Die „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ war in den Nullerjahren in aller Munde. Zu geringe Geburtenraten wurden beklagt, eine demografische Katastrophe an die Wand gemalt – die dann wegen verstärkter Zuwanderung nie eintrat. Die Politik diskutierte, wie man Mütter bewegen könne, mehr Kinder zu gebären, ohne auf sie am Arbeitsmarkt verzichten zu müssen. Selbst die Christdemokraten, verantwortlich für die äußerst konservativen Regularien der Adenauer-Zeit, schwenkten teilweise um. Die damalige CDU-Familienministerin Ursula von der Leyen führte 2007 das Elterngeld als Lohnersatzleistung ein. Bald darauf regte sie einen Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung ab dem ersten Geburtstag an. Seit August 2013 ist dieser gesetzlich fixiert.
rt.Dauerzustand „Notbetreuung“Leider aber sind von den vollmundigen Versprechen nur wenige eingelöst worden. Mindestens 300.000 Plätze fehlen derzeit in den Tageseinrichtungen, andere Berechnungen ermittelten noch höhere Zahlen. Der Mangel betrifft vor allem die Versorgung von Kindern unter drei Jahren, im regionalen Vergleich sind Städte und Gemeinden in den westdeutschen Bundesländern stärker betroffen. Auf den visualisierten Grafiken ist das Gebiet der früheren DDR mit seiner viel besseren Situation deutlich zu erkennen; teils liegt das allerdings auch an der Abwanderung aus diesen Regionen.200.000 Erzieherinnen gehen in den kommenden Jahren in Rente, als Folge könnte demnächst jede vierte Stelle vakant sein. Die Folgen sind schon jetzt spürbar, wie zuletzt Studien der Bertelsmann-Stiftung und der Hans-Böckler-Stiftung belegten. Von „Notbetreuung“ ist in den Einrichtungen immer häufiger die Rede. Zu den Randzeiten am frühen Morgen und am späten Nachmittag wird mancherorts einfach dichtgemacht. Gruppen müssen zusammengelegt oder vergrößert werden, der Personalschlüssel verschlechtert sich. Trotzdem steigen in vielen Kommunen die Gebühren drastisch, für Gutverdienende sind jeden Monat teilweise vierstellige Beträge fällig. Zornige Eltern protestieren dagegen, etwa in München. Fachleute sprechen neudeutsch von einer „Kitastrophe“; die Frühpädagogin und Autorin Ilse Wehrmann, die 2023 das Buch Der Kita-Kollaps veröffentlichte, kommentiert die Lage drastisch: „Im Grunde begeht unsere Regierung jeden Tag Verfassungsbruch.“Kindertagesstätten sind im deutschen Föderalismus eigentlich Ländersache, doch der Bund hatte sich seit der Jahrtausendwende in diesem Feld verstärkt engagiert. Damit soll jedoch von diesem Sommer an Schluss sein. Für ein neues Investitionsprogramm fehle das Geld, hieß es Mitte März in der Antwort der Ampelkoalition auf eine parlamentarische Anfrage der Unionsfraktion. Faktisch bedeutet das den Stopp des weiteren Kita-Ausbaus, trotz der notorischen Betreuungsmisere. Im Bericht aus Berlin in der ARD verwies Finanzminister Christian Lindner (FDP) auf die „aktuelle Haushaltslage“ – und monierte einmal mehr den seiner Ansicht nach viel zu hohen Sozialetat.Das Thema Kinderbetreuung nicht richtig ernst zu nehmen und als randständige, jederzeit zur Disposition stehende freiwillige Dienstleistung des Staates zu betrachten, hat eine lange Tradition. Tatsächlich galt die Erziehung des Nachwuchses lange vorwiegend als Privatsache der Eltern. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg blieben fast alle Frauen in Westdeutschland zu Hause, später durften sie ein bisschen „hinzuverdienen“. Kindergärten, wie sie damals noch hießen, wurden nicht etwa als Bildungseinrichtungen wahrgenommen, sondern als Notnagel, als Aufbewahrungsorte für jene Familien, in denen bedauerlicherweise beide Elternteile „arbeiten gehen müssen“. Ein patriarchales Steuer- und Sozialsystem unterstützt bis heute mit dem Ehegattensplitting und der kostenlosen Mitversicherung von Hausfrauen in der Krankenkasse die althergebrachte Arbeitsteilung der Geschlechter.Dass ein gerade mal 40-jähriger Politiker wie Christian Lindner staatlich geförderte Kindertagesstätten wie in alten Zeiten als optionale Sozialleistung einstuft, spricht Bände. Viele Unternehmer und Manager, die mit dem FDP-Mann in ihrer neoliberalen Sicht auf die Welt übereinstimmen dürften, vertreten an diesem Punkt eine ganz andere Meinung. „Betreuungsmangel gefährdet unser Geschäftsmodell“, unter dieser Überschrift warnten kürzlich 30 Führungskräfte und Vorstände von DAX-Konzernen auf Zeit Online, dass es sich um eine eminent wichtige betriebswirtschaftliche Frage handele – und keineswegs „bloß“ um Sozialpolitik.Der Ausbau der Kitas, betont auch Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger, sei eine zentrale Investition in die öffentliche Infrastruktur: Im Moment passiere „das Gegenteil von dem, was wir brauchen“. Nur wenn Müttern selbstverständlich eine Erwerbstätigkeit ermöglicht werde, sei der oft beklagte Personalmangel zu beseitigen: „Wir können uns ein solches Versagen des Systems auch ökonomisch nicht länger leisten.“Der Kurswechsel der Bundesregierung irritiert schon deshalb, weil für den Sommer 2026 gleich das nächste, ebenfalls kaum realistische und juristisch einklagbare Versprechen angekündigt ist: Ab dann soll es zusätzlich einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in den Grundschulen geben. Hier ist die Situation noch desolater als in den Kitas. Es herrscht ein großes organisatorisches Durcheinander, verschiedenste Träger und Sozialverbände bieten Mittagessen, Hausaufgabenhilfe oder sportliche Aktivitäten an. Die Anwesenheit am Nachmittag ist für die Schülerinnen und Schüler aber nicht verpflichtend, die Teilnahme am „offenen Ganztag“ also freiwillig. Der sogenannte gebundene Ganztag als verlässliche Betreuung bis 16 oder 17 Uhr, in Nachbarstaaten wie Frankreich selbstverständlich, wird in Deutschland vorerst eine Zukunftsvision bleiben. Die skandalösen Kürzungen bei den Kitas machen klar: Familienpolitik ist, wie in dem berüchtigten Ausspruch von Ex-Kanzler Gerhard Schröder (SPD) verewigt, weiter schlicht „Gedöns“.