Susanne Schattenberg und Johannes Varwick im Gespräch: „Das ist kein lokaler Konflikt“
Streitgespräch Wann endet dieser Krieg? Die Ukraine sollte das nicht alleine bestimmen, meint der Politologe Johannes Varwick. Doch, entgegnet die Historikerin Susanne Schattenberg
„Nicht ausgeschlossen, dass die Ukraine irgendwann zu dem Punkt kommt und sagt: Es sind keine Ressourcen mehr da“
Foto: Libkos/ap/dpa; Portraits: Matej Meza/Universität Bremen, Thomas Bartilla/Imago Images
Es scheint, dass der vermaledeite Krieg Russlands gegen die Ukraine noch Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern könnte. Andererseits hat er in den eineinhalb Jahren seines Bestehens schon so viele überraschende Wendungen genommen, dass man mit Prognosen vorsichtig sein sollte.
der Freitag: Frau Schattenberg, was hat Sie am Krieg bisher am meisten überrascht?
Susanne Schattenberg: Am Krieg hat mich immer noch am meisten der Krieg selber überrascht, weil ich nicht für möglich gehalten hätte, dass er in Wladimir Putins Kalkül gehört. Wie die meisten Russland- oder auch Sicherheitsexperten bin ich davon ausgegangen, dass ihm die eingefrorenen Konflikte reichen. Vor allem für seine Innenpolitik. Ich bin immer noch der Meinung, dass es Putin mehr um s
m für seine Innenpolitik. Ich bin immer noch der Meinung, dass es Putin mehr um sein Regime ging als um außenpolitische Ziele. Überrascht hat aber auch mich, wie gut die ukrainische Armee standgehalten hat.Der Zustand der russischen Armee hat Sie dagegen nicht überrascht?Schattenberg: Wenn man die Geschichte der sowjetischen Streitkräfte kennt oder auch die der Korruption in Russland, ist es nicht so erstaunlich, wie schlecht die russische Armee vor allem in den ersten Wochen und Monaten agiert hat, unkoordiniert, wenig moderne Waffensysteme.Und Sie, Herr Varwick?Johannes Varwick: Auch mich hat überrascht, dass die Ukraine gegen die russische Aggression so gut standhält; da habe ich mich offen gestanden geirrt. Der zweite Punkt, der mich überrascht hat, ist die Risikobereitschaft des Westens, seine massive Unterstützung. Das geht weit über Waffenlieferungen hinaus; wir bilden ukrainische Soldaten in großer Zahl aus, wir liefern detaillierte Daten zur Zielerfassung. Wir sind, auch wenn das völkerrechtlich nicht so genannt wird und politisch tabuisiert ist, faktisch Kriegspartei.Frau Dağdelen von der Linkspartei hat ja ein Gutachten beim Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages in Auftrag gegeben, um zu klären, ob wir nun wirklich Kriegspartei sind. Ist das nur eine rhetorische Frage oder hätte das Folgen?Varwick: Völkerrechtler sind flexibel und findig darin, Konstruktionen zu finden. Für mich ist das keine völkerrechtliche Diskussion. Natürlich hat die Ukraine ein Recht auf Selbstverteidigung und wir sollten sie dabei unterstützen. Aber in der Art und Weise, wie wir sie unterstützen, lügen wir uns in die Tasche, wenn wir argumentieren, wir seien nicht Kriegspartei. Wo endet das denn? Nicht doch im Krieg mit Russland? Möglicherweise ist er auch unvermeidbar. Und doch finde ich, dass wir zu wenig dafür tun, ihn zu verhindern.Schattenberg: Ich sehe die Bundesrepublik und die anderen westlichen Unterstützer nicht als Kriegspartei. Ich würde das auch nicht nur völkerrechtlich herleiten wollen, sondern – als Historikerin – tatsächlich aus der Geschichte. Im Kalten Krieg gab es einen stillschweigenden Konsens: Es war gang und gäbe, dass die USA und die UdSSR die Staaten, mit denen sie liiert waren oder auch nur sympathisierten, mit Waffen, Militärberatern, materiellen Hilfen, Infrastruktur und anderem mehr ausgestattet haben – ohne dass dies tatsächlich als Teilnahme am Krieg gewertet wurde.Russland denkt heute aber, dass es im Krieg mit dem Westen ist. Glauben Sie denn, dass sie sich gleichwohl noch an den stillschweigenden Konsens halten, den Sie gerade skizziert haben?Schattenberg: Ich denke schon, dass Putin und sein Sicherheitsrat darauf setzen, dass dieses ungeschriebene Gesetz aus dem Kalten Krieg gilt. Solange es kein direktes Aufeinandertreffen gibt, wird es nicht zum Einsatz von Atomwaffen kommen. Ich denke, dass im Kreml immer noch unterschieden wird, was