Zahlenspiele im Krieg und die Frage nach der Chance für das Schweigen der Waffen

Krieg gegen die Ukraine XVI Zelenskyy gab die Verluste der ukrainischen Armee bekannt und befeuert damit indirekt wieder die Diskussion auf verpasste Chancen auf den Frieden. Stimmen die Zahlen? Und gab es je eine Chance auf Frieden? Der Versuch einer Antwort.

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31.000 ukrainische Soldaten starben in diesem Krieg. Nicht 300.000, nicht 150, worüber Putin mit seinem Lügenkodex lügt. Aber trotz alledem ist jeder Verlust ein großer Verlust für uns.
Volodymyr Zelenskyy, 25. Februar 2024

1.1. 31.000 Gefallene

Am 25. Februar 2024 verkündete der ukrainische Präsident Volodymyr Zelenskyy erstmals die Verlustzahlen der ukrainischen Armee während des Russisch-Ukrainischen Krieges. Er erwähnte nicht die Zahl der Vewundeten oder Vermissten. Die Zahlen weichen stark von den Schätzungen der USA ab. Bereits im November 2023 spekulierte The Economist, in diesem Krieg seien 70.000 ukrainische Soldaten gefallen. Auch die New York Times veröffentlichte mit Berufung auf staatliche US-Quellen ähnliche Zahlen. Zelenskyy gab die Zahl von 31000 während einer Pressekonferenz bekannt.

1.2. Sind die Zahlen korrekt?

Nichts ist schwieriger, als während des Krieges die Zahlen der Gefallenen zu ermitteln. Eine Möglichkeit ist es, die Gräber der Gefallenen auf einem Friedhof zu zählen und diese Zahl auf das gesamte Land hochzurechnen. Diese Methode ist allerdings in der Ukraine mit einer hohen Fehlerquote behaftet. Zum einen ist nicht klar, wie viele Menschen sich noch in der Ukraine befinden, zum anderen ist die Ermittlung der Einwohnerzahl einer ukrainischen Großstadt ein Ding der Unmöglichkeit.

Ich habe in Lviv Anfang Juni 2023 vor Ort und dann noch einmal Anfang Februar 2024 mit Hilfe eines Photos die Gräber auf dem Marsfeld neben dem Lychakivskyi-Friedhof gezählt. Vor dem Rathaus in Lviv wird an jedem Tag auf einem großflächigen Plakat den Gefallenen mit Photo und Lebensdaten gedacht und unter großer Anteilnahme der Bevölkerung finden die meisten Gedenkgottesdienste in der St. Peter und Pauls-Kirche statt. Demnach dürften die meisten Gefallenen wirklich auf dem Marsfeld beerdigt worden sein. Eine Hochrechnung der Zahlen ergibt eine Zahl, die etwas unterhalb der von Zelenskyy verkündeten Zahlen liegt.

Die vermissten Soldaten sind in Zelenskyys Angaben nicht enthalten. Die ukrainischen Behörden können den Angehörigen kaum Auskünfte über vermisste Soldaten geben, auch wenn man weiß, wo sie zuletzt gedient haben. Die Zahl der vermissten Soldaten dürfte in den ersten zwei bis drei Monaten prozentual höher gewesen sein. Ein Vergleich mit dem 2. Weltkrieg ist schwierig. 2014 wurde vom deutschen Suchdienst eine Zahl von 1,2 Mio. Vermissten genannt, die allerdings sowohl Zivilisten, als auch Soldaten umfasst.

Dennoch will ich eine gewisse Skepsis gegenüber veröffentlichten Zahlen einer Kriegspartei während eines Krieges nicht verhehlen. Die von den USA verkündeten Zahlen halte ich für zu hoch, Zelenskyys Zahl kann ich per Hochrechnung zwar verifizieren, muß sie aber dennoch nicht glauben. Dafür sind aber Recherchen erforderlich, die vermutlich erst kommende Historiker leisten können. Ebenso richtig ist aber auch etwas anderes. Während die Verluste der Ukrainer sich nahezu komplett aus hoch motivierten Freiwilligen zusammensetzt, dürfte dies dank der Mobilisierung Russlands unter anderem in Gefängnissen anders aussehen. Das relativiert das Verhältnis der Gefallenen und Kampfunfähigen.

1.3. Russische Verluste

Zelenskyy gab die russischen Verluste mit 180.000 Toten und bis zu 500.000 Verwundeten an. Diese Zahl weicht erheblich von der Zahl ab, die das ukrainische Verteidigungsministerium täglich veröffentlicht. Dort werden sie mit 410.700 (Stand: 26. Februar 2024) beziffert. Olga Skabeeva zeigte sich von der Zahl 284000 schockiert, die sie Anfang August in ihrer Sendung 60 Minuten selbst verkündet hatte. An diesem Tag hatte die ukrainische Armee (ZSU) eine Zahl von 249.700 veröffentlicht. Auch Putin gab indirekt und unfreiwillig auf seiner Pressekonferenz Mitte Dezember eine höhere Zahl zu. Die dort ermittelte Zahl von 363.000 ist ebenfalls höher als die von der ZSU am gleichen Tag verkündete 342.800.

Eine der Schwierigkeiten bei der Ermittlung russischer Verlustzahlen ist, ob dort auch die Zahlen der Freiwilligenverbände wie z.B. Vagner und Rusich oder die der Verbände der beiden Volksrepubliken enthalten sind. Vermutlich ja. Bei der ukrainischen Armee wurden die ukrainischen Freiwilligenverbände bereits ab Ende 2014 in die Nationalgarde integriert, weshalb die Frage bei den ukrainischen Verlustzahlen irrelevant ist.

