Eine neue Vorkriegszeit

Literatur Joseph Vogl beschwört virtuos die Apokalypse des Kapitalismus
Ausgabe 17/2021
„Information ist Wissen minus Nachweis und Rechtfertigung“. Auf einer bekannten Online-Plattform kann man die Wahrheit dieses Satzes jeden Tag prüfen
„Information ist Wissen minus Nachweis und Rechtfertigung“. Auf einer bekannten Online-Plattform kann man die Wahrheit dieses Satzes jeden Tag prüfen

Foto: Andrew Burton/Getty Images

In ihrem Buch Das Kapital ist tot stellte die Medienwissenschaftlerin McKenzie Wark 2019 die These auf, dass heute die Herrschaft der Information längst den Kapitalismus überwunden habe, und fragte, ob diese neue Herrschaftsform nicht im Grunde eine noch schlimmere sei. Folgt man dagegen der Darstellung des Kulturkritikers Joseph Vogl in seinem Buch Kapital und Ressentiment, bleibt die Herrschaft der Information untrennbar mit dem Kapitalismus verknüpft, und Schlimmeres scheint im Vergleich schwer vorstellbar.

Vogl, der bereits in seinen Büchern Das Gespenst des Kapitals und Der Souveränitätseffekt die „Kunst der Schwarzmalerei“ perfektioniert hat, muss das Rad der Kapitalismuskritik nicht neu erfinden. Er versteht es allerdings meisterhaft, seine zahlreichen Speichenstränge zusammenzudenken und eloquent auf die Begriffsnabe zu bringen. So beginnt seine „kurze Theorie der Gegenwart“ im bereits vielfach sezierten Zäsurjahr 1973, als neben dem ersten Experiment eines real existierenden Neoliberalismus in Chile und der Gründung der ersten Derivatbörse in Chicago auch das Abkommen von Bretton Woods endete, das wichtige Währungen an Dollar und Gold gebunden hatte. Der folgende „Übergang von Warengeld zu Kreditgeld“ war von Anfang an mit der Entwicklung digitaler Technologien verknüpft. Und doch waren die Bedingungen für die vorläufige Vollendung der Finanzmarktlogik im Informations- und Plattformkapitalismus erst gegeben, nachdem 1996 in den USA der Telecommunications Act in Bezug auf das Internet eine grundlegende „Transformation öffentlicher Dienste in kapitalistische Unternehmensstrukturen“ vollzogen hatte. Vor allem aber wurden diese neuen Medienkonzerne nun nicht mehr als für ihre Inhalte verantwortliche Publisher eingestuft, sondern als quasi unbeteiligte „Vermittler“ oder intermediaries.

Hier setzen Vogls zentrale Thesen an: In dieser „rechtlich strukturierten Verantwortungslosigkeit“ der in Privatbesitz befindlichen Plattformmärkte offenbart die vollständige Informatisierung in ganz besonderer Weise den „irrationalen Kern kapitalgetriebenen Wirtschaftens“. Denn „Information ist Wissen minus Nachweis und Rechtfertigung“, auf den Meinungsmärkten der Plattformen muss und soll gerade nichts begründet werden. Die Suspension der Raison aber bereitet den Weg für das Ressentiment, das freilich immer schon eine funktionale Verschränkung mit der Kapitallogik aufwies und per Sündenbockmechanismus letztlich deren Stabilität garantierte. Im „strukturellen Populismus“ der Plattformen aber nimmt diese ressentimentgeleitete Kapitallogik systematische Ausmaße an, die, in Vogls Worten, „das Ferment einer neuen Vorkriegszeit liefern“ könnten.

Für diese virtuos zugespitzte Kapitalismus-Apokalyptik ist Vogls Buch bereits mehrfach mit großer Feuilletongeste abgebürstet worden. Wobei es am Ende doch eine wohlfeile Kritik bleibt, einer Theorie in erster Linie ihr fulminantes Funktionieren vorzuwerfen, wie etwa in der Zeit. Schwerer wiegt da schon der Einwand, das „perfekte“ Ausweglosigkeitsszenario könne letztlich zu politischer Tatenlosigkeit verleiten. Gut also, dass Vogl in vielen Interviews inzwischen auch Hinweise zu politischen Maßnahmen gegeben hat. Neben der (steuer)rechtlichen Einhegung der Plattformen die vielleicht wichtigste in diesem Jahr: Wohneigentum vergemeinschaften. Denn gerade am Wohnungsmarkt zeigt sich, wie die „Ökonomie des Ressentiments durch ein zirkulierendes Fehlen und die konsequente Produktion von Knappheit charakterisiert“ werden kann. Und die befremdliche Solidarisierung vieler Mieter mit den sie „strukturell enteignenden“ Vermietern lässt sich vielleicht auch so erklären: „Das Ressentiment leidet am Diebstahl dessen, was nie besessen wurde.“

Info

Kapital und Ressentiment Joseph Vogl C. H. Beck 2021, 224 S., 18 €

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Geschrieben von

Tom Wohlfarth

Politische Theorie und Kultur

Tom Wohlfarth

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