Wenn es tatsächlich gelingt, die Eskalationsspirale im Nahen Osten zu stoppen, mag akute Kriegsgefahr für den Moment gebannt sein. Die strukturellen Probleme in den Beziehungen des Iran zum Westen wären damit jedoch nicht gelöst. Das gilt vor allem für die USA und Israel, mit Abstrichen für die EU. Alle drei Akteure verfangen sich seit der Islamischen Revolution von 1979/80 immer wieder im Gestrüpp religiös-ideologischer Propaganda, verkennen dabei legitime realpolitische Interessen Teherans und unterschätzen oder ignorieren latent die innenpolitische Dimension iranischer Außen- und Sicherheitspolitik.
Im Ergebnis hat der Westen in den bald 45 Jahren, seit die Islamische Republik Iran existiert, zu oft politische Spielräume verpasst und
rpasst und diplomatische Möglichkeiten verschenkt, um berechenbarere Beziehungen aufzubauen. Das rächt sich immer wieder, weil der Iran eine Regionalmacht ist, die weder ignoriert noch isoliert und ganz offenbar auch nicht erfolgreich sanktioniert werden kann.Existenzieller AlbtraumBis man im Westen die neuen Realitäten im Iran nach dem Sturz des Schah-Regimes anerkannte, dauerte es. Die außenpolitische Maxime der Islamischen Revolution – weder Ost noch West, sondern Islamische Republik – stieß im letzten Jahrzehnt des Kalten Krieges dies- und jenseits des Eisernen Vorhangs auf wenig strategisches Verständnis. Die USA verloren 1979/80 einen wichtigen regionalen Verbündeten. Das politische Trauma der über ein Jahr dauernden Besetzung der US-Botschaft in Teheran durch revolutionäre „Studenten“ und das Fiasko beim Versuch, die US-Diplomaten militärisch zu befreien, wirken in Washington bis heute nach.Israel kam mit der Islamischen Revolution der einzige regionale Alliierte im Nahostkonflikt abhanden. Die Beziehungen zum Schah-Regime waren zum Schluss so eng, dass beide Seiten 1977 ein Projekt zur gemeinsamen Entwicklung von Raketen auf den Weg brachten, die auch atomar bestückbar sein sollten. Das Vorhaben wurde durch die Islamische Revolution gestoppt. Für die neuen, klerikalen Machthaber in Teheran avancierten die einstigen Verbündeten des Schah-Regimes über Nacht zu Todfeinden, die seitdem als „großer und kleiner Satan“ eine Projektionsfläche abgeben, hinter deren religiös-ideologischer Fassade sich oft widerstrebende innen- wie außenpolitische Akteure identifizieren lassen.Dieser Mühe eines zweiten Blicks muss sich freilich unterziehen, wer hinter den oft irrational klingenden Tönen aus Teheran tatsächliche Interessen und Interessenwidersprüche erkennen will. Zum Beispiel beim Umgang mit dem iranischen Atomprogramm. Dass es ein solches überhaupt gibt, ist ebenso unstrittig wie bemerkenswert. Zum einen, weil es einen eklatanten Bruch mit einer Doktrin des Revolutionsgründers Ajatollah Khomeini darstellt, der jegliche nukleare Technologie verdammt hatte und sämtliche atomaren Programme aus der Schah-Zeit einstellen ließ. Zum anderen, weil Teheran ungeachtet aller Sanktionen, denen die Islamische Republik von Beginn an ausgesetzt war und die stetig verschärft wurden, weder technologisch noch ökonomisch am Wahrnehmen nuklearer Optionen gehindert werden konnte.Für Israel – wiewohl selbst eine nicht erklärte Nuklearmacht, die im Gegensatz zum Iran den Atomwaffensperrvertrag nicht unterzeichnete – wäre eine iranische Bombe ein existenzieller Albtraum. Daran kann keine politische Führung in Jerusalem vorbei. Bleibt die Frage, wie diese Gefahr zu bannen ist. Ein Premier wie Benjamin Netanjahu hat darauf eine unmissverständliche Antwort: Dem Regime in Teheran ist nicht zu trauen, eine iranische Bombe am Ende des Tages nur mit militärischer Gewalt zu verhindern. Tatsächlich ist das iranische Nuklearprogramm immer wieder durch Sabotageakte, Mordanschläge und Cyberattacken empfindlich gestört worden. Und sehr wahrscheinlich war dafür Israel zuständig. Für einen massiven Militärschlag gegen die iranische Nuklearindustrie braucht Netanjahu jedoch grünes Licht aus Washington. Dazu waren die