Ernst Toller sollte Pflichtlektüre in der Schule werden
Rezension Thomas Mann und Max Weber waren von ihm begeistert: Doch der Revolutionär Ernst Toller wurde aus dem westdeutschen Kanon verdrängt. Ernst Pipers Neuauflage von „Eine Jugend in Deutschland“ kann das korrigieren
An der „Verantwortungs-“ und „Gesinnungsethik“ kommt man bis heute schon an deutschen Gymnasien kaum vorbei. In seinem posthumen Klassiker Politik als Beruf umriss der 1920 verstorbene Max Weber mit diesem Begriffspaar die Grundformen politischen Handelns: Die erstere bedenkt etwaige Nebenwirkungen einer Aktion und Agenda, die letztere orientiert sich allein an Vorstellungen von richtig und falsch. Weniger bekannt ist, dass Weber – obwohl es im Text um die Spaltung der Liberalen im Preußischen Verfassungskonflikt der 1860er geht – für den Typus des Gesinnungsethikers ein konkretes Beispiel vor Augen hatte: den Schriftsteller und sozialistischen Revolutionär Ernst Toller, den er 1917 als Studenten in seinen Konversationskreis eingeladen hat
ngeladen hatte und von dem er so beeindruckt war wie umgekehrt Toller von ihm.Von dem Ritterschlag, als Realexempel eines Idealtyps in des Großsoziologen Kopf gespukt zu haben, weiß man nicht aus der jetzt von Ernst Piper frisch für die Andere Bibliothek editierten und mit einem knappen biografischen Porträt versehenen Ausgabe von Tollers Autobiografie Eine Jugend in Deutschland – sondern aus der 2011 bei Reclam erschienenen Ausgabe, die mit einem umfangreichen Nachwort von Wolfgang Frühwald ausgestattet ist. Der profilierte Kenner der deutschen Exilliteratur und besonders Ernst Tollers zeichnet darin akribisch nach, zu welcher intellektuellen Prominenz der 1893 geborene und 1939 durch Suizid aus dem Leben geschiedene Toller sich in den nur zwei Jahrzehnten seines Wirkens aufgeschwungen hatte. Piper stellt ganz zu Recht fest: Ernst Toller war nicht nur einer der im Weimarer Deutschland meistgespielten Bühnenautoren, sondern auch „nach 1933 der am meisten gefeierte deutsche Exilschriftsteller“, an dessen Bedeutung „allenfalls Thomas Mann“ heranreichte. Ja genau, Thomas Mann.Außerhalb engerer Fachkreise ist das ein spektakulärer Befund. Denn anders als im Fall des kanonischen Lübeckers kann man im Bundesdeutschland von heute nicht nur ein Gymnasium, sondern auch ein – sogar geisteswissenschaftliches – Studium durchlaufen, ohne von Ernst Toller auch nur gehört zu haben. Für sein Verschwinden aus dem Ensemble der Household Names gibt es Gründe. Es wirkt dabei etwa das starre und auch etwas verzerrte Weimar-Bild, das sich die Bundesrepublik zurechtlegte, um sich als Nachfolgestaat legitimieren zu können: Demnach war nach dem „Zusammenbruch“ der Monarchie irgendwie „die Demokratie“ vom Himmel gefallen, um alsbald von einer tapferen Mitte gegen Extremisten von rechts und links – oder umgekehrt – verteidigt zu werden.In dieses Bild war nun einer wie Toller, der kurzzeitige Zentralratsvorsitzende der Münchner Räterepublik, der Anführer der roten Truppen in der „Schlacht um Dachau“, als linker Gefährder einzuzeichnen. So sehr er später, nach Standgericht und Haft, auch Literaturstar geworden war, er passte nicht in den Korridor des Akzeptablen. Für die inzwischen so selbstbewusste westdeutsche „Erinnerungskultur“ ist es bezeichnend, dass sie noch dem zwei Jahre nach Toller geborenen Ernst Jünger mehr Raum zugestand, der seine Weltkriegserfahrung in einen mythisch raunenden, heroischen Waldläufer-Nationalismus überführte statt in einen humanistisch-revolutionären, sozialistischen und internationalistischen Pazifismus.In etwa das müsste vorausschicken, wer sich zum Beispiel entschlösse, Heranwachsende mit dieser schön gestalteten, historisch bebilderten und haptisch hochwertigen Neuauflage der Jugend in Deutschland zu beschenken. Denn Tollers Autobiografie schrumpft leicht zu einer folgenlos verschlingbaren Abenteuergeschichte, wenn man nicht weiß, wohin ihr Autor eigentlich gehörte – wie gesagt: gleich neben Thomas Mann: Trotz seines „Ekels“ gegenüber der Räterepublik war dieser, wie Frühwald berichtet, schon vom jungen Toller fasziniert genug, um ihn zu sich einzuladen. Und als Toller nach der Niederschlagung der Räterepublik vor Gericht stand, legte er eine Art Gutachten vor, das Thomas Mann über seinen Erstling Die Wandlung verfasst hatte. Auf Basis dieses literarischen Leumundszeugnisses wurde das Tatmotiv „Ehrlosigkeit“ nicht festgestellt – und Toller entging einer schärferen