„Qualität“, sagte mir Christina Matte einmal, „war auch in der DDR nicht verboten.“ Der Satz der früheren Feuilleton-Redakteurin fällt mir zuerst ein, wenn man mich nach dem ND fragt. Wie sie vor 1989 geschrieben hatte, habe ich zwar nie nachgesehen. Doch danach hatten ihre Texte eine ungeheure Qualität. Sie schrieb Porträts über manchmal besondere, oft aber auch sehr normale Menschen. Sie schilderte dicht, klang aber zurückhaltend. Sie versuchte nicht, als Reporterin zu glänzen. Und war auch nicht darauf aus, die Leben, von denen sie erzählte, „exemplarisch“ zu „verdichten“, also zu etwas Kleinem zu erklären, in dem sich Großes zeige – und das nur deswegen der Rede wert sei. So ste
Abschied vom Tantchen: Das „nd“ kämpft um seine Existenz
Medien Velten Schäfer stieß 2002 zum „nd“ und hatte fast 20 Jahre mit der Zeitung zu tun. Sein Blick auf ein Blatt, das immer mehr sein musste oder wollte als eine Zeitung

Illustration: der Freitag
sei. So stellte sie mir eine Frage, die wohl ihre Botschaft war: Reicht’s denn nicht, dass das ein Mensch ist?Fast 20 Jahre hatte ich mit dem Blatt zu tun, dessen Redaktion nun, gerade erst als Genossenschaft formiert, SOS funkt. Das trifft mich auch persönlich. Denn beim „Tantchen“, wie wir Jüngeren in den nuller Jahren die Zeitung nannten, habe ich nicht nur das Handwerk gelernt, etwa von Uwe Kalbe, heute in Rente. Es hat mich auch erwachsen werden lassen.Gerade beim „alten ND“, als der Titel noch aussah wie in der DDR und das Kollektiv irgendwie auch, erlernte nämlich der selbstgerechte, gesinnungsstarke, westdeutsche Polit-Aktivist, der ich war, eine gewisse Liberalität. Zwar saß Tantchen, wie eine große Zeitung einmal über den damaligen Kommentarchef Frank Wehner schrieb, zuweilen „noch immer im Schützengraben“. Aber das vor 1989 so schneidende Blatt konnte auch sehr weich und betulich sein. Das spiegelte die Stimmung einer Belegschaft, die sich – anders als jene journalistischen Blockflöten, die anderswo unter neuer Führung den Ball flach hielten – für die Geschichte angreifbar machte: Es ist niemand ohne Schuld und Fehler, also etwas Vorsicht beim Steinewerfen!Was dem Nachwuchs nutzte, ärgerte das PublikumFür einen Nachruf ist es noch zu früh. Aber eine Zwischenbilanz dieser Zeitung muss so lauten: Das Nachwende-ND war eine hochproduktive Journalismusakademie – „Learning by Doing“ sowie „Versuch und Irrtum“. Bei meinem ersten Seite-eins-Kommentar war ich seit sechs Wochen Volontär. Nirgends ließ man die Jungen so rasch an große Themen und auf prominente Plätze. So lernte man schnell. Und diese Schule hat, obwohl ND in der Vita nicht gerade ein Türöffner ist, beachtliche Laufbahnen gestartet. Sie führen nicht nur zu taz, Freitag und anderen Berliner Medien, sondern auch zu den Öffentlich-Rechtlichen sowie zu prominenten Hamburger Titeln.Doch was dem Nachwuchs nutzte, ärgerte das Publikum: Es ist nicht immer das reine Vergnügen, solche Lernprozesse quasi live in der Zeitung mitzuverfolgen. Zumal in jüngster Zeit, seit sich das Personalkarussell am Franz-Mehring-Platz immer schneller dreht, merkt man, dass es zu wenig Erfahrene gibt, von denen zu lernen wäre. So lässt einen das Blatt oft etwas ratlos zurück. Das ND hat versierte Leute, von Eva Roth über Stephan Kaufmann bis hin zu Christof Meueler und anderen. Die Gestaltung ist ansprechend, in jeder Nummer gibt es gute Stücke. Und doch entsteht, zumal in den Tagesausgaben, mitunter ein leichtgewichtiger Gesamteindruck.Das ist die eine Diagnose, die jetzt beim Austausch von Ehemaligen oft fällt. Eine andere ist folgende: Zwischen taz, Freitag, Junger Welt, Jungle World und der Monatszeitung analyse & kritik gebe es keinen Platz für diese Zeitung. Das teile ich nicht: Wieso sollte das nd mit diesen Titeln grundsätzlich nicht konkurrieren können? Es ist aber auch was dran an dem Argument: Das Blatt hatte einen natürlichen Platz in der Presselandschaft. Es konnte oder wollte ihn nur nie einnehmen.Das Modell ParteizeitungAls ich 2002 dazustieß, warb das ND mit dem Slogan „Die Linke unter den Großen“. Da schwang eine Idee nach, die kurz nach der Wende unter Titeln wie Ostdeutsche Zeitung oder Neue Ostdeutsche im Hause umging: die große, irgendwie linke, überregionale Zeitung im Osten. Natürlich hätte ein neuer Name nicht gereicht. Mit der Partei als Eignerin ging es nicht.Wie ernsthaft waren diese Pläne? Woran scheiterten sie? Wollten die Leserinnen und Leser „ihr ND“ behalten? Wollte die PDS den Daumen drauflassen? Ging es um die Vorstellungen der Belegschaft – oder um wirtschaftliche