Jubiläum: Was wäre aus dem „Freitag“ geworden, hätte es die Vorwahl 9 nicht gegeben?

Zeitgeschichte 1990 Bei der ersten gemeinsamen Redaktionskonferenz der Ost-West-Wochenzeitung „Freitag“ in der Niederwallstraße in Berlin steht die Einheit auf dem Kopf. Der Westen kommt in den Osten
Ausgabe 45/2015
Kioskwerbung im Herbst 1990 in Berlin
Kioskwerbung im Herbst 1990 in Berlin

Foto: Archiv/der Freitag

Eigentlich hing alles an der verflixten 9. Wie ein Stolperstein stand sie vor jeder Telefonnummer, die einen in den Osten der Stadt verbinden sollte. Wer „nach drüben“ telefonieren wollte – da war die Mauer längst gefallen, und die D-Mark hatte schon Einzug gehalten –, musste viel Geduld mitbringen. In aller Regel empfing einen das Besetztzeichen. Heutige Selbstverständlichkeiten wie E-Mail und Internet überstiegen unsere damalige Fantasie. Die Ziffer 9, die sich bis heute in meinem Offline-Verzeichnis tummelt, wurde zu unserem Schicksal.

Patina und ein leichter Hauch von Aufbruch

Es begann schon damit, dass man sich bewegen musste in den anderen Teil der Stadt. Von Kreuzberg, damals noch SO 36, nach Mitte war es eigentlich nicht sehr weit, aber gefühlt überwand man Meilen und tiefe Kulturgräben. Um verbindlichen Kontakt herzustellen, mussten wir uns vom Fabrikdachstübchen in der Oranienstraße 25 sozusagen hinunter bewegen in die Niederwallstraße. Vorsichtige Auskundschaftungen waren bereits getätigt, als wir anrollten an einem wunderschönen Herbsttag, zu zehnt oder elft vielleicht, die gesamte Redaktions- und Verlags-„Mannschaft“ aus dem Westen. Der Begriff „Mannschaft“ wäre mir, Frauenredakteurin und penibel auf Sprachregelungen achtend, wohl nicht in die Tasten gelaufen.

Ich sehe uns noch im Kreis sitzen in den damaligen Redaktionsräumen des Sonntag, über denen Patina lag, viel abgewetzte DDR, aber auch ein leichter Hauch von Aufbruch. Die Gewichte waren ein bisschen ungleich verteilt: Reichlich Manpower im Osten, von der die „kleene“ Westtruppe misstrauisch, aber auch hoffnungsfroh beäugt wurde. Weil man dachte, die würde jetzt das fertige Konzept mitbringen. Und das Rezept für den Erfolg.

Von heute aus gesehen ist es immer noch ein kleines Wunder, dass das ganze Freitag-Projekt überhaupt zustande kam, in so eminent kurzer Zeit, mit so vielen fremden Menschen. Und dass es immer noch besteht. In einem Gespräch, das der Südwestdeutsche Rundfunk 1992 mit den damaligen Chefredakteuren von Freitag und Wochenpost – dem zweiten medialen Ost-West-Projekt dieser Jahre, allerdings mit viel Geld eines Großverlags im Rücken – geführt hat, wurde orakelt, dass womöglich beide Zeitungen binnen zwei Jahre vom Markt verschwunden seien. Seinerzeit hatte der Freitag noch 25.000 Abonnenten und eine Druckauflage von 45.000 Exemplaren. Die viel größere Wochenpost wurde 1997 von der Woche geschluckt, vegetierte als Beilage dahin, bis die Woche 2002 ebenfalls eingestellt wurde.

Immer wieder habe ich mich gefragt, was aus dem Freitag geworden wäre, hätte es die Vorwahl 9 nicht gegeben, diese Barriere, die verhinderte, einfach rüberzuziehen in den Osten und einzusteigen in den zehnjährigen Mietvertrag, den der DDR-Kulturbund für den Sonntag und sein Domizil am Hausvogteiplatz (siehe oben) noch ausgehandelt hatte. Wie hätten „wir“ Westler, so verschieden wir auch waren, uns dort zurechtgefunden in der Nachwendezeit? Welchen Journalismus hätten wir entwickelt? Wie, fragten wir uns, wieder zurück in Kreuzberg, soll man eine Zeitung machen ohne stabile Telefonverbindungen? Das ging einfach nicht.

Berlin-Kreuzberg war kein Touristenmagnet

Also zogen die Westler nicht in die Niederwallstraße, mitten ins spätere Herz Berlins, das damals noch ziemlich intakt war und ohne hässliche Baugruben, sondern die dezimierte „Ost-Brigade“ ins multikulturelle Kreuzberg, wo man zusammen in der Harfe zu Mittag aß und im Jenseits spätabends nach einer Produktionssession abhing. Noch Mauerrandlage, war Kreuzberg damals kein Touristenmagnet, sondern hatte eher etwas von einem reichlich schmuddelig-alternativen WG-Gemeinschaftszimmer mit stark multikulturellem Touch. Was bedeutet WG? – fragten uns die Kollegen von drüben. Es klafften soziokulturelle und mentale Gräben.