USA aus guten Gründen bisher nicht bereit.Der andere Weg, das Atomprogramm des Iran über ein Abkommen (siehe Glossar) auf das zivile Maß zu begrenzen, wurde viele Jahre verhandelt, bis 2015 tatsächlich eine Einigung erzielt wurde, die vor allem die EU diplomatisch begünstigte. Blickt man auf die Verhandlungen, lässt sich deutlich erkennen, wie stark diese von der jeweiligen innenpolitischen Verfasstheit des Iran bestimmt waren. Begonnen und abgeschlossen wurden sie unter der Ägide von zwei Reformern im Präsidentenamt, Mohammad Chatami (1997 – 2005) und Hassan Rohani (2013 – 2021), fast beerdigt durch eine diplomatische Eiszeit unter dem radikalen Populisten Mahmud Ahmadinedschad (2005 – 2013). Natürlich werden Machtkämpfe innerhalb der klerikalen Eliten des Iran nicht in Washington oder Brüssel entschieden. Aber ob in Teheran radikale oder eher gemäßigte Kräfte den außenpolitischen Kurs bestimmen, hängt auch davon ab, ob diese Mäßigung sich innenpolitisch auszahlt, etwa in Gestalt einer erfahrbar besseren Wirtschaftslage durch gelockerte Sanktionen.Noch schwirrt durch die Köpfe zu vieler westlicher Politakteure der Irrglaube, Sanktionen könnten zu einem Regime Change führen oder ihn wenigstens beschleunigen. Die vergangenen Jahrzehnte zeigen eher das Gegenteil. Der Iran ist autarker geworden, weil man sich auf den Gebrauch eigener Ressourcen konzentrieren musste und das als rohstoffreiches Land mit einer jungen, gut ausgebildeten Bevölkerung auch konnte. Und weil Teheran zahlreiche staatliche und nichtstaatliche, legale, halblegale und illegale Im- und Exportwege fand, um diverse Strafmaßnahmen zu unterlaufen.Gewiss ist die Sorge um eine iranische Bombe absolut verständlich – Sanktionen können sie aufhalten und verteuern, erfolgreiche Militärschläge zunächst stoppen und in ihrer Entwicklung um Jahre zurückwerfen. Das freilich zu einem unkalkulierbar hohen Preis. Daher ist der verlässlichste Weg ein diplomatischer. Für Teheran muss es lukrativer und sicherer sein, keine Atomwaffen zu besitzen.Das Atomabkommen war ein erster Schritt, aber ein halbherziger, weil die westlichen Sanktionen im Januar 2016 zwar formell aufgehoben wurden, die Obama-Administration aber – getrieben vom Wahlkampf – sofort neue ankündigte. Donald Trump hatte sich als Herausforderer klar gegen den Vertrag positioniert, hielt als Präsident Wort und stieg prompt aus dem Abkommen aus. Kurz zuvor hatte Netanjahu auf einer spektakulären Pressekonferenz Beweise für iranische Atomwaffen präsentiert, die sich später als falsch erwiesen. Als die USA dann Anfang 2020 den iranischen General Ghassem Soleimani töteten, fühlte sich auch der Iran dem Abkommen nicht mehr verpflichtet. In Teheran bestimmen seither Hardliner den Kurs in der Atompolitik. Inzwischen soll man über waffenfähiges Uran verfügen.Interessen anerkennenDas Fiasko des Atomabkommens folgte dem Muster einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Um aus dieser Eskalationslogik dauerhaft auszusteigen, wird es diplomatischer Initiativen bedürfen, die von allen Akteuren des etablierten P5+1-Formats – den fünf ständigen UN-Sicherheitsratsmitgliedern und Deutschland – getragen werden müssen. Dabei kann es aber nicht nur um die Aufhebung von Sanktionen, sondern muss es auch um die Anerkennung legitimer Interessen des Iran in der Nahostregion gehen – und zwar unabhängig von der Regime-Frage in Teheran. Das Stigma vom Paria-Staat hat sich als wenig sinnvoll erwiesen. Sich davon zu verabschieden, mag in Zeiten werteorientierter Außenpolitik nicht populär sein. Aber Popularität ist keine außenpolitische Kategorie.Eine nahöstliche Sicherheitsarchitektur wird ohne Einbindung des Iran nicht funktionieren. Und gegen die von den Mullahs geschmiedete „Achse des Widerstands“ gibt es letztlich nur ein Mittel: die Befriedung des palästinensisch-israelischen Konflikts. Dazu aber braucht es ein Ende des Gaza-Krieges und einen Regierungswechsel in Jerusalem.Placeholder infobox-1Placeholder authorbio-1