Nach dem Sieg Preußens über Frankreich und der Gründung des deutschen Kaiserreichs 1871 wurde Köln zur hochgerüsteten Frontstadt gegen den Erzfeind ausgebaut – zur deutschen „Wacht am Rhein“. Während des Ersten Weltkrieges galt sie als Zentrale der Rüstungsproduktion mit Niederlassungen der Rüstungs- und Chemiekonzerne wie Bayer, Stinnes und Krupp. Die 100.000 Beschäftigten in den 700 Betrieben machten die Hälfte der Arbeiter und Arbeiterinnen aus. Konrad Adenauers Partei, das katholische Zentrum, stieg im Kaiserreich zur Regierungspartei auf und bereitete begeistert den Krieg vor. Adenauer war seit 1909 als Erster Beigeordneter und ab 1917 als Oberbürgermeister Chef der Stadtverwaltung. Mit Kriegsbeginn übernahm er die kriegswirtschaftliche Steuerung.
Die Kölner Sozialdemokratie schwenkte früher noch als ihre nationale Parteispitze auf Kriegskurs ein. Wilhelm Sollmann, seit 1911 Redakteur des SPD-Organs Rheinische Zeitung, stilisierte den Kriegsdienst der Proletarier zur befreienden Vollendung des Klassenkampfes gegen das Kapital. Zu Kriegsbeginn am 4. August 1914 hieß es hier: „Der gereifte, hartgearbeitete Proletarier in Uniform! Aus dem Frondienst für das Kapital, aus dem Befreiungskampf für seine Klasse, aus dem schweren Ringen für des Lebens Notdurft wird er zum Schutze für das bedrohte Land gerufen. Er gibt alles hin, was er hat: sein Leben, seine Familie, seine Organisation.“
Nach drei Jahren Krieg verstärkten sich Kritik und Hass auf die monarchische Ordnung. So verbreitete die Rheinische Zeitung ab Mitte 1917 einerseits die Parole „Nieder mit dem Kapitalismus“. Zugleich sah Sollmann die kriegswirtschaftliche Steuerung als Beginn des Sozialismus: „Wie der Krieg sozialistisch denken lehrt“, hieß es mit Verweis auf die Massenspeisungen aus der Kölner Stadtküche: „Jetzt führt die Not der Zeit ganz von selbst zu sozialistischen Maßnahmen.“
Die SPD war aufgrund des Drei-Klassen-Wahlrechts nicht im Stadtrat vertreten. Aber Adenauer berief Sollmann ab 1915 in die städtische Kommission für Lebensmittel und Wohnungen, danach verschaffte das Zentrum – neben dem Gesetz – der SPD drei Sitze im Stadtrat. Das sollte die Arbeiter beruhigen.
Aber 1917 gründeten Sollmann-Kritiker auch in Köln eine Unabhängige Sozialdemokratische Partei (USPD). Die wollte den Krieg schnell beenden. Am 22. April 1917 wurde in einer großen Versammlung des Kölner Metallarbeiter-Verbandes scharf gegen die Macht der Junker und Großgrundbesitzer polemisiert, es wurden größere Rechte für das arbeitende Volk verlangt. Nun gab Sollmann plötzlich den Ultraradikalen: „Es geht eine starke Bewegung durch das Volk … Nieder mit dem Kapitalismus!“, rief er bei einer Protestkundgebung gegen Krieg und soziale Verelendung am 8. Juli 1917.
Das traf auf große Zustimmung, hätte sich aber allzu schnell gegen den heimlichen Verbündeten, den Oberbürgermeister Adenauer, richten können. Deshalb fügte Sollmann hinzu: „Bei solcher Auffassung sind wir vor dem spießbürgerlichen Fehler bewahrt, einzelne Personen als Sündenböcke zu suchen, Oberbürgermeister zum Beispiel. Das ist eine maßlose Überschätzung der Menschenkraft und Amtsgewalt selbst des tüchtigsten Oberbürgermeisters.“
Marxistisch angemaßte Ultraradikalität verbunden mit Opportunismus – mit solchen Leuten konnte der Durchhaltepolitiker Adenauer arbeiten. Er war mit den führenden Industriellen und Bankiers auch persönlich befreundet und trieb weiter zum Krieg an. Über die Toten eines britischen Bombardements zu Pfingsten 1918 tröstete er hinweg: „Sie sind gestorben für Deutschland.“ Er hoffte auf die neue Offensive im Westen und verlangte von der Kölner Bevölkerung, „alle Unbilden des Krieges weiterhin mit Ausdauer und Vaterlandsliebe zu ertragen“.