Immerhin gab es auch Gemeinsamkeiten in Alltagsdingen. Um etwa auf das Gelände der Oranienstraße 25 zu kommen, benötigte man einen der berüchtigten Berliner Durchsteckschlüssel, die es auch im Osten gab. Und für manchen Westkollegen bedeutete die Ankunft des Sonntag, Abschied zu nehmen von Heimat, den Büros nämlich, die bis dahin großzügig verteilt worden waren. Es wurde etwas enger unterm Dach und für alle wohl auch ein bisschen fremder.

Zwei völlig unterschiedliche journalistische Traditionen

Das begann schon mit dem berühmten Handschlag, mit dem wir, die Westler, morgens in der kleinen Küche begrüßt wurden. Und mit dem Duz-Problem, an das sich auch heute noch viele erinnern. Mit der Zeit ging das dann alles durcheinander, begünstigt auch davon, dass es zunächst keine Hierarchien mehr gab und lediglich turnusmäßig wechselnde Chefs vom Dienst „den Hut“ aufhatten, ein basisdemokratisches Modell, das nicht bei allen auf Gegenliebe stieß und vom Verlag nach gut einem Jahr kassiert werden sollte.

Auf den ersten Sitzungen stellte sich ohnehin schnell heraus, dass da zwei völlig unterschiedliche journalistische Traditionen aufeinander trafen. Obwohl beide Zeitungen eine vorwiegend intellektuelle Leserschaft aufwiesen – beim Sonntag waren es laut Umfrage sogar 61 Prozent mit Hochschul- und 18 mit Fachschulabschuss, dazu elf Prozent Künstler und Schriftsteller –, hätte die Art und Weise, wie sie „bedient“ werden konnten, nicht verschiedener sein können.

„Volkszeitung“ und „Sonntag“

In der Volkszeitung herrschten die ideologisch verdichtete Analyse und Meinung vor, während der Sonntag als „Blatt der indirekten Opposition“ und des „feinen Andersseins“, wie es in einem damals verfassten Papier formuliert wurde, Politik lieber aus der Alltagsperspektive beleuchtete. Das schaffte Distanz zur Staatsmacht. Die Kollegen hatten dafür eine Schreibe mit „doppeltem Boden“ kultiviert und einen Erzählstil entwickelt, der ein Weichbild der DDR einfing, in dem man die harten Kerne erst ausfindig machen musste. Der gelegentlich brachiale „linke“ Holzhammer, das immer sofort parate politische Urteil und die Vehemenz des Auftritts waren ihnen ein Graus und provozierten eine besondere Art von Trotz.

Dass sich die zusammengewürfelte Redaktion nach zwei Monaten plötzlich mit Lebensfragen wie Krieg und Frieden befassen musste, als im Januar 1991 ein Golfkrieg begann, war wiederum so etwas wie Schicksal und erleichterte den Start der neuen Zeitung nicht unbedingt. Dabei ging der Grabenkampf zwischen sogenannten Pazifisten und Bellizisten gar nicht an der Ost-West-Demarkationslinie entlang. Doch die westliche Debattenkultur ertrug man schwer. „Immer eure ewigen Diskussionen, das ist nicht auszuhalten!“, stöhnte eine Ostkollegin einmal. Es gab Kollegen, die einfach nur „schön schreiben“ wollten und die Redaktionssitzungen als Tortur empfanden.

Keiner sollte auf der Strecke bleiben

Wir hatten damals zu wenig Zeit, um uns zuzuhören. Politisches Entscheidungsdrama und steter Redaktionsstress überlagerten das, was wir später in der Zeitung als „Krach der Deutschen“ inszenierten, als nämlich klar wurde, dass die Zusammengehörigkeit der beiden „Deutschländer“ nicht naturwüchsig war, sondern miteinander und in einem Prozess hergestellt werden musste. Hinzu kam nach einem guten halben Jahr die erste finanzielle Krise, die zur Verkleinerung der Redaktion führte. Dadurch konnte man auch eine andere Seite der Ostkollegen kennenlernen: Sozialer Harmoniewille, keiner sollte auf der Strecke bleiben, auch wenn die seinerzeit eingeführten Arbeitsmodelle in das Prekariat führten.

„Im Osten ist nichts mehr, wie es war. Und im Westen wird nichts so bleiben, wie es war“, stellte Mathias Greffrath, Chefredakteur der Wochenpost, Anfang 1993 einmal fest. Verschwunden ist mit der Ziffer 9 auch vieles andere in den beiden deutschen Staaten. 25 Jahre nach der Blatt-Fusion ist die Bundesrepublik nicht mehr wiederzuerkennen. Die kleine „innere Einheit“, die es damals zu schmieden galt, und die der Freitag wie in einem Kleinstlabor vollzog, musste sich republikweit in den folgenden 25 Jahren erst noch bewähren

Info

Dieser Artikel ist Teil der Jubiläumsausgabe zum 25. Geburtstag des Freitag

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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