Der beste Kommentar zum derzeitigen Zustand von Twitter kommt natürlich von einem Twitter-Nutzer: „es ist als wäre man auf der titanic nur dass der kapitän versucht zu testen wie viele eisberge er rammen kann“, schrieb kürzlich jemand. Elon Musks Zeit als Besitzer von Twitter ist bislang so katastrophal, dass man fast an willentliche Sabotage glauben möchte. Das hat auch Mark Zuckerberg erkannt. Leute wünschen sich eine Plattform, die nicht vom Wahnsinn regiert sei, scherzte ein hohes Tier bei Meta bei der Vorstellung des hauseigenen Konkurrenzprodukts „Threads“. Ab heute ist der Kurznachrichtendienst in den USA und Großbritannien verfügbar. Aufgrund von (berechtigten) Datenschutzbedenken jedoch noch nicht in der EU.
Oberfl
eads“. Ab heute ist der Kurznachrichtendienst in den USA und Großbritannien verfügbar. Aufgrund von (berechtigten) Datenschutzbedenken jedoch noch nicht in der EU.Oberflächlich gesehen ist Threads einfach Twitter. Doch darunter verbirgt sich eine alternative Vision für das Internet: das dezentrale Protokoll Activity-Pub. Bislang funktionieren Plattformen nach dem Prinzip größtmöglicher Zentralisierung. Die Menschen sollen so viel Zeit wie möglich auf ihnen verbringen und daher macht man einen Abgang so „teuer“ wie möglich. Wer Facebook, TikTok oder Twitter verlässt, verliert alle Kontakte, Inhalte etc. Man kann nicht zwischen Instagram und Snapchat hin- und herschreiben oder -springen. Man ist quasi gefangen.Activity-Pub dagegen kann man sich ein wenig wie E-Mail vorstellen. Egal, ob man einen gmail-, einen hotmail- oder einen gmx-Account hat, man kann miteinander kommunizieren. Zieht man um, kann man Kontakte und Konversationen mitnehmen. Übertragen auf Social Media ermöglicht das Nutzer:innen sich in kleinere Communitys zurückzuziehen, aber dennoch Kontakt nach Außen zu pflegen. Kontrolle wird von den großen Plattformunternehmen an Privatpersonen übertragen. Das ist gesund und wünschenswert. Doch es verschließt auch viele Zugänge in die Zentren der Macht, die beispielsweise Twitter gelegt hat.Medien, Politik und Memes: Twitter ist ReizüberflutungTwitter ist eigentlich winzig. Dass Twitter dennoch so präsent ist, liegt daran, wer dort Zeit verbringt – und nicht zuletzt an Donald Trump. Am Anfang von Trumps Präsidentschaft steckte Twitter in einer tiefen Krise. Doch Trump erkannte die einzigartige kulturelle Durchschlagskraft der Plattform. Hier saß er selbst am Hebel, keine nervigen Gatekeeperinnen und Journalisten. Er hatte die Kontrolle.Und da Trump die Plattform mit seinen horrenden Aussagen zu Asylsuchenden oder Außenpolitik dort fast täglich in die Nachrichten hievte, mussten zuständige Journalist:innen auch dort sein. Twitter wurde zum place-to-be für Medien- und Politikmenschen – und für alle anderen, die Lust hatten. Ein Ort, an dem Mächtige, ihre Beobachter:innen und die, die es gerne wären, auf engstem Raum aufeinander hockten. Eine Weltneuheit.Twitter ist ein außerordentlich nervöser und reizbarer Ort. Alle Nutzer:innen sind mehr oder weniger in den gleichen Feed eingeklinkt. Passiert etwas in der Welt – irgendwas – fängt die ganze Plattform an zu feuern. Tausende Beiträge, Memes, Analysen prasseln dann auf einen ein. Die Idee der abgetrennten „Filterblase“ oder „Echokammer“ war nie haltbar. Nirgendwo sonst wird man so durchgehend mit abweichenden Meinungen bombardiert wie auf der Twitter-Timeline.Es ist ein konstanter Strom von (un)bekannten Referenzen und Insider-Jokes. Die Geschwindigkeit dieser Reizüberflutung ist abwechselnd berauschend und erschöpfend. Aber dennoch hat Twitter viel Gutes. Es hat für normale Menschen einen noch nie dagewesenen Zugang zu den Reichen und Mächtigen geschaffen. Bewegungen wie #BlackLivesMatter und #metoo hätten ohne Twitter nicht so eine Wirkkraft entwickelt. Leute ohne Repräsentation in Politik und Medien haben hier eine Stimme gefunden.Threads ist nur eine halbe AlternativeDas ist, was die Threads-App wahrscheinlich nicht bieten kann. Sollte sie wirklich Twitter ersetzen – was keineswegs sicher ist – würde sie uns erlauben, uns (endlich) in abgetrennte Bereiche zurückzuziehen und mehr Kontrolle über unsere Zeit im Internet zu haben. Doch es erlaubt den Reichen und Mächtigen dasselbe. Das vergangene Jahrzehnt des sozialen Netzes war eine Anomalie, eine Zeit nie dagewesenen Zugangs. Eine kritische Masse an Personen konnte, egal von wo auf der Welt, Einfluss auf Politik und Kultur nehmen – zum Guten oder zum Schlechten.Es hat einen schalen Beigeschmack, dass der Mann, der sich und seine Mittel nun hinter eine alternative Version des Internets klemmt, ausgerechnet einer der Reichen und Mächtigen ist, die auf ebenjenen Plattformen in den vergangenen Jahren ihr Fett wegbekommen haben. Es scheint jedenfalls kein Zufall, dass Zuckerberg einen Twitter-Klon anbietet, der ein fragmentiertes, dezentrales Internet einläuten könnte.Sobald die App auch in der EU an den Start geht, scheint sie auf jeden Fall eine interessante, halbe Alternative zu der alten Plattform, die Elon Musk immer weiter nach rechts und in den Abgrund steuert. Dasselbe wird es dennoch nicht sein. Das alte Twitter stirbt, doch das neue ist noch nicht geboren. Vielleicht wird es das nie.