verrutscht gerade etwas im Land, warnen Leitartikler und Demoskopen. Noch ist es nur ein Gefühl, das sich aber entlang steigender Umfragewerte für die AfD, an der Enthüllung über obskure Geheimtreffen völkischer Unternehmer, Politiker und Ideologen sichtbar Bahn bricht. Fakt ist: Meine liberalen Freunde und Bekannten wissen mit der Demokratie nicht mehr viel anzufangen. Es ist nicht so, dass ihnen alles egal wäre. Das merke ich an Carola, der Frau des Maschinenbauers, die bis in die tiefe Nacht hinein die Debatte mit mir sucht. Carola wählt seit zehn Jahren nicht mehr. Früher habe sie für die Grünen gestimmt, weil sie eine „Friedenspartei“ waren. „Die Grünen haben immer gesagt, sie liefern keine Waffen in Kriegsgebiete.“ Dass man jetzt bei Putin eine Ausnahme mache, versteht sie nicht. „Wahlversprechen werden nicht eingehalten, Grundwerte über Bord geworfen, da fühle ich mich als Wählerin betrogen“, sagt Carola. „Versprechen und Prinzipien sollten verpflichtend sein, sonst kann man sich diese Marketingveranstaltung sparen.“ Damit meint sie die Wahl. Das klingt mir zu populistisch. Aber bei den Grünen hat sie einen Punkt.Auch Ingrid hat schon lange das Vertrauen in die Politik verloren und macht es an der aktuellen Regierung fest. Generell könne eine Ampel-Koalition eine Vielzahl von Positionen und Ideen repräsentieren, meint sie, allerdings seien die handelnden Parteien und Politiker der Herausforderung einer zielführenden Zusammenarbeit nicht gewachsen. „Jede Partei beharrt auf ihrem Markenkern und will das Maximum für sich rausholen. Machtgerangel, innere Spannungen, undemokratische Praktiken und der Mangel an Transparenz beeinträchtigen die Funktionsfähigkeit der Regierung kolossal.“ Spontan fällt einem das EU-Lieferkettengesetz ein, das von der Ampel mit ausgehandelt wurde, aber dem man offenbar nie zustimmen wollte. Jetzt ist es gescheitert. Irgendwie fehlen mir schnell die Argumente für die große Empörung gegen meine Nichtwählerfreunde.Die demokratische Grundsatzkritik von Ingrid, Carola oder Alexandra ist vor allem deshalb interessant, weil sie eben nicht der AfD das Wort redet, sondern sich demonstrativ davon abgrenzen will. Die AfD würde sie „auf keinen Fall“ wählen, sagt Ingrid, die 2021 für die Linkspartei stimmte. Alexandra, die bis zur Corona-Pandemie CDU gewählt hat und seither nicht mehr wählt, weil ihr die „Angstmache aller Parteien nicht gefallen hat und sie die Aussetzung wichtiger Grundrechte für bedenklich empfunden“ habe, sagt, alle fremdenfeindlichen Gruppierungen seien für sie „ein absolutes No-Go“.Auch für die ehemalige Grünen-Wählerin Carola sei die AfD „eben keine Alternative“, allein schon deshalb, weil sie „gegen unser aktuelles Wahl- und Parteiensystem“ als Ganzes sei. „Der Staat hat eine Dienstleistungsfunktion gegenüber den Bürgern. Allerdings hat es bei uns irgendwann einen Rollentausch gegeben“, klagt Carola und sieht in Volksabstimmungen „einen guten Ansatz“, dem wieder entgegenzuwirken.Christian will mehr Bürgerentscheide auf kommunaler Ebene und Ingrid, eine studierte Kommunikationspsychologin, schickt mir ein Zeit-Interview der französischen Politologin Hélène Landemore. Das ist eine der einflussreichsten Demokratietheoretikerinnen der Gegenwart. In dem Interview macht sie sich für ihre Vision der „Open Democracy“ stark. In so einer „offenen Demokratie“ entscheidet keine professionelle Politikerelite, sondern auf Zeit bestimmte Bürgerräte, die ein genaues Abbild der Bevölkerung repräsentieren. Der aktuelle Streit über die Einführung des Klimageldes (Grüne wollen es, FDP nicht) ist für Ingrid ein Musterbeispiel für die fehlende Funktionstüchtigkeit der Regierung. Bürgerräte, davon ist sie überzeugt, hätten das Thema besser priorisiert und gelöst. Es geht also um mehr Mitsprache, das wird deutlich. Aber auch um die Frage, für was der Staat eigentlich sein Steuergeld ausgibt: Für Krieg, Bürgergeld, Bürokratie – und der Mittelstand wird alleingelassen! Das ist die enttäuschte Gefühlslage.Angefangen bei CoronaDurch alle Debatten mit Ingrid, Carola, Alexandra und den anderen schimmert ein Vertrauensdefizit hindurch, das sich, angefangen bei Corona über die Krisen unserer Zeit, zu einem fundamentalen Misstrauensvotum gegen Demokratie und Rechtsstaat ausgewachsen hat. Ein Misstrauen, und das ist das Überraschende, das es eben auch in liberalen, gut situierten Kreisen gibt, jenseits von Populisten. Habt ihr keine Angst davor, frage ich meine Freunde, dass andere, womöglich eine extremistische Minderheit, die politische Richtung im Land bestimmen, wenn sie sich als Souverän ins Private zurückziehen? „Ich habe sehr wohl Angst um die Demokratie, wenn immer mehr Menschen nicht zur Wahl gehen“, sagt Sebastian, der AfD-Verhinderungswähler. „Aber die Demokratie kann nicht nur in der Aufrechterhaltung des Status quo unseres bisherigen Wahl- und Parteiensystems gerettet werden, sondern es braucht ernsthafte Reformversuche.“Agenturchef Christian mag keinen Unterschied darin erkennen, ob er nun zur Wahl geht oder nicht. „Es gibt momentan keine Partei, die für mich wählbar ist, somit ist jede Partei ein gleiches Übel.“ Dabei war es nie so, dass eine Partei zu einhundert Prozent die eigenen Interessen vertreten konnte, dennoch wird das heute wie selbstverständlich eingefordert. Souverän wäre, wenn Christian trotz aller Kritik bei der Europawahl im Juni doch wieder seine Stimme abgeben würde. Wird er es tun?Placeholder infobox-1
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