Das nennt man Vorwärtsverteidigung! Boris Pistorius, seit seiner Bestallung als Bundesverteidigungsminister der unumschränkte Superstar aller Politiker-Beliebtheits-Rankings, war plötzlich und unerwartet in die Kritik geraten. Die Wochenzeitung Die Zeit nannte ihn am 7. Oktober, am Tag des Hamas-Massakers, abschätzig einen „Ankündigungsminister“. Er habe versprochen, das Beschaffungswesen der Bundeswehr schneller, die Personalgewinnung effektiver, die Kasernen schöner und sein Ministerium leistungsfähiger zu machen, aber aus den vielen Ankündigungen sei nichts geworden. Im Gegenteil. Nicht einmal schlappe zehn Milliarden Euro mehr für die allerdringlichsten Aufgaben der Bundeswehr habe er dem Finanzminister bei den Haushaltsberatungen aus den Rippen leiern können. Versager!
Nur wenige Bundeswehr-Soldaten wollen für das NATO-Leuchtturmprojekt „Stärkung der Ostflanke“ zum öden Garnisonsdienst in Litauen
Flugs war der umjubelte König der Umfragen mit allerlei kleinlichem Unmut konfrontiert. In der Materialbeschaffung, hieß es nun mäkelig, habe er eine 1,3 Milliarden Euro teure Pleite mit funktionsuntüchtigen Funkgeräten zu verantworten, das vielgepriesene NATO-Leuchtturmprojekt namens „Stärkung der Ostflanke“ komme nur schleppend voran, weil es an Geld und willigem Personal für den Dienst in Litauen fehle, und auch bei der telefonischen Kündigung des Zwei-Sterne-Generals Markus Kurczyk wegen eines MeToo-Verdachts in der sogenannten „Kuss-Affäre“ – der General hatte einen Oberleutnant gegen dessen Willen auf die Wange geküsst – habe der Verteidigungsminister keine gute Figur gemacht. Die Unionsfraktion nutzte diese Steilvorlagen sofort für ein Statement: „Der Minister“, sagte ihr verteidigungspolitischer Sprecher Florian Hahn, „hat ein schneidiges Auftreten und kommt damit gut an. Nun ist er aber acht Monate im Amt, da erwarten wir langsam Resultate“.
Der hell und steil aufgegangene Stern des Boris Pistorius drohte also schon wieder zu sinken. Zudem schienen die erforderlichen Personalaufstockungen bei der Bundeswehr an der hartnäckigen Wehrunwilligkeit der jungen Generation zu scheitern und nur wenige Soldaten meldeten sich freiwillig für den öden Garnisonsdienst in Litauen – in dieser höchsten Not wählte der frustrierte Sozialdemokrat Pistorius die Vorwärtsverteidigung in Form einer Ruck-Rede. Mit durchschlagendem Erfolg. Sein „Kriegs“-Interview in der ZDF-Sendung Berlin direkt beschäftigt seither eine ganze Brigade von Interpretationskünstlern, an vorderster Front Leitartikler, Sicherheitsexperten, TalkmasterInnen und Mikrofonhaltungsjournalisten.
Pistorius hat – „nur“ 20 Monate nach Kriegsbeginn in der Ukraine! – gesagt, die friedensverwöhnte Zivilgesellschaft müsse endlich umdenken und „kriegstüchtig“ werden. 30 Jahre „Friedensdividende“ hätten den Wehrwillen gebrochen und die Aufrüstung verbockt. Allerdings erwähnte Pistorius nicht, dass seine Partei, die SPD, in diesen 30 Jahren 21 Jahre lang regiert oder mitregiert hat, das wäre wohl zu viel Kontext gewesen, man soll ja neuerdings nicht mehr nach hinten, sondern nach vorne denken. Wie bei der Vorwärtsverteidigung.
Nicht nur die Bundeswehr, nein, die ganze Gesellschaft brauche jetzt einen „Mentalitätswandel“. Man müsse die Gesellschaft anders „aufstellen“. Wie man eine Gesellschaft anders „aufstellt“, das heißt formiert, verrät Pistorius seinem Publikum wohlweislich nicht. Er beschränkt sich auf einen allgemein gehaltenen Appell: „Wir müssen uns wieder an den Gedanken gewöhnen, dass die Gefahr eines Krieges in Europa drohen könnte. Und das heißt: Wir müssen kriegstüchtig werden, wir müssen wehrhaft sein und die Bundeswehr und die Gesellschaft dafür aufstellen.“
Der adjutantenhafte Kommentar des ZDF klingt wie die Tagesparole der Bundeswehr-Pressestelle
Das ZDF fragte aber nicht nach, was er mit „aufstellen“ gemeint haben könnte, sondern sekundierte mit einem adjutantenhaften Kommentar seiner Hauptstadtkorrespondentin Ines Trams, der sich wie die Tagesparole der Bundeswehr-Pressestelle liest: „Deutschland, seine Politik, seine Gesellschaft und seine Bundeswehr müssen kriegstüchtig werden? Ja, das müssen sie. Pistorius hat sich getraut, eine unbequeme Wahrheit auszusprechen: Es braucht eine neue Wehrhaftigkeit im Denken und im Handeln.“
Dem applaudieren die einschlägig bekannten Militär- und Sicherheitsexperten. Und in den Talkshows und Fernsehstudios sitzen, passend dazu, Soldaten in Uniform, etwa als Dauergast, bei Illner, der Vorsitzende des Deutschen Bundeswehrverbandes, André Wüstner, mit der üblichen Forderung nach mehr Geld, weil die läppischen 100 Milliarden Euro Sondervermögen vorne und hinten nicht reichen würden.
Auch die NATO-Strategen dürfen bei der Einordnung des Minister-Interviews sowie bei der Einnordung der Gesellschaft auf „Kriegstüchtigkeit“ nicht fehlen. Laut Politologin Stefanie Babst tue sich die Bundesregierung nach wie vor schwer, „den militärischen Werkzeugkasten in den Mittelpunkt unserer politischen Kommunikation zu stellen, um unseren Gegnern zu zeigen, wir verteidigen uns mit allen Mitteln.“ Leider, so der Militärhistoriker Sönke Neitzel, bevorzuge man in Berlin noch immer „eine Strategie der Konfliktvermeidung“. Man wolle partout „keine militärische Macht projizieren“. „Militärischer Werkzeugkasten“, „militärische Macht projizieren“ – in diesen Kreisen ist man sich für keine Sprachvernebelung zu schade.
Boris Pistorius hat der abgemagerten Friedenspolitik seiner Partei mit seinen überflüssigen Bemerkungen zur Kriegstüchtigkeit einen Bärendienst erwiesen. Ein zweiter Gustav Noske wird er dadurch sicher nicht, aber vom kommenden „Abwehr- oder Verteidigungskrieg“ redet er schon genauso überzeugt wie einst die sozialdemokratische Reichstagsfraktion am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Auf jeden Fall hat er seine Chance gewahrt, am 13. Februar in Berlin beim „Defftig Ollnborger Gröönkohl-Äten“ vom Kurfürstenkollegium zum Oldenburger Kohlkönig gewählt zu werden. Er wäre dann Nachfolger von Christian Lindner und Franziska Giffey.
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