Schweig. Leide

Vertreibung Natascha Wodin verwandelt den Terror ihres Vaters in große Literatur
Ausgabe 40/2018

Kurz nach der erschütternden Spurensuche im Leben der früh durch Selbstmord gestorbenen Mutter kommt nun ein kaum weniger schockierendes Buch über den Vater: Für Sie kam aus Mariupol erhielt Natascha Wodin letztes Jahr – zurecht – den Buchpreis der Leipziger Buchmesse. Nicht nur erforschte Wodin die Leidensbiografie ihrer Mutter, sie zeigte zugleich am Schicksal der osteuropäischen Zwangsarbeiter ein weithin unbekanntes Kapitel in der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts auf. Indem sie dabei auch vom Hass berichtete, der „displaced persons“ wie ihrer Familie in der fränkischen Provinz der Nachkriegszeit entgegenschlug, erzählte sie freilich ebenso von aktuellen Entwicklungen.

Nun also ist der Vater dran: Irgendwo in diesem Dunkel zeigt ihn als einen gewalttätigen, trunksüchtigen Mann, um Jahrzehnte älter als die Mutter. Allerdings ist er gesegnet mit einer außergewöhnlichen Singstimme, die ihm ein Dauerengagement beim Don-Kosaken-Chor einbringt. Oftmals, etwa als die depressive Mutter sich mit nur 36 Jahren in der Pegnitz ertränkt, ist er auf Tournee. Ist er jedoch zu Hause, so terrorisiert er seine Familie, die unter ärmlichsten Bedingungen in einer Stadtrandsiedlung für ehemalige Zwangsarbeiter lebt. Alkoholisiert macht der Vater einmal sogar Anstalten, die Tochter zu vergewaltigen. Doch im letzten Augenblick zögert er. Die Schere, welche das Mädchen im Verborgenen bereithält, kommt nicht zum Einsatz.

Es ist dies nur eine der vielen fürchterlichen Episoden aus Kindheit und Jugend, die Wodin in diesem Buch erzählt. Als Leser wünscht man sich, der autobiografische Bericht möge zu einem beträchtlichen Teil erfunden sein, etwa die Doppelvergewaltigung durch einen iranischen Studenten. Gleichwohl, man muss leider annehmen, dass hier ebenso die Wahrheit erzählt wird. So etwa wenn es um die Züchtigungen geht, die Wodin als Elfjährige während ihrer Zeit in einem von katholischen Nonnen geleiteten Kinderheim erdulden muss. Oder die Umstände ihrer selbst herbeigeführten Abtreibung als Notfallmaßnahme nach den Vergewaltigungen, die nicht nur ihre ersten sexuellen Erfahrungen waren, sondern eben gar zu einer ungewollten Schwangerschaft führten.

Über die erlittenen Traumata schreibt Wodin im Duktus einer distanzierten, mal bewusst naiven, mal sogar ironischen Haltung. Die schreckliche Geschichte vom Tod des verhassten Vaters rekapituliert sie so: „Es war genau das eingetreten, was ich mir als Mädchen so sehnlich gewünscht hatte: Er sollte leiden, er sollte alt, krank, hilflos und auf mich angewiesen sein.“ Wodin beschreibt nun genauestens, wie sie zwar Rache- und Machtfantasien entwickelt, zugleich aber töchterliche Verantwortung spürt, weil das körperliche Elend ihres Erzeugers sozusagen kreatürliches Mitleid auslöst.

Als Russin geschmäht

Mit dem Ende der Schreckensherrschaft des Vaters über sie beginnt Wodin den Versuch, das Schweigen zu brechen, dass der Vater lebenslang bewahrte. Anhand der rekonstruierten Biografie der Mutter gelang es Wodin, im vorhergehenden Buch zu zeigen, wie eine Seele zerbricht am ganzen Wahnsinn der totalitären Geschichte des 20. Jahrhunderts. Der Vater, der all dies gleichfalls nur durch glücklichen Zufall überlebte, wollte nie darüber sprechen. Durch Zufall findet sie eine Spur nach Russland und kann dort einen Bruder ihres Vaters ausfindig machen. Doch auch er hält sich ehern an den Schweigecode. Seine Frau verweigert ohnehin jeden Kontakt mit der fremden „Deutschen“, welche wiederum die meiste Zeit ihres Lebens in Deutschland als unwillkommene „Russin“ geschmäht wurde.

Es liegt auf der Hand, dass Natascha Wodin zu einer Schriftstellerin wurde, weil sie ein existenzielles Bedürfnis spürte, gegen das sie umschließende Schweigen anzuschreiben, und dies in der Sprache jener Gemeinschaft, die sie jahrzehntelang als unzugehörig behandelte. Mit dem Doppel der autobiografischen Bücher über ihre Eltern hat Natascha Wodin sich einen Platz in der vordersten Linie der deutschen Literatur erobert.

Info

Irgendwo in diesem Dunkel Natascha Wodin Rowohlt Verlag, 2018, 239 S., 20 €

Cut, Land und paste

Die Bilder dieser Ausgabe stammen von Künstlerinnenkollektiv Live Wild.

Ein Mix aus Collagen, GIFs, Video und Fotografie ist das, ein wildes Manifest: Das Kollektiv Live Wild will das Erbe der Dadaisten und der Fluxus-Bewegung antreten. Sieben junge Künstlerinnen bilden das Kollektiv, die Gründerin Camille Lévêque sieht Künstlerinnen zu sehr auf feministische Aspekte reduziert. Als hätte Kunst von Frauen keine andere Dimension. Das Kollektiv will mehr, „we are DADA-mad“. Mit dabei: Lila Khosrovian, Anna Hahoutoff, Marguerite Horay und Charlotte Fos, die Armenierin Lucie Khahoutian, die Ukrainerin Ina Lounguine. Sie leben und arbeiten verstreut in Europa, Russland, den USA und Kanada. Sie treffen sich jeden Tag online und auf Instagram. Mehr zur Philosophie auf: www.thelivewildcollective.com

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