Durch die Zeit zu reisen ist deshalb die faszinierendste aller Wunschfantasien, weil wir uns ihrem unerbittlichen Lauf nie werden entziehen können. Doch wer weiß. So ziemlich alles andere, was früher als unmöglich galt, ist ja mittlerweile alltäglich. Im digitalen Zeitalter ist ohnehin jene Ungleichzeitigkeit der Zeit, die noch bis in die 1980er-Jahre in entlegenen Gegenden der Provinz oder den windstillen Ecken der Metropolen existierte, vollends verschwunden. Ebenso wie jene Exzentriker, die sich starrköpfig gegen die Eroberung der Vergangenheit durch die Gegenwart stemmen.
Dennis Severs war einer von ihnen. Dass er auf verlorenem Posten stand, war ihm wohl bewusst, hat ihn glücklicherweise aber nie irritiert. Fast 20 Jahre lang öffnete er an ein pa
an ein paar Tagen pro Monat sein wundervolles Haus im Londoner East End, um Besuchern ein Erlebnis zu bieten, das man nie wieder vergessen sollte. Klingt hochgegriffen, aber stimmte dennoch: Verließ man das verwunschene Haus in 18, Folgate Street als dieselbe Person, als die man es betreten hatte, war einem wirklich nicht zu helfen.Severs war ein Magier der dritten und vierten Dimension – er verzauberte Raum und Zeit. Das konnte ich bei meinem nun schon ein Vierteljahrhundert zurückliegenden Besuch am eigenen Leib erleben: Sobald man die ausgetretene Holzschwelle seines Hauses aus dem frühen 18. Jahrhundert überschritt, trat man in eine Art Zeitkapsel ein. Ein langer, dunkler Gang war der erste Eindruck. Der Parkettboden ist uneben, jeder Schritt knarrt. Alles in Schwarz gestrichen, doch überall blättert die Farbe ab wie Birkenrinde. Durch den Spalt der Tür zur Rechten dringt ein dünner Lichtstrahl. Ein üppig gedeckter Esstisch lässt sich ausmachen, hinter dem ein knackendes Holzfeuer im Kamin brennt.Die Türrahmen der einzelnen Zimmer, so erklärte mir Severs, seien als Bilderrahmen zu verstehen, durch die man in lebendige, dreidimensionale Bilder eintritt. In der Tat: Man betrat das Zimmer – und war überwältigt. Ein Haus als Zeitmaschine: Der große Holztisch ist für ein üppiges Mahl gedeckt. Überall brennen Kerzen. Halbleere Rotweingläser. Eine wohlgefüllte Obstschale. An dem Stuhl am Kopf der Tafel hängt die gepuderte Perücke des Hausherren, Mr. Jervis. An der Wand zwei Ölportraits von ihm und seiner werten Gattin. Dem stolzen Gesichtsausdruck nach zu schließen müssen es angesehene und wohlhabende Bürger sein. Hugenottische Seidenweber wohl, die sich allenthalben hier in Spitalfields niederließen. Von den Bewohnern des Hauses ist eine deutlich spürbare, geradezu unheimliche Präsenz zurückgeblieben – und ihre schwarze Katze, die schlafend in der wohligen Nähe des Kamins liegt.Wie bei den HugenottenAls „Theater der Vergangenheit“ verstand der Individualist Severs sein Haus, ein Bollwerk gegen die Zumutungen der Moderne. 1967, als 18-Jähriger, kam er aus Kalifornien nach London, fasziniert von der Kultur Europas. Das wohl um 1720 erbaute Haus kaufte er 1979. Es war vollkommen heruntergekommen, so wie ganz Spitalfields und Whitechapel, die beiden Emigrantengettos Londons. Auf die hugenottischen Seidenweber im 18. Jahrhundert folgten im 19. und frühen 20. Jahrhundert vertriebene polnische und russische Juden. Ab den 1960er-Jahren waren es hauptsächlich Bangladescher, die sich im ärmlichsten Teil der britischen Kapitale ansiedelten.„Als ich herkam, konnte man noch die Kuppel der St. Paul’s Cathedral sehen“, erzählte mir Severs. Die während der Ära des Realkapitalismus unter Premier Margaret Thatcher hochgezogenen Türme des Finanzdistrikts verstellten ihm dann den Blick. „Wenn ich jetzt aus dem Fenster schaue, denke ich oft, ich sehe Gotham City“, sagte er verschmitzt. 