Feminismus, antwortete sie auf die Frage einer jungen Interviewerin, sei eine Frage der Intelligenz. Das war zu einer Zeit, als der Feminismus noch nicht zum mainstreamfähigen medialen Hintergrundgeräusch geworden war und man mit diesem Etikett aus der Zeit gefallen schien, so wie sich auch Silvia Bovenschen teilweise als „unzeitgemäß“ empfand.
Das jedenfalls notierte sie vor gut zehn Jahren in ihrem aus Erinnerungssplittern zusammengesetzten Rückblick Älter werden auf ein vorläufiges Leben, das nicht zuletzt schicksalhaft von ihrer Multiplen Sklerose geprägt worden war. Mit einer chronischen Krankheit kann man in Deutschland nämlich nicht verbeamtet werden. Und so wurde die 1946 geborene, in Frankfurt aufgewachsene und dort promovierte Literaturwissenschaftlerin keine ordentliche Professorin, wie es ihr eigentlich zugekommen wäre. Denn wann passiert es schon, dass eine Dissertation eine solche akademische Breitenwirkung entfaltet wie die 1979 in der Edition Suhrkamp erschienene Studie Die imaginierte Weiblichkeit (wie übrigens Judith Butler 25 Jahre später in Rot gebunden), in der die schlichte Frage gestellt wird, wie es kommt, dass Frauen zwar immer und überall als Objekte männlicher Fantasien herhalten mussten, als Autorinnen selbst aber nicht oder selten in Erscheinung traten. Es war die richtige Frage zur richtigen Zeit, und ihre dialektisch an Theodor W. Adorno geschulten Überlegungen beeinflussten eine ganze Generation von Studentinnen.
Auch wir pilgerten in den 1980er Jahren im Rahmen eines Seminars einmal nach Frankfurt, um die Frau zu erleben, die der Kränkungsgeschichte des Weiblichen auf die Spur gekommen war. Ich erinnere mich noch lebhaft an diesen Nachmittag an der Universität, an die elegante, ein bisschen unnahbar wirkende Frau, die manch naiver Frage mit nachsichtiger Ironie begegnete. Eine „mütterliche“ Person, die einen unter die Fittiche genommen hätte und die manche von uns suchten, war Bovenschen sicher nicht. Ihr messerscharfer Verstand und ihr zugespitztes Denken machten sie zu dem, was in der deutschen Tradition so paradox erscheint: eine Intellektuelle.
Selbstmitleid war ihr fremd
War Frankfurt Bovenschens akademischer Bezugspunkt, so wurde Berlin, wohin sie 2001 übersiedelt ist, der Ort, an dem sie ihre essayistische und schriftstellerische Seite entwickelte und wo sie mit ihrem „feuerroten Spielmobil“, dem Gefährt, das ihr ihre Mobilität erhielt, den Straßenverkehr unsicher machte. Hier entstand das besagte und, wie ich finde, schönste Buch Bovenschens, Älter werden, dieser auf dem schwankenden Boden der Erinnerung fußende Rückblick auf die Frankfurter Nachkriegsgesellschaft, die wortreich verdrängte Vergangenheit und den Einfluss der amerikanischen Kultur durch die dort stationierten GIs.
Es ist aber auch eine beißende Polemik gegen die zunehmende Altersdiskriminierung, eine Kritik, die in der Humoreske Nur Mut von 2013 in einer Wohngemeinschaft vier alter Frauen wieder aufscheint. Die im engeren Sinn literarische Bühne hatte Bovenschen schon zwei Jahre zuvor mit der Geschichte des heruntergekommenen Schriftstellers Georg Laub (Wie geht es Georg Laub?) betreten. In Sarahs Gesetz von 2015 erinnert die Autorin an ihre Lebensgefährtin, die Malerin Sarah Schumann, mit der sie bis zu ihrem Tod vergangene Woche im Berliner Stadtteil Charlottenburg zusammengelebt hat. Insofern hat die sowohl als Essayistin als auch als Schriftstellerin mit Preisen gewürdigte Literaturwissenschaftlerin vorgeführt, wie nicht nur dem Schicksal ein Schnippchen zu schlagen ist, sondern auf welche Weise man sich den weiblichen Zurichtungen und dem normierten Bildarsenal des Weiblichen entziehen kann mittels Selbstironie, denn Selbstmitleid erlaubte sie sich nie. Den verkannten Dichtern, schrieb sie einmal, habe sie ihr Halbdunkel gegönnt. Nicht in aller Munde gewesen zu sein, sei auch ein Schutz.
In den letzten Jahren ist auch Silvia Bovenschen nicht mehr häufig öffentlich aufgetreten, Interviewvorhaben wurden durch ihre fortschreitende Krankheit vereitelt. Sie war vielleicht nicht in aller Munde (ein Ausdruck, den sie „etwas eklig“ fand), aber vieles von dem, was sie geschrieben hat und posthum noch erscheint, bleibt in unseren Köpfen. Das würde ihr auch besser gefallen.
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