Die Diskrepanz zwischen der Summe der Toten und Verwundeten, die Zelenskyy mit bis zu 680.000 angibt, könnte eine simple Erklärung haben. Wenn Putin Mitte Dezember 2023 Zahlen verkündet, bei denen man eine Zahl von 363.000 kampfunfähigen oder getöteten russischen Soldaten errechnen kann, so dürften darin Gefallene, Vermisste und kampfunfähig Verwundete eingerechnet sein. Legt man die für den 25. Februar 2024 verkündete Zahl von 410.700 Getöteten und kampfunfähig Verwundeten zugrunde und rechnet die laut ZSU 47.000 seit Mitte Dezember Verluste der russischen Armee ein, könnte man auf den Gedanken kommen, Zelenskyy unterscheidet nicht zwischen dauerhaft kampfunfähigen russischen Soldaten und welchen, die wieder genesen sind und kämpfen könnten.

Vergleicht man Zelenskyys Zahlen der Gefallenen mit der von ihm selbst angegebenen Zahl 31.000, kommt man auf ein Verhältnis von fast 6:1. Nimmt man an, in den russischen Zahlen sind auch die Vermissten enthalten, ist eher das Verhältnis 5:1 realistisch.

Der deutliche Unterschied im Verhältnis lässt sich relativ einfach erklären. Zum einen war die russische Armee zumeist in der Rolle des Angreifers, ohne dabei große Geländegewinne erzielen zu können. Zudem greift die russische Armee ähnlich wie die Vagner-Söldner in Soledar und Bakhmut auch in diesem Winter mit Menschenwellen ähnlich wie die Rote Armee im 2. Weltkrieg an. Da diese militärisch nicht völlig sinnlos, wenn auch menschenverachtend ausgeführt werden, gibt es mittlerweile schon militärische Siege bei der Eroberung komplett zerstörter Ortschaften zu vermelden, auch wenn der strategische Nutzen quasi nicht vorhanden ist. Die russische Armee scheint zur Zeit entweder nicht die Möglichkeit zu haben, Geländegewinne auf dem Schlachtfeld strategisch ausnutzen zu können, oder sie legt es darauf an, die ukrainische Armee mit Gewaltangriffen zu ermüden. Wie in den letzten Wochen mittels von Banzai-Angriffen, bei denen die russische Armee wieder mit größeren Massen aufgrund des Mangels an Artilleriemunition bei der ukrainischen Armee mit größeren Massen ukrainische Stellungen angreift.

1.4. Warum veröffentlicht Zelenskyy die Zahlen jetzt?

Wenn man auf die Straße geht und die Leute nach Verlusten fragt, habe ich nie weniger als 100.000 gehört. Und unsere Verluste sind viel geringer.
David Arakhamia, Vorsitzender der Fraktion "Diener des Volkes", 26. Januar 2024

In einem Interview vom 11. Mai 2023 hatte Zelenskyy noch erklärt: "Es gibt Informationen, die wir nicht weitergeben. Dies ist unsere gemeinsame Entscheidung aller Militärangehörigen." Die seit Monaten andauernde Diskussion um ein Mobilisierungsgesetz führten allerdings zu der Forderung, die Zahl der Gefallenen zu veröffentlichen. Arahamiya kündigte schon Ende Januar an, die Zahlen veröffentlichen zu können. Der Zeitpunkt der Veröffentlichung deutet darauf hin, die Diskussionen in der Verchovna Rada über die Ausgestaltung des Gesetzes zur Mobilisierung zwingt Zelenskyy und die Armeeführung dazu, die Zahlen bekanntzugeben. Trotz anderslautender Berichte arbeitet die Verchovna Rada weiterhin an der Formulierung eines gerechteren Mobilisierungsgesetzes, welches ein nicht unwesentlicher Teil der Bevölkerung fordert. Die ersten Gesetzesentwürfe wurden als unzureichend und ungerecht abgelehnt. Ein neuer Anlauf ist für März geplant.

Ich denke, das hätte man schon früher tun sollen. Denn man kann mit seinen Leuten nicht "wir sagen nichts" spielen.
Ivan Stupak, Militärexperte und ehemaliger SBU-Mitarbeiter, 26. Februar 2024

Die fehlende Kommunikation der Verlustzahlen wurden in ukrainischen Medien schon häufiger diskutiert und auch kritisiert. Der späte Zeitpunkt und die zeitliche Nähe zum Beschluss eines Mobilisierungsgesetzes bergen die Gefahr, die verkündete Zahl wird nicht geglaubt. Die Bevölkerung glaubt an höhere Zahlen. Gerüchte sind im Krieg noch stärker als in Friedenszeiten. Da bildet dieser Krieg keine Ausnahme.

Während eine Mobilisierung in der Ukraine von vielen offen gefordert wird, gibt es in Russland keinerlei öffentliche Diskussion. Bei der derzeitigen Intensivität der Kämpfe werden allerdings beide Seiten nicht umhinkommen, noch in diesem Frühjahr eine Mobilisierungskampagne zu starten.

Eine Alternative dazu wären Verhandlungen. Aber hat diese Option Aussicht auf Erfolg?