Doch dann kam die Zeit der Arbeiter- und Soldatenräte. Als sich eine politische Revolution abzeichnete, schwadronierte Sollmann am 23. Oktober 1918 auf einer Volkskundgebung: „Der deutsche Imperialismus ist geschlagen ... Unser alter Lehrsatz ‚Der Weltkrieg ist die Weltrevolution‘ ist Wahrheit geworden.Deutschland hat ewigen Bestand ... Vorwärts für das sozialistische Deutschland der Zukunft.“ Bei diesem nationalistisch-völkisch untersetzten Ultraradikalismus warnte er zugleich vor einer Hetze gegen den Kaiser und ebenso vor dem „Bolschewismus“. Das traf sich gut mit den Intentionen Adenauers. Am 4. November war in Kiel der erste Arbeiter- und Soldatenrat gegründet worden. Am 6. November 1918 fuhren 200 revolutionäre Matrosen mit dem Zug in Richtung Köln. Adenauer forderte vom Festungskommandeur, er solle sie nicht in die Stadt lassen, sondern „festsetzen“. Doch Soldaten und sogar Offiziere wollten nicht oder waren abgehauen. Damit wurde wahrscheinlich ein Blutbad verhindert.
Die Matrosen gelangten am 7. November zum Kölner Hauptbahnhof und wurden von einer großen Menschenmenge begeistert empfangen. Sollmann und die SPD-Führung hatten sich mit Adenauer, dem Militärgouverneur und den beiden bürgerlichen Parteien verständigt, waren vor Ort, konnten sich aber kein Gehör verschaffen. Sie beriefen eine Massenversammlung für den nächsten Vormittag auf dem größten Platz ein.
Am 8. November verkündete Sollmann auf dem Neumarkt die Bildung eines Arbeiter- und Soldatenrats. Eine Wahl gab es nicht. Sollmann teilte lediglich die zwischen SPD und USPD vereinbarte Zusammensetzung mit. Die wurde akklamiert. Sollmann war Vorsitzender, einige Arbeiter und Soldaten gehörten dazu. Von Sozialismus war keine Rede mehr. Wendehälsig stellte Adenauer dem neuen Souverän im Rathaus Räume, Telefone, Schreibkräfte, Schreibmaschinen, Papier und Lebensmittel zur Verfügung. Die unerfahrenen Revolutionäre freuten sich über diese unerwartet freundliche Behandlung.
Gleichzeitig gründete Sollmann im Soldatenrat einen kleinen Leitungsausschuss von zehn Mitgliedern. Dem gehörten nur Parteifunktionäre an: fünf von der SPD, fünf von der USPD. Sollmann betonte in der Rückschau die Gemeinsamkeit mit Adenauer: „Unsere erste Sorge galt, wie es echten Deutschen auch in einer großen Revolution geziemt, der Wiederherstellung und Aufrechterhaltung der Ordnung.“
Adenauer gründete seinerseits den „Wohlfahrtsausschuss“, ähnlich wie in anderen Städten. Der Begriff erinnerte an die Französische Revolution. Adenauer holte Vertreter der Gewerkschaften dazu, Mitglieder des Zentrums und der Liberalen Partei wie auch Unternehmer sowie seinen Bankiersfreund Louis Hagen – und auch den Vorsitzenden des Arbeiter- und Soldatenrats, Sollmann. Der war für diese Doppelrolle eine Idealbesetzung. Selbstverständlich ließ sich Adenauer selbst zum Vorsitzenden des Wohlfahrtsausschusses akklamieren. Der Arbeiter- und Soldatenrat durfte Beauftragte in alle städtischen Gremien entsenden. Die kamen freilich nicht auf die Idee, die wichtigsten Vertreter der bisherigen Ordnung beziehungsweise Unordnung abzusetzen, vor allem Adenauer. Die britische Besatzung löste den Rat dann ganz auf. Später rühmte sich Adenauer, mit Sollmann den Arbeiter- und Soldatenrat ausgetrickst und damit „die Rettung der Stadt aus der Revolution“ geschafft zu haben.
Während der Weimarer Republik arbeiteten Adenauer und die von Sollmann im Kölner Stadtrat geführte SPD-Fraktion zunächst gut zusammen. Wenn es sein musste – wie beim Großprojekt Mülheimer Brücke – suchte der Oberbürgermeister auch ein kurzzeitiges Bündnis mit der verhassten KPD, um die SPD auszumanövrieren. Gegen Ende der Weimarer Republik beendete Adenauer dann jede taktische Allianz mit der SPD. In Berlin, wo er seit 1921 Präsident des Preußischen Staatsrates war, setzte er sich mit der rechten Führung des Zentrums ab 1932 in der preußischen Staatsregierung für ein taktisches Bündnis mit der NSDAP ein.
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