Politik ist und was Propaganda. Propaganda sowohl für die eigene Bevölkerung als auch für die internationale Welt, vor allem für den Globalen Süden.Varwick: Wir erhitzen die Temperatur unmerklich, in der Hoffnung, dass der Frosch nicht merkt, wenn es für ihn zu heiß geworden ist. Wir tun heute Dinge, die vor 16 Monaten ausgeschlossen wurden, weil man gesagt hat, das kann nur im Krieg mit Russland münden. Ich glaube, wir sollten noch mal genau festhalten, was unsere strategischen Ziele sind und mit welchen Mitteln wir sie erreichen wollen. Das setzt auch voraus, dass wir diese roten Linien noch mal ernsthafter mit uns selber abmachen. Ich bin kein Prophet, aber wenn es im Lauf des Herbstes oder im nächsten Frühjahr zu einer Situation kommen sollte, in der die Ukraine zusammenbricht, dann sollten wir vorbereitet sein. Unterstützen wir sie dann nicht doch mit eigenen Soldaten, sodass die allerletzte rote Linie fällt?Schattenberg: Die Strategie, den Frosch im Wasserglas so langsam zu erhitzen, dass er nicht merkt, dass er gerade umkommt, sehe ich eher aufseiten Russlands. In seinem Versuch, die neo-imperiale Politik auszudehnen, setzte es darauf, dass der Westen alles tut, um nicht in einen Konflikt zu kommen. Das wurde deutlich mit der Annexion der Krim und Destabilisierung des Donbass. Der Westen hat sehr milde reagiert, auch die Ukraine hat versucht, sich weiterhin mit Russland zu einigen, bis zum Schluss unter Wolodymyr Selenskyj. Die rote Linie hat der Kreml am 24. Februar 2022 überschritten.Und nun?Schattenberg: Meiner Meinung nach wäre es fatal, diesen Konflikt als einen regionalen Konflikt zwischen der Ukraine und Russland zu betrachten. Ich glaube, es geht hier wesentlich darum, wie europäische Sicherheitspolitik aussehen und die globale Sicherheitsordnung weiter gestaltet werden kann. Man muss sich verschiedene Szenarien überlegen. Was passiert, wenn die Ukraine siegt? Was, wenn sie verliert? Und was momentan am wahrscheinlichsten scheint: Was passiert, wenn dieser Krieg sich noch Jahre, eventuell Jahrzehnte fortsetzen sollte?Dieser Meinung scheint auch die Bundesregierung zu sein, es gibt Äußerungen von Scholz in diese Richtung. Da frage ich mich: Wenn das so ist, warum arbeitet man nicht doch auf eine Einfrierung des Konfliktes hin, Herr Varwick?Varwick: Weil es derzeit politisch nicht gewollt ist. Weil man glaubt, dass man durch die militärische Unterstützung der Ukraine die Realitäten auf dem Schlachtfeld drehen kann. Und die Hoffnung hat, dass die Bedingungen nach einem militärischen Erfolg der Ukraine besser sind. Ich bin hier nicht aus pazifistischen oder sonstigen Argumenten skeptisch, sondern aus strategischer Sicht, weil ich nicht sehe, dass dieses Vorgehen Erfolg haben wird. Mein Szenario ist eher, dass wir zu einem Punkt kommen wird, wo allen klar ist, dass dieser Konflikt nicht nur unlösbar ist, sondern die einzige Option in einem Einfrieren besteht. Das ist keine Lösung, die mir gefällt. Aber wie lange braucht es noch und wie viele Opfer braucht es noch, damit die Politik das einsieht?Placeholder image-3Schattenberg: Ich denke, dass die Entscheidung dafür bei der Ukraine liegen muss. Und ich halte es auch nicht für ausgeschlossen, dass sie irgendwann zu dem Punkt kommt und sagt: Es sind keine Ressourcen mehr da. Weder Soldaten, die man noch mobilisieren kann, noch ist die Bevölkerung zu weiteren Opfern bereit.Warum dann nicht lieber früher als später?Schattenberg: Das ist eine extrem grausame Entscheidung, weil klar ist, dass die Menschen in den besetzten Gebieten kein friedliches Leben haben werden. Sicherlich gibt es Leute, die sich irgendwie arrangieren und weitestgehend ein normales Leben fortführen, aber angesichts der Verschleppung von Kindern, der Foltergefängnisse, der Zerstörung von Kulturgütern muss befürchtet werden: Da, wo die russische Armee steht, wird ukrainisches Leben, ukrainische Kultur und Sprache vernichtet werden.Varwick: Meiner Auffassung nach ist es nicht richtig zu sagen, dass die Ukraine alleine entscheiden soll, wann der Krieg endet. Wir sind dafür verantwortlich, dass die Ukraine bisher überhaupt standgehalten hat. Und wir sind massiv betroffen von diesem