Mit eins in die Kita: Wessi-Eltern in Selbstblockade

Mutti Politics Deutschland ist schon lange nicht mehr geteilt in Ost und West, Herkunft lässt sich trotzdem oft nicht leugnen. Auch in puncto Kinderbetreuung: War es im Osten normal, dass Mutter arbeitet – war sie im Westen Hausfrau. Mit Folgen bis heute
Ausgabe 10/2024
Kinderbetreuung als Luxus sehen und auch annehmen – dafür plädiert Autorin Marlen Hobrack
Kinderbetreuung als Luxus sehen und auch annehmen – dafür plädiert Autorin Marlen Hobrack

Foto: picture alliance/Christian Charisius/dpa

Diese Kolumne erscheint kurz vor dem Internationalen Frauentag, der in Berlin ein Feiertag ist. Hier in Leipzig ist der 8. März hingegen ein ganz gewöhnlicher Arbeitstag, an dem mein Mann unseren Sohn in den Kindergarten bringt, damit wir beide arbeiten können.

Wir genießen den Luxus einer sehr guten Kinderbetreuung: Unser Sohn hat einen wunderbaren Erzieher, die Kita liegt direkt vor der Haustür, wir sind sehr zufrieden. Neulich wurde ich bei einer Lesung gefragt, wie wir als Eltern mit dem Personalmangel in Kitas und den damit verbundenen Kürzungen der Öffnungszeiten umgingen. Ich war etwas perplex. Nach kurzem Zögern antworte ich: In Ostdeutschland würden Kürzungen der Öffnungszeiten vermutlich gar nicht akzeptiert. Schließlich ist der Anteil Vollzeit arbeitender Mütter und Väter so hoch, dass man auf eine Vollzeitbetreuung angewiesen ist. Eine Veränderung der Öffnungszeiten sei daher indiskutabel – wobei dies wohl nur für Kitas in öffentlicher Trägerschaft gilt. Die Fragestellerin war sehr erstaunt.

Was akzeptabel oder inakzeptabel ist, was als normal oder nicht normal gelten darf, das ist immer eine Frage der Prägung. Insofern spielt die Ost-West-Prägung in puncto Kinderbetreuung nach wie vor eine wichtige Rolle. Nur kippt das Verhältnis inzwischen in eine – für mich – unerwartete Richtung. Ich habe zahlreiche Freunde, die aus Westdeutschland stammen und die Betreuungsinfrastruktur im Osten kritisch betrachten. Sie freuen sich nicht über das gute Betreuungsangebot, sie lehnen es aktiv ab. Erst neulich erzählte mir eine befreundete Autorin, ihr westdeutscher Mann hätte das gemeinsame Kind am liebsten erst mit drei Jahren in den Kindergarten geschickt. Sie hätte das Kind gerne einjährig in die Krippe gegeben, man einigte sich auf die Mitte. Ein anderes befreundetes Paar hat zwei Kinder unter zwei Jahren und leidet sichtlich unter Stress, Schlafmangel und großer Erschöpfung, die Großeltern leben ja weit weg im Westen, aber das ältere Kind in eine Kita zu geben, scheint ihnen unvorstellbar.

Nun verstehe ich, dass das eine zutiefst persönliche Entscheidung ist, und ich bin die Letzte, die in solche Entscheidungen hineinreden möchte. Ich habe nur das Gefühl, dass mein Mann und ich es hier in vielerlei Hinsicht leichter haben, weil wir nicht verinnerlicht haben, dass Kinderbetreuung eine Notlösung ist oder allenfalls „sozial Schwachen“ oder „Bildungsfernen“ dienen könnte, während eine gutbürgerliche Familie immer noch am besten selbst für ihr Kind sorgt.

Am Weltfrauentag werden wir wie jedes Jahr über „Equal Care“ und „Equal Pay“ reden. Wir werden von Strukturen sprechen, vom Mangel an Betreuungsplätzen, aber wir werden wie üblich vergessen, die private und persönliche Seite des Problems zu betrachten. Warum gingen westdeutsche Mütter und Väter nicht schon vor Jahrzehnten auf die Barrikaden, um bessere Kinderbetreuung zu fordern? Warum klagt und stöhnt man, statt zu rebellieren? Womöglich liegt es daran, dass man innerlich gespalten ist, dass man doch nicht ganz so sicher ist, ob man die Kinderbetreuung für unter Dreijährige richtig findet. Es sind nicht nur die anderen – die Konservativen, die Eltern und Großeltern, „die Gesellschaft“ –, es ist das eigene schlechte Gewissen. Nutzen wir doch den Frauentag, um von dieser „soften“ Seite der Unterdrückung zu sprechen.

Mutti Politics

Marlen Hobrack ist Schriftstellerin, Journalistin, Mutter und Autorin der monatlichen Freitag-Kolumne „Mutti Politics“. Ihr Buch Klassenbeste. Wie Herkunft unsere Gesellschaft spaltet (2022) ist gerade in einer Ausgabe der Bundeszentrale für politische Bildungerschienen.

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Geschrieben von

Marlen Hobrack

Was ich werden will, wenn ich groß bin: Hunter S. Thompson

Marlen Hobrack

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