2.1. Verhandlungen als Option?

Aber verstehen sie wirklich, diese sogenannten guten Seelen, die den Frieden predigen, was dieser Frieden wirklich bedeutet? Wissen sie, was in den Gebieten unter russischer Kontrolle geschieht, die offiziell vom Putin-Regime annektiert wurden? Das Rezept ist alt, es ist das gleiche wie das, das vom NKWD/MGB (Vorläufer des KGB) in den neu eroberten Gebieten zunächst in den Jahren 1939–1940 und dann in den zurückeroberten Gebieten gegen Ende des Zweiten Weltkriegs verwendet wurde. Gleichzeitig mit dem Militärkommando wurde die politische Polizei installiert. Gestützt auf Listen, die mithilfe örtlicher Kollaborateure und verdeckter Ermittler zusammengestellt wurden, verhaftet es rundweg alle, die sich auf die eine oder andere Weise widersetzen könnten: ehemalige Beamte, Mitglieder verschiedener politischer Parteien, Professoren, Lehrer, Schriftsteller und ganz allgemein alle, die es tun erscheinen verdächtig, ob zu Recht oder zu Unrecht. Einige werden sofort erschossen, andere in den Gulag oder ins sibirische Exil geschickt, wieder andere durchlaufen Filtrationslager, aus denen nur wenige physisch und moralisch verstümmelt herauskommen.
Galia Ackerman, 23. Februar 2024

Seit Monaten findet vor allem in Deutschland eine ausufernde Diskussion um Verhandlungen für einen Waffenstillstand oder für einen Frieden statt. Es gibt keinerlei Signal aus dem Kreml, überhaupt mit dem ukrainischen Präsidenten oder mit von der ukrainischen Regierung legitimierten Unterhändlern in Verhandlungen treten zu wollen. Putin signalisiert seit längerer Zeit, er nimmt die Ukraine nicht als Staat wahr, was zugleich bedeutet, man führt keine Verhandlungen mit gewählten Vertretern eines Staates, dessen Existenzrecht man nicht anerkennt. In dem Interview mit Tucker Carlson behauptet Putin: "In diesem Sinne haben wir allen Grund zu behaupten, dass die Ukraine ein künstlicher Staat ist, der nach Stalins Willen geformt wurde". In seinem Traktat über die historische Einheit von Russen und Ukrainern, die im Juni 2021 veröffentlicht wurden (vgl. meinen Artikel vom 6. September 2021), galt für Putin noch Lenin als Gründer eines ukrainischen Staates.

In dem Interview und in anderen Reden während des Krieges stützt sich Putin auf eine falsche Unterscheidung zwischen natürlichen Nationen und künstlichen Nationen. Natürliche Nationen haben ein Recht zu existieren, künstliche Nationen nicht.
Timothy Snyder, 14. Februar 2024

Es gibt neben den rationalen Argumenten, weshalb Verhandlungen derzeit so gut wie keinen Erfolg haben können, noch irrational anmutende Gründe. Die kann man in Putins Persönlichkeit finden. Der zunächst absurd erscheinende Grund ist persönliche Rachsucht Putins. Zelenskyy hatte vor 2014 noch die traditionelle Silvestershow zusammen mit dem Ehemann der bekannten Sängerin Alla Pugachova moderiert. Eine solche Funktion inder bekanntesten und so ziemlich bedeutendsten Show des russischen Staats-TVs zeigt, wie bekannt Zelenskyy auch in Russland war. Die Annexion der Krym durch Russland und der beginnende Krieg im Donbas änderte alles. Zelenskyy kritisierte öffentlich die Annexion, beging aber zudem einen Tabubruch mit dem Auftritt in der ukrainischen Show Kvartal 95 im Mai 2014, als Zelenskyy in der Rolle von Putins Geliebter Alina Kabaeva in einem über zehnminütigen Auftritt Putin Vorwürfe machte, er vernachlässige sie zugunsten der Krym. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte nicht einmal ein russisches Oppositionsblatt gewagt, dieses Gerücht auch nur zu thematisieren. Nicht undenkbar, dies schmälerte zusätzlich Zelenskyys im Wahlkampf und in seiner Antrittsrede vor der Verchovna Rada verkündeten Absicht, gemeinsam mit Russland nach einer friedlichen Lösung zu suchen. Ein erstes diplomatisches Zeichen war es, Putin hatte Zelenskyy die diplomatisch üblichen Gratulationswünsche zur Wahl zum ukrainischen Präsidenten verweigert.

Wir haben dort fünfeinhalb Stunden geredet, und dann habe ich gesagt, dass Zelenskyy gefragt hat, und ich frage in seinem Namen, ob Sie sich treffen können. Er war bis jetzt der netteste auf der Welt und plötzlich ein kalter Blick: „Das sind Nazis, sie sind Kriegstreiber, ich werde ihn nicht treffen, sie sind Pro-Nazis.
Naftali Bennett, ehemaliger israelischer Ministerpräsident, 15. Februar 2022

Putin verweigerte jedes gemeinsame Gespräch mit Zelenskyy, obwohl dieser z.B. den israelischen Ministerpräsidenten Naftali Bennett bereits 2021 um Vermittlung bat.

Zu Beginn des Krieges ließ Zelenskyy Ende Februar 2022 über den ukrainischen Botschafter in Israel, Jevgen Kornichuk, die Bitte an Naftali Bennett übermitteln, als Vermittler zwischen Russland und der Ukraine tätig zu werden, was dieser auch zusagte. Etwa zeitgleich forderte Putin in einer Rede vor dem Nationalen Sicherheitsrat die ukrainischen Soldaten auf, die Macht selbst in die Hand zu nehmen und die amtierende Regierung in der Ukraine zu stürzen. Putins Illusion, die Ukraine im Handstreich zu überwältigen, lässt sich auch daran erkennen, in Russland ist es gesetzlich bis heute verboten, von einem Krieg zu sprechen. Stattdessen wurde der Begriff "Spezialoperation" gewählt.