Möglichkeiten, die nach Wendeschock und einer Phase destruktiver Treuhand-Zwangsverwaltung begrenzt waren? Es mag Leute geben, die das wissen; ich gehöre nicht dazu. Denn obwohl Tantchen mich irgendwann ins Herz geschlossen hatte, blieben solche Erzählungen stets blumig und vage. Dass sie aber 15 Jahre später noch präsent waren, fand ich bemerkenswert. Und bis heute zeigt ja jede Untersuchung über Medien im Osten, dass jener Platz vakant geblieben ist. Die Ossis verschmähen die Überregionalen, weil diese nicht für sie gemacht sind. Was, wenn die Partei es schon damals gewagt hätte, das Blatt in eine Genossenschaft zu entlassen? Warum hätte nicht klappen sollen, was bei den Ex-Bezirksparteiblättern ging, die bis heute die Szene im Osten bestimmen?Mit der Entscheidung für die Parteizeitung fielen die Würfel anders. Zu welchem Ende? Punktuell hat die „eigene Zeitung“ der PDS geholfen. Im Vorfeld ihrer Wiedergeburt als Die Linke spielte sie eine Rolle – als Kontaktraum zwischen enttäuschten Westlinken und jener seltsamen Kraft im Osten. Ich bin ziemlich sicher, dass eine zeitweise von mir redigierte Kolumne auf der „Gewerkschaftsseite“ einem Stuttgarter Verdi-Sekretär namens Bernd Riexinger erste regelmäßige Auftritte vor einem breiten Alt-PDS-Publikum bescherte.Man darf sie sich nicht à la DDR vorstellenAndersherum war die Beziehung weniger fruchtbar: Der denkbare Vorteil, das Fachblatt für diese Partei zu sein, realisierte sich nur kurz – während der Gründungsphase der Linkspartei, als die späteren Chefredakteure Wolfgang Hübner und Tom Strohschneider noch die Zeit hatten, sich in dieses Getümmel zu stürzen. Danach war es eher so, dass man aus Bundestag und Parteispitze „exklusiven“ Kleinkram bekam – und von den großen Dingen aus taz, Süddeutscher, FAZ oder Welt erfuhr. Wurden Wahllisten aufgestellt, erstickte man in Partei-Mails; im Normalbetrieb hingegen war der lustlose Rückruf kurz vor Redaktionsschluss nicht selten.Die Parteibindung darf man sich zwar gewiss nicht à la DDR vorstellen – anderswo waren Chefredaktionen invasiver. Dennoch war es ein Problem, dass die Zeitung immer einen Zweck jenseits ihrer selbst im Hinterkopf hatte. So vollzog sie stets nolens volens die Parteientwicklung nach, wenn sie diese nicht vielleicht sogar vorwegnahm: Mit der neuen Linkspartei fielen das tantchenhaft Kümmernde, die „Ostkompetenz“ auch im Blatt – mit Ausnahme der guten Sachsen-Korrespondenzen von Hendrik Lasch – zugunsten einer bundespolitischen Orientierung zurück. Die Kleinschreibung des Titels seit 2011 zeugte davon. Und als neues deutschland im Jahr 2020 zu nd wurde, sollte das offensiv den Bruch mit der Geschichte und dem historischen Ort der Zeitung signalisieren, im Vorgriff auf den Rückzug der Partei aus der Zeitung, der sich schon abzeichnete.Seit gut einem Jahr ist das nd nun „frei“, vogelfrei genauer: Das erhebliche, in einem epischen Nach-Wende-Rechtsstreit gegen die Deutsche Bahn gesicherte Betriebsvermögen – jenes Bürohaus in bester Lage, auf dessen Dach noch „Neues Deutschland“ steht – wurde ihm entzogen. Nun muss es sich bei Kosten- und Produktionsdruck auch noch neu erfinden. Was da hilft, sind Abos, keine Tipps von Leuten, die den Hut genommen haben – und zu deren Zeiten ein Turnaround ja auch nicht gelang. Dennoch sei die Bemerkung eines Gelegenheitslesers gestattet: Jüngst sah ich den neuen Slogan: „Zu links für dich“, nicht mal mit Fragezeichen. Schön frisch und frech, und trotzdem dachte ich: Vielleicht ist genau das ein Teil des Problems.Heute klingt das Blatt wieder so schneidig wie vor der WendeDer „Linkspluralismus“, den man ausgerufen hat, bewegt sich in recht engen Grenzen. Ideenbasis und Jargon sind neu, doch das Blatt klingt heute oft wieder so schneidig, so unnachgiebig urteilend wie vor der Wende, entsprechend leicht ist es auch auszurechnen. Überraschende Sichtweisen und – horribile dictu? – unterhaltende Stücke, gar solche, die nur spielen wollen wie einst die Werke des Theaterredakteurs Hans-Dieter Schütt, sind selten geworden. Vielleicht auch, weil man den Parteibezug sofort durch einen neuen höheren Zweck jenseits der Zeitung ersetzt hat: „Sprachrohr der Bewegungen“ sein zu wollen.Zum alten Tantchen aus dem Osten, das ist klar, führt kein Weg zurück. Aber wenn ich das Blatt aufmache, denke ich stets an die leider verstorbene Kollegin Christina. Vielleicht wäre es gut, sich hin und wieder klarzumachen: Das, womit man sich auseinandersetzt, sind nicht nur Exemplare von „Positionen“, „Diskursen“ oder „Narrativen“, sondern zuerst: Menschen.