Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba war sich noch im September absolut sicher: Die Deutschen werden, wie üblich, ihr albernes Prüfungs- und Bedenkenträger-Theater aufführen, am Ende aber klein beigeben und die erbetenen Taurus-Marschflugkörper an Kiew liefern. „Ihr werdet es sowieso machen“, sagte Kuleba mit leicht verächtlichem Unterton zu Amtskollegin Annalena Baerbock von den Grünen.
Und nun das! Kanzler Olaf Scholz „macht es nicht“. Eine Lieferung sei, zumindest „vorerst“, ausgeschlossen. Im Auswärtigen Ausschuss des Bundestages soll Scholz seine ablehnende Haltung mit dem kryptischen Satz begründet haben: „Was Großbritannien und Frankreich können, dürfen wir nicht.“
chen Satz begründet haben: „Was Großbritannien und Frankreich können, dürfen wir nicht.“ Nun rätselt die deutsche Unterstützergemeinde der Ukraine, was der „Angsthase“ Scholz damit gemeint haben könnte.Was Marie-Agnes Strack-Zimmermann glaubtDie mit Abstand dämlichste Vermutung kommt, wie üblich, von der lautesten Rüstungslobbyistin des Deutschen Bundestags, Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP). Sie glaubt, Scholz‘ Absage sei eine Trotzreaktion. „Trotz gehört in den Kindergarten“, twitterte sie, „nicht ins Kanzleramt. Fortwährendes Zaudern mit fragwürdigen Argumenten kostet schlichtweg Menschenleben. Unfassbar.“Seriöse Kritiker vermuteten, der Kanzler wolle seiner Linie treu bleiben und nichts ohne den großen Bruder USA unternehmen. Da in den Staaten die bedingungslose Unterstützung für die Ukraine gerade schwinde, und zwar nicht nur bei den Republikanern, sondern auch in der Bevölkerung, dürften weitere militärische Eskalationsschritte hüben wie drüben nicht gerade auf fruchtbaren Boden fallen. Vielleicht ist es besser, noch ein wenig zu warten.Kertsch-Brücke zur KrimEine dritte Vermutung kommt von versierten Verteidigungsexperten. Der Marschflugkörper Taurus kann seine Sprengköpfe weiter als 500 Kilometer tragen. Seine bunkerbrechenden Fähigkeiten würden mit Sicherheit auch gegen harte Ziele wie Militärflugplätze, Depots, Kasernen, Häfen, Straßen und Brücken in Russland gerichtet werden, allen Beteuerungen der ukrainischen Armee zum Trotz. Doch schon die Zerstörung der Kertsch-Brücke, die das russische Festland mit der Krim verbindet, könnte einen unkalkulierbaren Gegenschlag auslösen. Wie man nicht erst seit dem Nord-Stream-Anschlag weiß, ist die deutsche Infrastruktur so verletzlich wie jede andere.Zuletzt aber wurde noch ein viertes, ein verfassungsrechtliches Motiv diskutiert, das Scholz‘ Haltung erklären könnte. Der Marschflugkörper Taurus muss, um ins Ziel zu finden, mit Geodaten gefüttert werden, die von entsprechend ausgebildeten Spezialisten eingegeben werden. Bei den britisch-französischen Storm Shadow- bzw. Scalp-Marschflugkörpern geschieht dies angeblich durch eigene „Berater“ vor Ort. Das wäre eine direkte Kriegsbeteiligung, mithin das Überschreiten der berühmten roten Linie. Würde Deutschland wie Großbritannien vorgehen, wäre dies ein Auslandseinsatz, der vom Parlament genehmigt werden müsste. Denn im Parlamentsbeteiligungsgesetz steht: „Der Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte außerhalb des Geltungsbereichs des Grundgesetzes bedarf der Zustimmung des Bundestags.“ Auch AWACS-Aufklärungsflüge im Rahmen früherer NATO-Einsätze brauchten stets die Genehmigung des Parlaments.Frankreich und Großbritannien verfügen über AtomwaffenNun wäre es kein Problem, einen entsprechenden Parlamentsbeschluss herbeizuführen, sagen empörte Juristen, die Scholz‘ „ängstliche“ Haltung als „vorgeschoben“ bezeichnen. Die Ampelregierung habe schließlich die Mehrheit der Abgeordneten hinter sich. Das stimmt wohl. Es könnte aber auch sein, dass einige Abgeordnete vom linken Flügel der SPD ausscheren und die Regierung in die Bredouille stürzen. Die Abweichler könnten argumentieren, dass der Taurus-Einsatz nicht im Rahmen eines Systems kollektiver Sicherheit stattfände, also auch nicht von Artikel 24 des Grundgesetzes gedeckt sei. Schon drei oder vier Abweichler würden einen Sturm der Entrüstung entfachen und die Ampelkoalition noch angeschlagener dastehen lassen als sie es eh schon ist. In der Geschichte der SPD hat es Abweichler in Fragen von Krieg und Frieden des Öfteren gegeben.Der eigentliche Grund für Scholz‘ kryptische Bemerkung ist aber nicht der riskante Parlamentsvorbehalt, das eigentliche Motiv gründet auf dem Versprechen seines Amtseids, „Schaden vom deutschen Volke abzuwenden“. Denn in der Wendung „Was Frankreich und Großbritannien können, dürfen wir nicht“ steckt eine politische Unterscheidung: Frankreich und Großbritannien verfügen über Atomwaffen, deshalb können sie anders handeln als Deutschland, nämlich eigenständiger und risikofreudiger.Wladimir Putins DrohungenDeutschland ist dagegen auf den Nuklearschutzschirm der USA angewiesen. Und da Scholz nicht weiß, wer im kommenden Jahr die Wahlen in den USA gewinnt, muss er heute schon dafür sorgen, dass Deutschland einer Atommacht wie Russland im Ernstfall nicht schutzlos gegenübersteht. Ein Kriegseintritt ist für Deutschland mit ganz anderen Abwägungen verbunden als für Frankreich oder Großbritannien. So sagte Scholz beim Treffen der Europäischen Politischen Gemeinschaft in Granada: „Ganz klar ist, dass wir für uns immer auch beachten müssen, was uns die Verfassung vorgibt und was unsere Handlungsmöglichkeiten sind. Dazu zählt ganz besonders die Tatsache, dass wir selbstverständlich gewährleisten müssen, dass es keine Eskalation des Krieges gibt und dass auch Deutschland nicht Teil der Auseinandersetzung wird. Es ist auch meine Aufgabe als Bundeskanzler, das zu gewährleisten.“Dass unverantwortliche Scharfmacher wie Marie-Agnes Strack-Zimmermann, Anton Hofreiter (Grüne) oder Roderich Kiesewetter (CDU) sowie forsche Sicherheits- und Militärexpertinnen wie Claudia Major Wladimir Putins Atomkriegsdrohungen für bloße Einschüchterungs-Propaganda halten, die man getrost ignorieren dürfe, mag ihrer politischen Naivität geschuldet sein. Ein Bundeskanzler kann und darf sich solche Hasardspiele nicht erlauben. Und das ist auch gut so.