25 Jahre ist das her. Eigentlich kaum mehr als ein paar Augenblicke im ausgebremsten Zeitkosmos des Dennis Severs.Unlängst war ich wieder in der Folgate Street. Um nachzuschauen, ob noch alles beim Alten ist in seinem Haus. Dennis war ein Jahr nach unserem Gespräch an den Folgen einer Aids-Erkrankung verstorben. Ein enger Freund kümmert sich nun um das Haus. Heutzutage meldet man sich per Internet an und wird stündlich in Gruppen von bis zu 14 Personen eingelassen. Kaum habe ich die Schwelle überschritten, umfängt mich wieder die ganze Magie dieser einmaligen Zeitarche. Allerdings nicht lange. In der Küche etwa fehlen die intensiven Kräutergerüche. Oder Geräusche wie das Prasseln des Feuers im Wohnzimmer. Zwar tickt die große Standuhr dort noch wie eh und je, um das Vergehen einer anderen Zeitordnung erfahrbar zu machen, dennoch will sich der alte Genius Loci nicht mehr wirklich einstellen, durchstreift man heute das Haus von Stockwerk zu Stockwerk, von Zimmer zu Zimmer.Früher konnte man sich dort frei treiben lassen. Jetzt muss man das Gebäude in der vorgeschriebenen Reihenfolge durchlaufen. In jedem Raum wartet bereits ein Aufpasser. Als ich vor 25 Jahren die ärmlichen Wohnquartiere des Dienstpersonals im dritten Stock betrat, schlug mir ein stechender Geruch entgegen: eine höchst unangenehme Mischung aus Zwiebeln, Schweiß und abgestandenem Urin. Die in einem Bottich vergessene Wäsche stank erbärmlich. All diese olfaktorischen Zumutungen kamen einer Prüfung gleich.Die Beschleunigung der Moderne hat die Zeitarche in ein typisches Museum verwandeltMittlerweile aber wirkt alles fast steril. Keine Magie mehr, nur noch Museum, so wie sonstwo. Früher stach gerade das Fehlen der üblichen „Do-not-touch“-Schilder ins Auge; heute bitten Aufsteller darum, den Krimskrams und die Antiquitäten, die Severs jahrelang auf den Straßenmärkten des East Ends zusammengekauft hatte, nicht zu stehlen. Dinge also wie das fast 200 Jahre alte Stachelkleid eines Igels, das an der Wand des Raucherzimmers hängt. Als ich Dennis damals darauf ansprach, erklärte er mir, dass man im 18. Jahrhundert die Stacheln als Zahnstocher benutzte. Eine Tradition, die er fortführte.Alles eine schmerzliche Einsicht für mich: Das Beschleunigungsgeschäft der Moderne hat im letzten Vierteljahrhundert, trotz der beständig zugezogenen Vorhänge, selbst vor der Zeitarche des Dennis Severs nicht Halt gemacht. Das ganze East End ist ohnehin kaum wiederzuerkennen. Die Gentrifizierung sorgte für einen veritablen Bevölkerungsaustausch: Immobilienpreise explodierten, die ehemalige Truman Brewery transformierte zum Hipsterquartier, während die alteingesessenen Curry Houses auf der Brick Lane eines nach dem anderen verschwinden.In den aufwendig renovierten Häusern Spitalfields’, in denen früher Migranten und Tagelöhner lebten, sieht man jetzt beim Vorbeigehen durchs Fenster originale Siebdrucke von Andy Warhol an der Wand. Das einst stilvoll heruntergekommene Arbeitercafé, in dem das Künstlerpaar Gilbert & George jahrzehntelang Lunch aß, ist heute ein exquisiter Innenausstattungsladen für Kolonialstil. Wie passend. In einer solchen vom kapitalistischen Fortschritt kolonisierten Umgebung kann und darf das Alte nicht mehr beim Alten bleiben. Gegenüber von Dennis Severs’ Haus befindet sich nun ein Hotel, so wurde es vom Tourismusstrom ergriffen.„Das Haus soll so etwas wie Sand im Getriebe unserer Gegenwart sein“, erklärte mir Dennis 1998. Hört man des Nachts, wenn es stiller wird in Spitalfields, etwas leise knirschen, so ist es wohl sein Haus. Aber wie lange noch?
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