Hubert Aiwanger will mit den Freien Wählern in den Bundestag: Verliebt in Berlin
Bayern Noch 1998 lehnten es viele Kreisverbände der Freien Wähler ab, an Landtagswahlen teilzunehmen – das lokale Profil der Partei sollte nicht verloren gehen. Jetzt plant Hubert Aiwanger den Sprung in die Hauptstadt
Hubert Aiwanger will nächstes Jahr bei der Europawahl „das Land rocken“ und 2025 in den Bundestag einziehen
Foto: Tobias Schwarz/AFP/Getty Images
Vor zwei Wochen im Prinz-Carl-Palais in München, direkt neben Markus Söders Staatskanzlei: Der Ministerrat der Bayerischen Staatsregierung hat zu den Themen Energie und Migration beraten, nun soll die Presse über die Ergebnisse informiert werden. Mit einem geraunten „Grüß Gott, die Herrschaften“ betritt Hubert Aiwanger beschwingt die Halle des frühklassizistischen Baus, der heute noch als Amtssitz des bayerischen Ministerpräsidenten dient. Die Themen sind wie gemacht für den gerade erneut vereidigten Wirtschaftsminister. Kein landespolitisches Klein-Klein, sondern Themen mit bundespolitischer Relevanz. Aiwanger spricht von der „Schicksalsfrage für unser Land“ und er meint den grünen Wasserstoff, bekanntlich sein Lieb
ieblingsthema. Und mit Land meint er nicht Bayern, sondern Deutschland.Der Chef der Freien Wähler trägt einen grauen Janker zu schwarzer Hose, sein Stand vor dem Mikrofon ist so breitbeinig wie sein für einen Niederbayern ziemlich gestelztes Idiom, die Hände hat er pastoral vor dem Bauch gefaltet. Wenn Aiwanger spricht, fokussiert er seine Augen zu einem dünnen Sehschlitz. Da steht einer im Sturm der Krisen und wackelt nicht, das will er wohl ausstrahlen. Entsprechend selbstbewusst tritt er auf. Aiwanger spricht vom „Wirtschaftsstrompreis“ und meint den gerade heiß diskutierten Industriestrompreis, da habe sich Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) gegen Finanzminister Christian Linder (FDP) ja nicht durchsetzen können. Beim Thema Migration fordert Aiwanger eine „Bürgergeldreform“. Nirgends in Europa würde sich Arbeit weniger lohnen als hierzulande.Zwei Wochen später an gleicher Stelle fordert Aiwanger Einsparungen beim Asylverfahren, um nicht auf die dringend nötigen Innovationen im Land zu verzichten. Als würde die Modernisierung des Landes an der Migrationsfrage scheitern. Kausalitäten sind nicht seine Kernkompetenz. Und doch hat er aktuell das politische Momentum auf seiner Seite: Wer Hubert Aiwanger in diesen Tagen beobachtet, erlebt einen Minister auf der Höhe seines Sendungsbewusstseins. Am Abend des 8. Oktober hatte er eine politische Mission gelauncht, die im Vergleich zu den Parteibestrebungen von Sahra Wagenknecht noch weitgehend unter dem Radar verläuft. Die aber ebenso das Potenzial hat, die hiesige Parteienlandschaft massiv zu verändern.Aiwangers neue AgendaAn dem Abend fuhren die Freien Wähler bei der Landtagswahl in Bayern 15,8 Prozent ein. Noch einmal 4,2 Prozent mehr als fünf Jahre zuvor. Die populistische Heizdemo in Erding („Wir holen uns unsere Demokratie zurück“), die unappetitliche Affäre um ein antisemitisches Flugblatt aus Jugendtagen, sein hemdsärmeliges Krisenmanagement („heute nicht mehr erinnerlich“) – nichts davon bedeutete das Ende des politischen Ehrgeizlings Aiwanger. Im Gegenteil, er punktete beim Wähler genau damit wie nie zuvor.Noch am Abend auf der Wahlparty in München formulierte Aiwanger aus der Hüfte heraus eine neue Agenda seiner Partei. Fast so, als hätte ihn der Übermut gepackt. Im nächsten Jahr werde man bei der Europawahl „das Land rocken“ und 2025 sei auch der Einzug in den Deutschen Bundestag möglich. Das waren nun ganz neue Töne für eine Partei, die in den 1950er-Jahren als Zusammenschluss parteiunabhängiger, lokaler Wählervereinigungen gestartet und deren Hauptbetätigungsfeld ursprünglich die Kommunalpolitik war.Als die Freien