Bei Daimler-Benz in Stuttgart-Untertürkheim sitzt das „Zentrum Automobil“ mit sieben Mitgliedern im Betriebsrat. Die in Opposition zur IG Metall angetretene Liste wird von populistischen Kräften unterstüzt, die der AfD nahestehen. Das Zentrum prangert die angebliche Verteufelung des Autos an, agitiert gegen jede ökologisch orientierte Verkehrswende und verteidigt mit nationalistischen Untertönen den eigenen „Standort“.
Lukas Hezel vom Bildungswerk Baden-Württemberg des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) empfiehlt als Gegenmittel eine langfristig angelegte Strategie. Reine Sachaufklärung allein reiche nicht, wenn man für rechte Ideologien anfällige Beschäftigte überzeugen wolle. Zu einem Umdenken beitragen wü
gen würden vor allem „praktische Erfahrungen von Solidarität“ – etwa während eines Streiks.Die empirische Forschung bestätigt die Aussagen des Gewerkschafters. „Beteiligungsprozesse, verbunden mit politischem Lernen, bieten am ehesten einen Zugang“, berichtet Andre Schmidt von seinen Befragungen im ostdeutschen Niedriglohnsektor. Der Soziologe arbeitet am Else-Frenkel-Brunswik-Institut der Universität Leipzig. Schon seit zwei Jahrzehnten misst dort ein Wissenschaftsteam den Grad der Unterstützung für die Demokratie, aber auch die quantitative Verbreitung von Ressentiments wie Chauvinismus oder Ausländerfeindlichkeit. Bekannt wurde das 2002 gestartete Projekt als „Mitte-Studie“, seit 2018 trägt es den Namen „Leipziger Autoritarismus-Studie“. Neue Daten gibt es alle zwei Jahre.In einer Teilbefragung der jüngsten Ausgabe untersuchte Andre Schmidt zusammen mit Johannes Kiess und Sophie Bose die „Konfliktwahrnehmungsmuster der abhängig Beschäftigten“. Finanzielle und logistische Hilfe kam von der gewerkschaftsnahen Otto-Brenner-Stiftung und von der grünen Heinrich-Böll-Stiftung. „Mit der Unterstützung der Studie hoffen wir, zu einer informierteren Diskussion und einer die Demokratie stärkenden gesellschaftspolitischen Debatte beizutragen“, heißt es im gemeinsamen Vorwort. Gerade für die Bildungsinhalte im gewerkschaftlichen Umfeld, betonen die Verfasserinnen und Verfasser, seien die gewonnenen Erkenntnisse wichtig.Die Forschung zum Thema begann in Deutschland schon in der Weimarer Republik. Der Publizist Siegfried Kracauer veröffentlichte 1930 sein berühmtes Buch über Die Angestellten, der Sozialpsychologe Erich Fromm beschrieb 1929 Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches, wie der erst im Exil verlegte Titel später lautete. Heinrich Popitz und Hans Paul Bahrdt fragten in den 1950er Jahren nach dem Gesellschaftsbild des Arbeiters, sie interviewten Hüttenarbeiter des (inzwischen stillgelegten) Stahlwerks Duisburg-Rheinhausen, die sich „kollektiv unten“ in der Gesellschaft verorteten. Die Göttinger Soziologen Horst Kern und Michael Schumann legten 1973 eine weitere wegweisende Studie über Industriearbeit und Arbeiterbewusstsein vor, als Schwerpunkt untersuchten sie den Einfluss des technischen Fortschritts auf die Einstellungen der Beschäftigten.It’s the economy, stupidSeit der Jahrtausendwende diskutieren die Sozialwissenschaften über eine Verschiebung gesellschaftlicher Konfliktlinien. Demnach haben kulturelle Differenzen an Bedeutung gewonnen und überlagern, zumindest in akademischen Kreisen, sozioökonomische Unterschiede. Teile der Unterschicht und auch der unteren Mittelschicht nehmen dieser Lesart zufolge Gegenpositionen zu den Prioritäten (neo-)liberaler und weltoffener Eliten ein, das gilt gerade für strittige Fragen wie Gender oder Migration. Der lebensweltliche Kontrast zwischen bodenständigen „Somewheres“ und kosmopolitisch orientierten „Anywheres“, wie sie der britische Autor David Goodhart in seinem Buch The Road to Somewhere. Wie wir Arbeit, Familie und Gesellschaft neu denken müssen treffend charakterisiert hat, führe zu populistischen oder gar rechtsextremen