Wir stehen für Frieden.
Vladimir Medinsky, 27. Februar 2022 (6:07 Uhr ET),
als Delegationsleiter Russlands für die Waffenstillstandsverhandlungen 3 Tage nach dem russischen Angriff auf die Ukraine

Bennett soll einer der Kronzeugen dafür sein, Russland hätte es nicht am Friedenswillen gemangelt. Kurz nachdem Russland der Ukraine den Krieg erklärt hat. Dabei wird gerne auf ein Interview verwiesen, in dem Bennett einerseits nicht korrekt übersetzt wurde, welches Bennett aber selbst mehrmals noch klargestellt hat.

Über mich und diesen Mann habe ich nichts zu sagen. Was ist das für ein Jude? Er lässt zu, dass sich der Nationalsozialismus in der Ukraine etabliert.
Vladimir Putin im Gespräch mit Naftali Bennett, 17. Dezember 2022

Neben Putins geradezu obsessiv zu nennendes Geschichtsbild, welches darin gipfelte, als sich Putin von Kameras begleitet von einem Historiker eine französische Karte aus dem 17. Jahrhundert zeigen ließ, auf der beide keine Erwähnung der Ukraine finden wollten. Abgesehen davon, der moderne Nationenbegriff bildete sich erst Ende des 18. Jahrhunderts und viele Staaten (auch Deutschland) konnten erst im 19. oder im 20. Jahrhundert einen unabhängigen Staat bilden, war ausgerechnet auf dieser Karte in großen Lettern der Begriff der Ukraine in großen Lettern zu finden.

Aus seiner Sicht ist die Ukraine eine untreue Ehefrau, die sich zuerst Europa zugewandt und nun einen amerikanischen Liebhaber gefunden hat. Putins Ur-Impuls ist es, sie für den Verrat zu bestrafen und mit Bomben zu zwingen, wieder sein Land zu werden.
Viktor Yerofeyev, 26. Februar 2024

Putin scheint jedoch in einer Welt des Wiener Kongresses, der Kongo-Konferenz, der Versailler Konferenz oder der in Jalta verhaftet zu sein, in der mittels militärischer Stärke ein Kuhhandel vereinbart werden kann.

Dem Westen soll ein Tauschhandel unterbreitet werden – etwa die Ukraine gegen Venezuela zu tauschen, wie Fiona Hill ein früheres russisches Angebot beschrieb – von seinen ursprünglichen Kriegszielen rückt der Kreml aber keinen Millimeter ab. Würde der Kreml davon absehen, die Ukraine als Ganzes zu unterwerfen, sich große Teile in das eigene Imperium einzuverleiben und den Rest als Marionettenstaat im Unionsstaat über einen eingesetzten Statthalter zu verwalten, würde Putin auch von seiner lang gehegten Strategie abrücken, Russland wieder zur Weltmacht, vor allem aber zu der Europa militärisch dominierenden Macht zu machen. Ein Russland, dass sich noch mit den anderen 80 % der Ukraine herumschlagen müsste, wäre eine Regionalmacht. Ein Russland, dass die Grenzen der Sowjetunion de-facto wiederherstellt, wäre hingegen eine Weltmacht.
Gustav Gressel, 23. Februar 2024

Ein Deal mit den USA, Venezuela mit der Ukraine zu tauschen, mag vielleicht noch in das Weltbild eines Donald Trump vorstellbar sein, wobei selbst bei Trump nicht einmal sicher wäre, ob der als Präsident überhaupt einem solchen Deal zustimmen würde. Zudem sehen die USA Maduros Venezuela sicherlich als unfreundliche oder feindliche Nation, aber es dürfte wohl kein US-Präsident Putin als Konferenzpartner für eine Aufteilung einer Welt ansehen. Zudem wäre ein solcher Deal gleichbedeutend mit Völkermord. Eine komplette Eroberung der Ukraine würde eine Flüchtlingswelle von mindestens 10 Mio. Ukrainern zur Folge haben. Darüber hinaus wird Russland einen Teil der Ukraine annektieren und für den Rest der Ukraine eine Marionettenregierung installieren. Beides wird große Ressourcen Russlands, aber auch der westlichen Staaten binden. Der Westen wäre mit einer von Putin bewusst einkalkulierten Flüchtlingswelle beschäftigt. Putin (und Luhashenko) haben mehr als einmal bewiesen, Flüchtlinge als Waffe einsetzen zu wollen.

Mir hat der ganze Teil des Gesprächs mit Putin wirklich nicht gefallen, in dem er einfach versucht hat, die Ukraine zu verunglimpfen. Das ist das Dümmste, was ich je gehört habe. Ich habe nicht einmal verstanden, was "Entnazifizierung" bedeutet. [...] Die Ukrainer Nazis zu nennen, ist irgendwie sehr kindisch.
Tucker Carlson über sein Interview mit Putin, 27. Februar 2024

Die Erfüllung von Putins Träume einer Wiedervereinigung Russlands mit der Ukraine und Belarus könnten nach der Einverleibung großer Teile der Ukraine nur mit der Erhöhung des Etats für die innere Sicherheit erkauft werden. Die sind aber jetzt schon mit weit über 20 Prozent des Gesamthaushaltes unverhältnismäßig hoch. Neben den Organen des Innenministeriums wie die Polizei und die OMON und dem FSB leistet sich Russland unter anderem eine Nationalgarde mit einer Personalstärke von etwa 350.000 Mitgliedern, die allein dem Präsidenten unterstellt ist.

Eine Ukraine, in der der russische Herrscher trotz aller Repressalien Aufstände befürchten muss, ein Verbündeter Belarus, der finanziell von Kremls Gnaden abhängig ist plus eine zahlenmäßig immer größer werdende Generation in Russland, die mit der imperialen Größe der UdSSR nichts mehr anfangen kann. Ein 20jähriger Russe hat keinerlei Vorstellungen mehr von den Verwerfungen der postsowjetischen Zeit, sieht die Ukraine als fremden Staat, deren Sprache und Kultur er kaum versteht. Er ist sein ganzes Leben mit der Existenz von zwei Staaten aufgewachsen, Vergleichbar ist dies mit einem Deutschen, der Anfang der 1960er geboren ist und dem erzählt wird, Schlesien sei ein Teil Deutschlands.

