Medea, die rasende Rächerin – im Zorn über ihren untreuen Mann erdolcht sie sogar ihre Kinder. Die Schreckensfigur, der die Gefühle durchbrennen, wandert durch Kunst-, Musik- und Literaturgeschichte von Euripides bis Christa Wolf. In deren Roman Medea wird die tragische Figur zum feministischen Urbild. An die wohl ursprüngliche Lesart, in der Medea noch kein Monster ist, knüpft auch Peter Sellars an, der die barocke Oper von Marc-Antoine Charpentier mit dem Libretto von Thomas Corneille an der Berliner Staatsoper Unter den Linden – eine Erstaufführung – in Szene setzt.
Kein Zweifel, diese Mörderin mit heilloser Leidenschaft für Jason, den Helden, der sie einst mitsamt dem Goldenen Vlies nach Korinth holte, ist eine beängstigend
samt dem Goldenen Vlies nach Korinth holte, ist eine beängstigend starke Frau – aber nur ein Opfer, wie der US-amerikanische Regisseur weismachen will, ist sie in dieser Oper gewiss nicht. Die Inszenierung macht sie zur Immigrantin in Abschiebehaft – ein an den Haaren herbei gezogener Versuch der Aktualisierung. Erstens ist Medea keine Schutzsuchende, sondern von göttlicher Herkunft mit zauberischen Kräften, einem Kleid aus Sonnenstrahlen und dem Auftritt einer Herrscherin. Zweitens ist das Publikum nicht so unbedarft, dass es mithilfe eines Raketenwerfers und eines Chors in blutbesudelten Uniformen mit der Nase in die Gegenwart gestoßen werden müsste.Sellars meint, Frauen zahlten in allen Kriegen den Preis des Gemetzels. Das stimmt. Aber um das zu beklagen, ist Medea die Falsche. Sellars begründet den Kindermord so: „Wir leben heute in einer Zeit und in Ländern, die kein Problem damit haben, die nächste Generation zu opfern. Vielleicht hat uns der Mythos von Medea etwas zu sagen.“ Ja, schon, aber etwas ganz anderes. Das Stück handelt von der Niederlage der Vernunft. Und der Krieg auf der Bühne ist allein ein Krieg pervertierter Liebe. Medea ringt zwar unentwegt mit ihrem Gewissen – genauso wie die anderen Figuren. Aber das Ringen führt stets zur falschen Entscheidung. Doch selbst das Morden nehmen in dieser Aufführung Medea sinnwidrig andere ab.Charpentiers „Médée“: Der König als geisteskranker MörderCharpentiers Musik hat jeder im Ohr, wenn auch nur ein einziges Thema aus seinem Te Deum in D-Dur – es dient als Hymne des Eurovision Song Contest. Der dereinst hochgerühmte Komponist lebte zur Zeit des Sonnenkönigs in Paris, war aber kein Höfling, sondern ein Außenseiter, der sich bei der Kirche verdingte, weshalb von ihm überwiegend geistliche Werke überliefert sind. Am königlichen Platzhirsch Jean-Baptiste Lully kam er erst nach dessen Tod vorbei. Aber nicht lange. Seine Médée beginnt zwar mit einem Lobgesang auf den König, der sich im Stück allerdings als geisteskranker Mörder entpuppt. Die erhoffte Karriere in Versailles war mit dem vierten Akt zu Ende.´Das Stück stand immer auch zu Unrecht im Schatten der gleichnamigen Oper von Luigi Cherubini, die ihre Popularität vor allem Maria Callas verdankt. Das viel seltener aufgeführte, hundert Jahre ältere Werk Charpentiers, bietet einen überwältigenden musikalischen Sog spiritueller Erhabenheit. Es setzt nicht auf die Effekte des blutrünstigen Geschehens, sondern breitet einen dichten Nebel aus zwiespältiger Gefühle aus. Es herrscht eine verstörende Ruhe im komplexen Intrigen- und Zerstörungswerk. Die Musik hat darin beinahe etwas Beruhigendes.Das ist nicht ganz unproblematisch. Das meditative Gleichmaß der Aufführung verursacht bei aller Dramatik und emotionaler Extreme trotz der Kürzungen streckenweise Ermüdung. Um es mit den Worten des Regisseurs freundlicher auszudrücken: „Wir bieten nicht mehr als drei Stunden Ruhe, in denen jeder im Publikum mit seinen Gefühlen allein ist.“Die einen Ganzton tiefer gestimmten Instrumente des Freiburger Barockorchesters verstärken die dunklen Farben. Ganze Batterien von Oboen und Flöten treten im Dialog gegeneinander an. Simon Rattle am Pult hat wie nur wenige Allrounder Gespür für die Eigenheiten des BarockBühnenbild von Frank Gehry: Seltsame Gespinste aus MaschendrahtDas Stück dreht sich um Medea, und die Inszenierung ist ganz auf die ungemein präsente Mezzosopranistin Magdalena Kožená zugeschnitten. Sie singt mit betörender Innigkeit. In der zentralen Szene wird das zärtliche Feuer der Liebe angefacht zum versengenden Feuer der Rache. Bis dahin nur hinter Gittern zu sehen, ist Medea nun in jeder Hinsicht befreit vom „Gott der Hölle“. Kožená ist dann noch immer der Verzweiflung näher als dem Wahnsinn.Die drei Mannsbilder um sie herum sind nur verlogene, intrigante Hampelmänner. Jason (der hohe, durchdringende Tenor Reinoud Van Mechelen) ist alles andere als ein Held. Sein Rivale Oronte (Gyula Orendt, Bariton) und der hilflose König Créon (Luca Tittoto, Bass) werden von der Regie vernachlässigt, sie entwickeln weder darstellerisch noch stimmlich eine eigene Persönlichkeit. Das gilt auch für Medeas Rivalin Créuse (Carolyn Sampson), deren kleiner, heller, sanfter Sopran der Wucht der Rolle nicht gerecht wird.Das über fünf Akte unveränderte Bühnenbild von Frank Gehry ist ohne jeden Bezug zum Stück. Drei silberne Wölkchen, die mal mehr, mal weniger tief hängen. Dazu zwei seltsame Gespinste aus Maschendraht, die wie übrig gebliebene Experimente aus der Werkstatt des berühmten Architekten wirken.