Strafe als die fünf Jahre, die er dann absaß.Damit soll freilich nichts gegen die Verschlingbarkeit der Jugend in Deutschland gesagt sein. Im Gegenteil hebt sich diese angenehm von der etwas anstrengenden Gelehrsamkeit ab, die etwa Manns autobiografische Texte in Über mich selbst auszeichnet. Im Verein mit der dialogischen Schreibhaltung eines Bühnenautors sorgen Reste des expressionistischen Hangs zur Überzeichnung sowie der Realismus der Neuen Sachlichkeit, zu der man den Toller der späteren 1920er Jahre zählen kann, für eine kraftvolle Erzählung mit Tempo und Spannung. Tollers Anspruch, mit seinen Erinnerungen auch ein Stück Zeitgeschichte populär zu machen, wird so vollumfänglich eingelöst.Nur wenige Seiten voll Kindheitsanekdoten braucht der Autor, um etwa die komplexen Hierarchien in den kaiserzeitlichen „Ostgebieten“ plastisch zu machen: Als Deutschsprachiger stand der junge Toller über den Polen und als Kaufmannssohn über den Arbeitern, doch als Jude fühlte er sich immer wieder auch ganz unten. Ohne große Gefühlsberichterstattung – hiervor schreckte der instabile Toller vielleicht auch aus persönlichen Gründen zurück, für den körperlichen und seelischen Kollaps, der ihn 1916 kriegsuntauglich machte, nimmt er sich nur wenige Zeilen – macht er seine Kriegswendung vom freiwilligen Hurra-Patrioten zum sozialistischen Pazifisten emotional greifbar. Und seine belebte Darstellung der Jahre von Revolution und Konterrevolution irritiert – auf eine ähnliche Weise wie Sebastian Haffners Der Verrat – jenes bis heute gefühlte Weimar-Wissen, nach dem die Republik die Sache einer bürgerlichen Mitte zwischen den Mühlsteinen der „Extremismen“ gewesen sei: Die Republik erscheint hier eher als Zwischenstadium einer großen Rollback-Bewegung, in der sich die alten Eliten zunächst behaupteten und sich dann jene neuen, radikalreaktionären Kräfte heranzogen, die sie später überflügelten und im Sinne selbst ihrer Erfinder übers Ziel hinausschossen.Abseits der Frage, ob man selbst einer so lobenswerten Reihe wie der Anderen Bibliothek stolze 48 Euro für einen seit 2010 gemeinfreien Text überweisen will, gehört die Jugend in Deutschland zu den Büchern, die Pflicht werden sollten. Gerade Heranwachsende läsen es sicher lieber als etwa Manns zähen Zauberberg, der für viele noch immer in der Schule zu besteigen ist. Doch so sehr sich Tollers Erinnerungen als historisch-politisches Zeitzeugenbuch empfehlen, so seltsam bleibt sein Status eines Schriftstellers, von dem man die Autobiografie kennt, aber nicht das Werk.Seit etwa 1970 widmete man sich gelegentlich seinen Stücken: Von Die Maschinenstürmer (1922) oder Hoppla, wir leben! (1927) gibt es etwa gelungene Hörspieladaptionen – und in den 1990ern verhalf die „Tollertopografie“ Zwischen zwei Feuern Albert Ostermaier zum Durchbruch. Insgesamt aber ist Ernst Tollers Werk denkbar weit weg von dem Platz, der ihm gebührte. Liegt das nicht, wie man bisweilen zwischen den Zeilen liest, auch an Tollers Hinterlassenschaft selbst? Sind seine Stücke nicht sperrig, mal kryptisch, mal erwartbar? Wer so fragt, zäumt das Pferd von hinten auf. Denn der eigentliche Grund für das Verschwinden des Ernst Toller ist das Verschwinden seines Publikums. Wo das grundkonservative, vermeintlich „unpolitische“ Bürgertum, aus dem und für das Thomas Mann schrieb, in der Bundesrepublik rasch seine Fähigkeit wiedererlangte, die legitime Kultur zu bestimmen, bleibt auch nach dem Zweiten Weltkrieg die linke Hälfte des Weimarer Geisteslebens nachhaltig amputiert.Die Alltagsverständnisse, die politisch-ästhetischen Praktiken, auf die sich Toller bezog, wurden mit ihren Trägergruppen im Hitlerstaat verbrannt und blieben im Kalten Krieg verdrängt. Daran änderte auch 1968 nicht viel: Was danach an Kritik in den Diskurs- und Kulturbetrieb einzog, wurde zumeist importiert – aus Frankreich, vor allem den USA; vielleicht ist die Lücke zwischen dem Progressiven und dem Volkstümlichen, mit dem die heutige Rechte spielt, hierzulande auch deshalb besonders tief.Doch nicht nur aus diesem metapolitischen, sondern auch aus genuin literarischem Grunde wäre heute, wo sich der Kulturbetrieb ohnehin so weit in Richtung Aktivismus öffnet, ein guter Zeitpunkt, sich einmal in Breite an eine Rekonstruktion nicht nur des Lebens, sondern auch des Werks des schreibenden Revolutionärs und revoltierenden Schreibers aus dem Posener Städtchen Samotschin zu wagen.
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