2.2. Realitäten und andere Wahrnehmungswelten

Sein Vater kämpfte während des Zweiten Weltkriegs gegen die faschistischen Nazis. Ich habe einmal mit ihm darüber gesprochen. Ich sagte: Volodymyr, was machst du da? Warum unterstützt du heute die Neonazis in der Ukraine, während dein Vater gegen den Faschismus gekämpft hat? Er war ein Frontsoldat. Ich werde Ihnen nicht sagen, was er geantwortet hat.
Vladimir Putin über Zelenskyys 1947 geborenen Vater, 6. Februar 2024

Zugegebenermaßen hätte ich gerne die Antwort eines ukrainischen Präsidenten gewusst, der 20 Jahre lang als Kabarettist gearbeitet hat, wenn man ihm mitteilt, sein Vater Oleksandr habe in einem Krieg als Frontsoldat gekämpft, obwohl er erst zwei Jahre nach dem Krieg am 23. Dezember 1947 geboren wurde.

Während es bei Putin zum Teil offensichtlich ist, wie sehr seine Wahrnehmung und sein Weltbild von dem außerhalb Russlands abweicht, ist es bei Personen, die indirekt Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine rechtfertigen, nicht immer ganz so offensichtlich. Eines dieser Beispiele ist ein viel diskutierter Artikel aus dem Herbst vergangenen Jahres, der Belege in den ukrainischen Medien zu finden glaubte, die man nach der Lektüre der Originale angesichts der sinnentstellenden Zitate nur kopfschüttelnd zur Kenntnis nehmen konnte. Am 11. November 2023 veröffentlichten Harald Kujat und Hajo Funke einen Artikel mit dem Titel "Wie der Westen auf Diplomatie setzte – und die Ukraine dann in den Krieg führte", in der erstaunliche Thesen aufgestellt wurden.

Es wird ein Szenario konstruiert, welches es nie gegeben hat. Kujat und Funke konstruieren eine Rolle des damaligen britischen Premierministers Boris Johnson, die schon durch die Chronologie der Ereignisse widerlegt werden kann. Stattdessen wird das typische Gericht des cui bono serviert, das einer der traditionellen Bestandteile von Verschwörungstheorien ist.

In ihrem Artikel ziehen die beiden Autoren drei Artikel als Beleg für ihre These vom verhinderten Frieden heran:

Von Zelenskyys "Kapitulation" zu Putins Kapitulation. Wie die Verhandlungen mit Russland verlaufen,
Roman Romaniuk, Ukrainska Pravda, 5. Mai 2022
(einen Auszug daraus findet sich am Ende dieses Artikels)

Boris Johnson inszeniert sich als Zelenskyys treuster Verbündeter
Niklaus Nuspliger, NZZ, 12. April 2022

Mögliche Gespräche zwischen Zelenskyy und Putin seien nach Johnsons Ankunft auf Eis gelegt worden, teilte die Quelle mit
Iryna Balachuk, Roman Romaniuk, Ukrainska Pravda, 5. Mai 2022

Keiner der drei Artikel kann auch nur ansatzweise dazu dienen, die These zu belegen, es sei aufgrund des Vetos von Johnson nicht zu einem Waffenstillstand gekommen.

Im Artikel von Balachuk und Romaniuk geht es unter anderem um die fehlende Bereitschaft Putins, an von Erdogan vermittelten direkten Gesprächen zwischen dem russischen und ukrainischen Präsidenten teilzunehmen. Dabei wurde der ukrainische Präsident wie folgt zitiert:

"Am 4. April sagte Zelenskyy je länger Russland das Treffen zwischen den Präsidenten der Ukraine und der Russischen Föderation verzögere, desto schlimmer werde es für Russland."

Es war der Tag, an dem Zelenskyy Bucha besucht hatte (AI-Bericht). In einem Interview mit dem Journalisten Scott Pelley sprach er über die Eindrücke der russischen Kriegsverbrechen (Belege: Meduza, 7, April 2022, 1. April 2023, Mord an Irina Filkinia am 5. März 2023). Im Gesicht von Ursula von der Leyen in Bucha kann man zudem ihr Entsetzen vor Ort erkennen. Der Vorwurf, man habe von ukrainischer Seite die Kriegsverbrechen inszeniert, ist zum einen nicht haltbar, weil die russische Armee vor ihrem Abzug zahlreiche Minen und Sprengfallen hinterlassen haben. Zum anderen sind die Kriegsverbrechen viel zu zahlreich gewesen und nicht nur auf Bucha und Irpin beschränkt gewesen. Spuren findet man in nahezu jedem besetzten Ort.

Jedoch fanden die Waffenstillstandsgespräche schon im März statt, während die Kämpfe rund um Kyiv und vor Kharkiv noch tobten. Betrachtet man sich den Frontverlauf im Zeitraffer, dann erkennt man, zwischen den Verhandlungen im März und Boris Johnsons Besuch am 9. April war die russische Armee vor allem westlich von Kyiv vertrieben worden. Der Traum der russischen Armee von einem Paradekrieg oder einem schnellen Sieg war ausgeträumt und die Schrecken der Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten in vielen Dörfern und Städten wurde offensichtlich. Dies in einer Beurteilung zu ignorieren bedeutet auch, man hat kein Interesse an einer fairen Beurteilung, sondern man hat eine Agenda.