Wähler 1998 erstmals als organisierter Landesverband in Bayern an der Landtagswahl teilnahmen, lehnten das noch etliche Kreisverbände ab. Ein Vierteljahrhundert später ist es Aiwanger, der die heterogene Partei auf Linie getrimmt hat. Mosernde Hinterbänkler? Fehlanzeige! Ab sofort heißt das Ziel nicht mehr Rathaus, sondern Reichstag. „Der Bundestag ist ein guter Hebel, ich würde sogar sagen, der beste, um auf bundespolitischer Ebene etwas zu bewegen“, erklärt Aiwanger auf Anfrage des Freitag. „Wir brauchen in Deutschland dringend eine liberal-wertkonservative Partei im Bundestag, die noch gesunden Menschenverstand hat.“Im nächsten Atemzug schimpft er auf „die grüne Ideologie und das Versagen der anderen Parteien“, etwa beim Thema Zuwanderung. „Die vernünftigen Menschen brauchen eine politische Heimat in Deutschland“. Will sagen, Menschenverstand und Vernunft gibt es nur mit ihm. Parteiinterne Kritik an Aiwangers Plänen gibt es, zumindest öffentlich, nicht. Aiwanger ist die Partei, die Partei ist Aiwanger. Der ist nicht nur bayerischer Wirtschaftsminister und stellvertretender Ministerpräsident, sondern auch bayerischer Landesvorsitzender und Bundesvorsitzender der Freien Wähler. Mehr Ämterhäufung geht nicht.Das wiederum mag nicht jedem gefallen, wie man hört, aber Aiwangers Polarisierung weit über die Grenzen Bayerns bringt Prozentpunkte in den Umfragen und die „kleinen Leute“ nehmen ihm offensichtlich zunehmend ab, dass er es ist, der sich für sie interessiert. Das liegt vor allem daran, dass es keinen zweiten Spitzenpolitiker in Deutschland gibt, der sich so unverhohlen an den Wähler heranschmeichelt wie Aiwanger. Im Interview mit dem Freitag klingt das dann so: „Wir leben die Demokratie mit dem Verständnis, vom Bürger aus Politik zu machen. Der Bürger ist der Souverän, der Politiker ist der Umsetzer.“ Oder: „Wir sprechen die Wahrheit an, auch, wenn das nicht allen passt.“ „Die“ Wahrheit – von der traut sich so offensiv nicht mal die AfD zu sprechen.Protzen mit drei ProzentAiwangers Populismus nimmt, geimpft durch die jüngsten Wahlerfolge, gerade enorm Fahrt auf. Und das nicht nur, weil er in Bayern mitregiert. Auch in Rheinland-Pfalz sitzen die Freien Wähler seit zwei Jahren im Landtag, in Hessen und Sachsen erreichten sie bei den letzten Wahlen 3,5 beziehungsweise 3,4 Prozent Zustimmung. Jetzt also der Bund. Man habe sich durch die landespolitischen Erfolge eben nicht von der Basis entfernt, sondern sei vor Ort noch stärker geworden, sagt Aiwanger im Gespräch. Es sei ein „Vorteil, durch Hunderte Bürgermeister und Tausende Kommunalpolitiker in ganz Bayern besser zu wissen, wo der Schuh drückt, als es bei den anderen Parteien der Fall ist. Unser Ziel ist es, auch auf Bundesebene von der Wurzel an und nicht von oben herab anzupacken“.Die Ampel regiere gegen die Mehrheit der Bevölkerung und mache eine „Politik gegen die deutsche Industrie, gegen unsere Gastwirte und gegen die Bürger“. Daraus formuliert Aiwanger sein neues politisches Ziel so: „Wir wollen in den Bundestag und Teil eines bürgerlichen Bündnisses für Deutschland werden, um diese Ideologie-Politik zu verhindern.“ Ob es dazu kommen wird, ist allerdings längst nicht ausgemacht. Bei der Bundestagswahl 2021 waren die Freien Wähler die stärkste außerparlamentarische Oppositionspartei, kamen aber nur auf 2,4 Prozent.Das soll 2025 anders werden, sagt ihr Chef, auch wenn die Demoskopen die Partei bundesweit aktuell nur bei etwa drei Prozent sehen. Aiwanger gibt sich im Gespräch mit dem Freitag selbstbewusst: „Es schaut ganz gut aus, dass wir dieses Ziel erreichen“ – und meint das Überspringen der Sperrklausel von fünf Prozent. „Immer mehr Bürger nehmen uns bundesweit wahr und sehen, dass wir dem Land gut tun.“ Ob es das Land auch so sieht?
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