Haltungen in abgehängten proletarischen Milieus.Die Auswertungen der Leipziger Forschungsgruppe zeigen, dass abhängig Beschäftigte nach wie vor ökonomische Interessengegensätze als „maßgebliche gesellschaftliche Widersprüche“ wahrnehmen. Konflikte, die sich auf Religion, unterschiedliche Herkunft oder Geschlecht zurückführen lassen, werden als „weitaus weniger prägend für unser Zusammenleben“ angesehen. Kategorien wie soziale Schicht oder Klasse, fordert deshalb die Studie, müssten ein zentraler wissenschaftlicher Ansatzpunkt bleiben. Doch dieser Aspekt, bedauert Mitautor Andre Schmidt, sei in der Forschung zu Autoritarismus und Rechtsextremismus „unterbelichtet“.Bereits 1950 hatte Thomas H. Marshall ein Konzept von „Industrial Citizenship“ entwickelt. Mit diesem Begriff umschrieb der Londoner Soziologe gelungene Formen betrieblicher Beteiligung durch die Garantie von Mitbestimmungsrechten. Echte Partizipation in Arbeitsbeziehungen reduziere rechtsextreme Einstellungen, mindere die Abwertung anderer und stärke die Demokratie. Das deckt sich mit den Ergebnissen der aktuellen Forschung, der zufolge der gefühlte Verlust von Handlungsfähigkeit die Übernahme rechtsextremer Weltbilder begünstigt. Sophie Bose konstatiert in der Leipziger Untersuchung eine weiterhin ausgeprägte Konfliktwahrnehmung im Arbeitermilieu, beschrieben mit keineswegs überholten Gegensatzpaaren wie „oben-unten“ oder „arm-reich“. Gleichzeitige Ohnmachtserfahrungen führten jedoch zu „starker politischer Deprivation“ und erhöhten die Anfälligkeit für autoritäre Deutungsmuster.Das „Unbehagen am Kapitalismus“ sei heimat- und orienterungslos geworden, analysiert der Jenaer Soziologe Klaus Dörre. Vor allem den Osten Deutschlands betrachtet die Wissenschaft als „demobilisierte Klassengesellschaft“. Kiess, Schmidt und Bose beziehen sich in ihrer Studie vor allem auf Beispiele aus ostdeutschen Regionen mit geringer Tarifbindung, niedrigem gewerkschaftlichen Organisationsgrad und einer kaum entwickelten Zivilgesellschaft. Sie verweisen auf eine gespaltene Wahrnehmung der Befragten: So gebe es Beschäftigte, die sich im Betrieb an Streiks beteiligen, „danach aber zur AfD-Demo gehen“. Arbeitsplatz und Gesellschaft würden nicht verknüpft, die Sphären blieben gedanklich strikt getrennt.In westdeutschen Großbetrieben ist die Konstellation oft ganz anders. Bei Volkswagen im niedersächsischen Salzgitter zum Beispiel, berichtet Jessica Knierim von der Vertrauenskörperleitung, sei die IG Metall ein echter Machtfaktor. Die Gewerkschaft positioniert sich auch jenseits der Werkstore, ist beteiligt an einem breiten kommunalen Bündnis gegen rechts und wird dabei sogar von der Firmenleitung unterstützt. So hat sich ein starker Gegenpol zu den (durchaus vorhandenen) populistischen und antidemokratischen Ansichten in der 7.000-köpfigen Belegschaft entwickelt.Ab in den ländlichen RaumVon den gewerkschaftlich Organisierten angeregte und mitgetragene Aktionen gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit können auf eine lange Geschichte zurückblicken. In den 1980er Jahren entstand in der alten Bundesrepublik nach französischem Vorbild die damals sehr erfolgreiche Kampagne „Mach’ meinen Kumpel nicht an!“. In Ostdeutschland hingegen stehen die Gewerkschaften nach Ansicht des Leipziger Wissenschaftsteams in „direkter Konkurrenz zu rechten Bewegungen“. Gerade im ländlichen Raum fehlt der zivilgesellschaftliche Faktor, andere Parteien als die AfD sind dort kaum präsent. Die Politik, glaubt Sozialforscherin Bose, müsse bei betrieblichen Auseinandersetzungen mehr Gesicht zeigen, bei Arbeitskämpfen vor Ort präsent sein und persönliche Unterstützung anbieten.Die Gewerkschaften könnten das Problem rechtsextremer Einstellungen nicht alleine lösen. Nur gemeinsame Aktionen aller demokratischen Kräfte hätten die Chance, autoritäres und fremdenfeindliches Gedankengut zurückzudrängen.