Aber denken Sie an dieses Theater des Absurden! Diejenigen, die die Ukraine angegriffen haben, diejenigen, die Ukrainer töten, diejenigen, die die Ukraine in ein paar Tagen erobern wollten, sagen jetzt der ganzen Welt, dass sie Sicherheitsgarantien für die Ukraine wollen? Ist das nicht absurd? Das ist eine Art Oxymoron!
Arsenj Jazenjuk, 30. März 2022

Aber selbst, wenn man die Taten der russischen Armee ignorieren würde, kann man kaum die öffentlichen Statements während der Zeit der Verhandlungen ignorieren, die deutlich zeigen, die Positionen beider Kriegsparteien lagen viel zu weit auseinander, um einer Waffenstillstandsvereinbarung nur den Hauch einer Chance geben zu können.

Zelenskyy betonte am 28. März 2022 in einer Stellungnahme auf der offiziellen Seite des ukrainischen Präsidenten, es werde keine Vereinbarung geben, so lange sich russische Soldaten auf ukrainischem Staatsgebiet befänden. Der Verhandlungsführer Russlands, der ehemalige Bildungsminister Vladimir Medinsky, bestätigte die ukrainische Position, wenn er einen Tag später darauf verwies, "bei sekundären Themen [würden] die Positionen übereinstimmen, bei den wichtigsten politischen Themen [herrsche] jedoch Stillstand". Er bestätigte, zum Status des Donbas und der Krym würden die Positionen seiner Ansicht nach „so weit wie möglich auseinander“ geblieben (29. März 2022).

Einige Tage zuvor äußerte der türkische Präsident Erdogan, man hätte in vier von sechs Punkten einen Kompromiss gefunden, was von der Ukraine vehement bestritten wurde. Medinsky betonte am gleichen Tag, Russland würde auf die Kriegsziele "Entnazifizierung", "Entmilitarisierung", Anerkennung des Status der annektierten Krim bestehen. Ansonsten sei "es unwahrscheinlich, dass ein Vertrag zustande kommt".

Es gibt keinen Konsens mit Russland in den vier vom türkischen Präsidenten genannten Punkten. Insbesondere ist und bleibt die einzige Staatssprache in der Ukraine das Ukrainische. Und generell ist die Einteilung der Hauptthemen der Verhandlungen in vier oder mehr Punkte falsch. Viele verschiedene Themen werden gleichzeitig in Untergruppen der Delegationen erörtert. Wir bestehen in erster Linie auf einem Waffenstillstand, Sicherheitsgarantien und der territorialen Integrität der Ukraine.
Dmytro Kuleba, Außenminister der Ukraine, 25. März 2022

Angesichts der Tatsache, die Ukraine hat zu keinem Zeitpunkt die Ansprüche Russlands auf die Krym und die beiden Oblaste Luhansk und Donezk anerkannt und auch keinerlei diplomatischen Signale gegeben, diese Ansprüche für verhandelbar zu erklären, kann man feststellen, die Waffenstillstandsverhandlungen in Istanbul hatten keinerlei Chance auf einen Erfolg.

Die Existenz Russlands steht heute auf dem Spiel. [Was heute in der Welt geschieht,] ist die größte Herausforderung in der Geschichte, und wir müssen entsprechend dieser Herausforderung handeln.
Vladimir Medinsky, 24. März 2022

Allein die personelle Besetzung des russischen Delegationsleiters dürfte jedem, der sich mit der russischen Politik beschäftigt hat, mehr als deutlich zeigen, die Waffenstillstandsverhandlungen waren für Außenstehende maximal eine Showveranstaltung, für den Kriegsgegner war es aber ein deutliches Zeichen, man erwarte eine Unterwerfung. Der ehemalige Bildungsminister Vladimir Medinsky gilt als Propagandist, der für die Schulbücher verantwortlich zeichnet, die mit Hilfe von Armee und Geheimdienst an die russischen Schulen zum Schuljahr 2023/24 ausgeteilt wurden.

Das neue Lehrbuch weist die russische Invasion der Ukraine als einen "militärischen Sondereinsatz" aus und zitiert die Worte von Präsident Wladimir Putin vom 24. Februar 2022, als er den Einmarsch befahl: "Letztlich geht es hier um Leben und Tod, es geht um die historische Zukunft unseres Volkes."

Nicht nur wird Kindern in Russland und den besetzten ukrainischen Gebieten das Recht auf eine hochwertige Bildung verweigert (mehr als 500 ukrainische Schulen befinden sich mittlerweile unter russischer Kontrolle), sondern es werden durch die Fehlinformationen in dem Lehrbuch auch die Rechte der Ukrainer*innen auf kulturelles Erbe und kulturelle Identität verletzt.
Amnesty International, 1. September 2023

Medinsky verfolgte in seiner Zeit als russischer Bildungsminister von 2012-2020 ein Geschichtsbild, in dem die Größe der russischen Nation und ihrer Geschichte über jede wissenschaftliche Forschung gestellt wird. Die geistigen Väter der neuesten Geschichtsbücher sind Medinsky und Putin. Wer beurteilen will, ob es eine echte Chance auf Frieden je gegeben hat, wird sich damit auseinandersetzen müssen. Geschichtliche Vorbilder für historische Obsessionen, die zu Kriegen führen, gab es genug. Wem der Vergleich mit dem 3. Reich zu gewagt erscheint, der sollte sich die Geschichte des deutschen Kaiserreiches und den Alldeutschen Verband ansehen, die den Boden für eine vierjährige Völkerschlacht in Europa bereitet haben. Eine offizielle Geschichtspolitik, die Ansprüche auf fremde Staaten anmeldet, führt nicht selten zu einem Krieg. Russland unter Putin ist da keine Ausnahme, auch wenn Putins historisches Wissen eng begrenzt zu sein scheint und oft genug den Charakter einer Realsatire besitzt. Ein solcher Moment war, als er sich vor laufender Kamera von dem russischen Präsidenten des Verfassungsgerichts Valery Zorkin eine französische Karte des 17. Jahrhunderts aus der Regierungszeit Louis XIV zeigen ließ. Dumm nur: Auf der Karte ist in großen Lettern Ukraine zu lesen, während Putin nach dem Betrachten der Karte zu dem originellen Schluß kommt, dass "in der Geschichte der Menschheit noch nie eine Ukraine existiert" habe.

