Tschaikowskis Musik kann überzuckert klingen. Doch am Münchner Nationaltheater fegt der junge usbekische Dirigent Aziz Shokhakimov mit kernigem Klang alle plüschige Behaglichkeit hinweg – und lässt trotzdem das Orchester seelentief seufzen und brausen. Die bodenlose Melancholie, so paradox das klingen mag, erfrischt musikalisch.
Zu Recht hat der Komponist Pique Dame für die beste seiner zehn Opern gehalten, obwohl Eugen Onegin viel häufiger gespielt wird. In wenigen Wochen hat er Pique Dame 1890, drei Jahre vor seinem Tod, fieberhaft aufs Papier gefetzt, gepeinigt von Depressionen, und seiner Homosexualität wegen erpresst von der eigenen Frau. Herrliche Kantilenen, kraftvolle Chöre; das Werk taucht in die Klangwelt der Wiener Klassik und ist an
sst von der eigenen Frau. Herrliche Kantilenen, kraftvolle Chöre; das Werk taucht in die Klangwelt der Wiener Klassik und ist an anderer Stelle seiner Zeit weit voraus – der Soundtrack von Hollywood lässt grüßen.Benedict Andrews dockt beim Film Noir anTschaikowskis jüngerer Bruder Modest, der Librettist, hat die gleichnamige ironische Novelle Puschkins zu einem düsteren Nachtstück umgebogen und mit zusätzlichen Schauplätzen und Figuren ergänzt. Der Australier Benedict Andrews, zuletzt vor allem als Filmregisseur erfolgreich, schraubt die Story noch um einige Umdrehungen weiter ins Schwarze. Er dockt ästhetisch am Film Noir der Fünfziger Jahre an. Doch davon bleibt nicht mehr als abgrundtiefes Schwarz. Figuren und Symbole (Spieltisch, Spiegel, Straßenlaternen) erscheinen aus dem Nichts. Lange Auf- und Abblenden gliedern die sieben Szenen. Das Personal steht oft nur an der Rampe herum. Was ist im Regiekonzept – im Programmheft vollmundig erklärt – nicht alles angelegt, auf der Bühne ist davon aber kaum etwas zu sehen: Roadmovie im Gangstermilieu, Psychothriller à la David Lynch, Horror und Mystery. Auch von Anspielungen auf die kriminelle Klassengesellschaft unter Zaren aller Arten keine Spur. Alles dreht sich nur um den Wahnsinn eines Mannes, dessen Hintergrund wie alles andere im Dunkel bleibt.Dieser wahrhaft umnachtete Hermann ist ein hoffnungsloser Fall, der von Beginn an mit der Pistole herumfuchtelt. Bei Puschkin landet er noch im Irrenhaus, bei den Brüdern Tschaikowski erschießt er sich, als sein Glück im Spiel wie in der Liebe bricht. Mit ihm hat Tschaikowski sich identifiziert: „Niemals zuvor hat mich je einer meiner Charaktere so leidenschaftlich zum Weinen gebracht.“ Tenor Brandon Jovanovich stößt an seine GrenzenDie Zerrissenheit dieses Charakters prägt die extrem anspruchsvolle Tenorpartie. Die Stimme des Amerikaners Brandon Jovanovich stößt zwischen Verzweiflung und erotischer Obsession an ihre Grenzen. Sängerisch und darstellerisch kann er der Lisa der litauischen Sopranistin Asmik Grigorian ohnehin nicht das Wasser reichen. An ihr kommt derzeit weltweit niemand vorbei, wenn ekstatischer Seelenstriptease am Rande des Abgrunds gefordert ist. Der lebensmüde Komponist hatte sich einst in einen Fluss gestürzt. In seiner Oper ist es Lisa, die den Freitod in den eisigen Fluten sucht.In sie hat Hermann sich verloren, eine lebensgierige Frau aus der Oberwelt, die jedoch dem Grafen Jelezky (der tiefgründige Bariton des Russen Boris Pinkhasovich) versprochen ist. Weil irgendwo Geld herkommen muss, ist die Spielsucht des trostlosen Losers unvermeidlich. Pique Dame, eine dämonische, alte Gräfin und verblühte femme fatale (höchst präsent Violetta Urmana, Mezzosopran), kennt das Geheimnis der drei Karten, mit dem sich das Spielglück angeblich erzwingen lässt. Hermann, besessen auch von ihr, glaubt am Ende gar, sie getötet zu haben. Doch nicht einmal zum Mörder reicht es bei ihm. Alles Wahn. Matter Applaus.