Die historische Politik in der Russischen Föderation hat einen deutlich zum Ausdruck gebrachten antiukrainischen und repressiven Charakter. V. Medynskyi erklärte die Geschichte der Ukraine für „eine pseudohistorische Absurdität, infiziert mit einem ideologischen Virus“. Die gesamte historische Propaganda prägte jahrzehntelang das Bild des Ukrainers als Feind der Zivilisation. Die Sonderabteilung des IK der Russischen Föderation, die "Verbrechen im Zusammenhang mit der Rehabilitierung von Nazis und Geschichtsfälschung" untersucht, fabrizierte jahrelang Materialien, um das Ziel der Aggression der Russischen Föderation gegen die Ukraine – die "Verleugnung" der ukrainischen Gesellschaft – zu rechtfertigen. Die historische Politik in der Russischen Föderation dient als Mittel zur Militarisierung und Mobilisierung der russischen Gesellschaft. Der historischen Bildung kommt eine große Rolle zu. In den neuesten Geschichtsbüchern, insbesondere denen, die 2014 zu ORDLO gebracht wurden, heißt es, dass „in Kyiv die Nazis an der Macht sind“, dass dort ein "Staatsstreich" durchgeführt wurde und dass sich die NATO und die USA "vorbereiten". Angriff der Ukraine auf die Russische Föderation“. Der russische Staat führte eine strenge Kontrolle über den Inhalt von Geschichtsbüchern ein. Es wurde der sogenannte "einheitliche historische und kulturelle Standard" in Kraft gesetzt, der jedes freie Denken
unmöglich macht.
Podiumsdiskussion "Russlands Krieg gegen die Ukraine 2014-2022: historischer Rückblick und Versuche wissenschaftlicher Reflexion". 19.-20. Mai 2022

Nach den gescheiterten Waffenstillstandsverhandlungen kehrte Medinsky zu seinem normalen Tagesgeschäft zurück und erklärte, dass es nach dem Ende des russischen Krieges gegen die Ukraine möglich sei, einen Film über die "Befreiung“ des Donbas zu drehen.

Medinsky will einen Film über die "Befreiung des Donbas" drehen. Ich frage mich, was die Handlung ist? Eine Gruppe von Schlägern dringt in eine glückliche Region ein und beginnt, Menschen auszurauben, Frauen zu vergewaltigen, Konzentrationslager zu errichten, Familien zu trennen und Kinder in unmarkierten Gräbern zu begraben? Ein neues Genre: Russischer patriotischer Horror?
Mychajlo Podolyak, Berater des Chefs des Präsidialamts, 23. Juni 2022

Das Hauptargument von Kujat und anderen ist, der damalige britische Premierminister Boris Johnson habe bei seinem Besuch am 9. April in Kyiv Zelenskyy dazu gedrängt, die Waffenstillstandsverhandlungen abzubrechen. Zwar hat Johnson der Ukraine umfangreiche Hilfen in Aussicht gestellt, die er und seine Nachfolger aber aufgrund wirtschaftlicher Probleme im eigenen Land nicht in dem notwendigen Umfang liefern konnte, aber die Erkenntnis, keinen Waffenstillstand mit Russland auf dem Verhandlungswege erreichen zu können, hatte sich bei der ukrainischen Bevölkerung und bei den handelnden Politikern längst durchgesetzt. Exemplarisch dafür steht das Urteil des Stadtratmitglieds von Mariupol, Maksym Borodin, Ende März :"Den Versprechen Russlands sollte man nicht trauen" Die Bevölkerung traute dabei Russland noch weitaus weniger als die Politik. Johnsons Auftritt war wie von ihm gewohnt lautstark und spektakulär, aber einige europäische Spitzenpolitiker hatten Kyiv im März längst besucht und der Ukraine ebenfalls ihre volle Unterstützung versichert, worüber der Guardian treffend zu spötteln wusste.

Boris Johnson ist ein Mann der grossen Gesten und symbolischen Auftritte. Der britische Premierminister war daher ganz in seinem Element, als er am Wochenende zu einem Überraschungsbesuch bei Volodymyr Zelenskyy in Kyiv eintraf. Zu einem weit gefährlicheren Zeitpunkt waren Mitte März bereits die Regierungschefs Polens, Tschechiens und Sloweniens in die ukrainische Hauptstadt gereist. Jüngst hatte Zelenskyy auch den österreichischen Kanzler Karl Nehammer sowie EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen in Kyiv empfangen.
Luke Harding & Clea Skopeliti, 9. April 2022

Es ist durchaus denkbar, die Unterstützung des Westens bot der Ukraine eine Chance auf einen erfolgreichen Widerstand gegen den Angreifer, aber eine Aussicht auf einen Waffenstillstand und Frieden dürfte es vermutlich zu keinem Zeitpunkt gegeben haben. Zwar werden immer wieder Stimmen laut, die vom bevorstehenden Ende der ukrainischen Widerstandskraft sprechen, aber Erich Vad oder Harald Kujat tun dies seit dem 24. Februar 2022.

2.3. Eine interessante Nachbemerkung

Eine Recherche in der Ukrainska Pravda bringt übrigens überraschende Ergebnisse hervor. Dort findet sich am 28. März 2022 ein Artikel mit der Schlagzeile: "Ein Schlag für die Ambitionen der Russischen Föderation: Wie der Krieg in der Ukraine Azerbaidzhan die Chance gibt, in Karabach anzugreifen". Im September 2023 nutzte Azerbaidzhan genau diese Gelegenheit.

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Boris Johnson oder das "Drängen" Putins

Die Antwort auf diese Frage entscheidet über das Schicksal der Verhandlungen, des Krieges und der Geschichte Europas im einundzwanzigsten Jahrhundert.

Die russische Seite versteht es, Signale zu deuten und war eigentlich bereit für ein Treffen zwischen Zelenskyy und Putin, egal was man sagt. Doch dann geschahen zwei Dinge, nach denen ein Mitglied der ukrainischen Delegation, Mykhailo Podolyak, offen zugeben musste, dass das Treffen zwischen den Präsidenten "zur Unzeit" stattfand.

Das erste war die Aufdeckung der Gräueltaten, Vergewaltigungen, Morde, Massaker, Plünderungen, wahllosen Bombardierungen und Hunderttausenden anderer Kriegsverbrechen, die von russischen Truppen in den vorübergehend besetzten ukrainischen Gebieten begangen wurden.

Wie und worüber kann man mit Putin reden, wenn man mit ihm nicht über Bucha, Irpin, Borodjanka oder Asowstal spricht? Die moralische und wertmäßige Kluft zwischen Putin und der Welt ist so groß, dass selbst der Kreml keinen Verhandlungstisch finden wird, der lang genug ist, um sie zu schließen.

Das zweite - und viel unerwartetere - Hindernis für Verhandlungen mit den Russen kam am 9. April in Kyiv an. Kaum hatten sich die ukrainischen Unterhändler und Abramovich/Medinsky in groben Zügen auf die Struktur eines möglichen künftigen Abkommens nach Istanbul geeinigt, erschien der britische Premierminister Boris Johnson fast unangekündigt in Kyiv.

"Johnson brachte zwei einfache Botschaften nach Kyiv: Putin ist ein Kriegsverbrecher, man muss ihn unter Druck setzen, nicht mit ihm verhandeln. Und zweitens: Wenn Sie bereit sind, mit ihm Vereinbarungen über Garantien zu unterzeichnen, sind wir es nicht. Wir können mit Ihnen verhandeln, aber nicht mit ihm, er wird trotzdem alle im Stich lassen", fasst einer der engen Mitarbeiter von Zelenskyy das Wesentliche des Besuchs von Johnson zusammen.

Hinter diesem Besuch und den Worten Johnsons verbirgt sich weit mehr als nur der Unwille, sich auf Geschäfte mit Russland einzulassen.
Der kollektive Westen, der noch im Februar vorschlug, Zelenskyy solle aufgeben und sich aus dem Staub machen, hat nun erkannt, dass Putin nicht so allmächtig ist, wie er es sich vorgestellt hatte.

Außerdem bietet sich gerade jetzt die Chance, ihn "zu Fall zu bringen". Und der Westen will diese Chance nutzen.
Nur drei Tage, nachdem Johnson, der glückliche Besitzer des Vasylkiv-Hahns, nach Foggy Albion zurückgeflogen war, ging Putin an die Öffentlichkeit und erklärte, die Gespräche mit der Ukraine seien "in eine Sackgasse geraten".

"Wir haben in Istanbul ein gewisses Maß an Übereinstimmung erzielt, nämlich dass sich die Sicherheitsgarantien für die Ukraine ... nicht auf das Gebiet der Krim, Sewastopol und des Donbas erstrecken... Nun sind Sicherheitsanforderungen eine Sache, aber die Fragen der Regelung der Beziehungen zur Krim, zu Sewastopol und zum Donbas liegen außerhalb des Geltungsbereichs dieser Vereinbarungen", zeigte sich Putin empört.

Drei Tage später kam Roman Abramowitsch erneut nach Kyiv, und Präsident Zelenskyy erklärte offiziell, dass es zwei Sicherheitsabkommen mit Russland geben könnte: Eines würde sich auf die tatsächliche Koexistenz der Ukraine und Russlands beziehen, das andere ausschließlich auf Sicherheitsgarantien.

"Moskau würde gerne ein Abkommen haben, das alle Fragen anspricht. Allerdings sehen sich nicht alle mit Russland an einem Tisch. Für sie sind die Sicherheitsgarantien für die Ukraine ein Thema, die Vereinbarungen mit Russland ein anderes. Russland möchte, dass alles in einem Dokument steht, und die Leute sagen: Entschuldigung, Sie haben gesehen, was in Bucha passiert ist, die Umstände ändern sich", umschrieb Zelenskyy im Wesentlichen Johnsons Botschaft an Putin.

Daraufhin wurde der bilaterale Verhandlungsprozess auf Eis gelegt. Die Parteien mussten entscheiden, wie sie ihre Zusammenarbeit fortsetzen wollten, wie sie alle potenziellen Sicherheitsgaranten in die Verhandlungen einbeziehen konnten und wer diese sein würden. Und vor allem musste die Ukraine selbst die Antwort auf eine entscheidende Frage verstehen: Wie ernsthaft ist der Westen bereit, ihr in der Konfrontation mit Russland zur Seite zu stehen?

Wird das Land am Ende getäuscht und zerstört und einem wütenden Kreml ausgeliefert sein?

Von Zelenskyys "Kapitulation" zu Putins Kapitulation. Wie die Verhandlungen mit Russland verlaufen,
Roman Romaniuk, Ukrainska Pravda, 5. Mai 2022

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