Krieg. Daraus resultiert die Verantwortung, dass wir auch unseren eigenen Interessen gemäß handeln und nicht nur in einer Art Nibelungentreue verharren. Ich kenne überhaupt keinen Fall in der internationalen Politik, wo gesagt wird, das muss ein Staat ganz alleine entscheiden.Ich möchte einen Vergleich ins Spiel bringen, der selten gezogen wird, vielleicht auch, weil dabei Äpfel mit Birnen verglichen werden. Aber wir haben ja den Nahostkonflikt, der im Grunde genommen auch eingefroren ist. Und da hier auch gegen Völkerrecht verstoßen wird, kann es dem „Werte“-Westen nicht gefallen. Aber es gibt nun einmal keine ideale Lösung, das ist der „Realismus“ dieser Haltung.Varwick: Wir haben auch andere Fälle von eingefrorenen Konflikten. In den USA wird intensiv diskutiert, dass Korea seit Jahrzehnten in einem „frozen conflict“ steckt, der natürlich für die Nordkoreaner schrecklich ist. Aber wir müssen doch gucken, was machbar, was realistisch ist. Um es noch einmal klar zu sagen: Natürlich bin ich dafür, dass Russland diesen Krieg verliert. Und natürlich bin ich dafür, dass Russland möglichst schnell abzieht und gewissermaßen seinen Irrweg erkennt. Aber das ist doch keine realistische Annahme im Moment.Schattenberg: Für mich werden hier durchaus Äpfel mit Birnen verglichen. Denn anders als im Nahostkonflikt geht es ja nicht darum, dass sich zwei Nationen um ein Territorium streiten, das beide als ihren Lebensraum oder als ihr Hoheitsgebiet betrachten. Für Putin geht es darum, zu behaupten, man sei eine Nation, man habe eine Geschichte, es gebe nur eine Sprache. Zu dieser großen dreieinigen russischen Nation gehören eben nicht nur Russland und die Ukraine, sondern auch Belarus. Putin wird sich mit einem eingefrorenen Konflikt nicht zufriedengeben; zu glauben er ließe sich noch einhegen, verkennt die Dimension seiner Politik.Warum sind die Kämpfe im Donbass kein territorialer Konflikt? Es gibt Bodenschätze. Oder die Krim: Die russische Flotte ist dort, es gibt zwei fast gleichstarke Bevölkerungsgruppen, die den Siedlungsraum für sich beanspruchen …Schattenbach: Das Donbass ist Schwerindustrie. Die ist lange den Bach hinunter, um es salopp zu formulieren. Es gibt es keine seltenen Erden, wie wir sie heute brauchen, sondern Kohle und Eisenerz. Das ist eher eine Last, weil das eben heute strukturschwache Gebiete sind. Und bei der Krim war ja unbestritten, dass Sewastopol, der Hafen, weiter an die Russen verpachtet werden soll. Die Krim ist ein mythischer Sehnsuchtsort für viele Russinnen und Russen und hat weniger mit Territorium zu tun als mit dieser imperialen Ideologie. Man wollte seine russische Riviera zurückhaben.Was ist mit dem Bevölkerungsteil im Donbass, der lieber zu Russland gehören möchte? Gibt es ihn so lange nach Kriegsausbruch nicht mehr?Schattenberg: Auch wenn ein Großteil der Bevölkerung russischsprachig war und ist und mit Russland sympathisierte, lag der Anteil der Menschen, die sich in Meinungsumfragen für einen Anschluss an Russland ausgesprochen haben, im einstelligen Prozentbereich. Das gilt auch für die Krim. Uns Deutschen fällt hier schwer zu differenzieren. Wir denken, wenn jemand Russisch spricht, dann ist er doch auch für Russland. Nein. Das Fatale an diesem Krieg ist ja, dass Russisch als Sprache, dass russische Kultur lange in der Ukraine wunderbar koexistieren konnten. Das hat Putin gründlich zerstört.Also muss man auf einen Regime Change in Russland hinarbeitenVarwick: Dass Russland einen Weg einschlägt, der von imperialen Ansprüchen Abstand nimmt, geht nur durch innenpolitische Veränderungen und durch einen Regimewechsel. Darauf haben wir aber keinen Einfluss. Und weil das so ist, müssen wir mit der russischen Politik leben, wie sie ist. Ich glaube, wir können sie eindämmen. Ich halte auch nichts von der These, dass morgen das Baltikum dran ist oder übermorgen der Russe in Berlin steht, wenn wir jetzt Kompromisse eingehen.Hoffen Sie eigentlich insgeheim auf einen Sieg von Donald Trump bei den nächsten Präsidentschaftswahlen in den USA?Varwick: Nein, ich glaube auch nicht, dass sich das mit Trump personalisieren lässt. Die Frage ist, ob die Amerikaner dauerhaft daran interessiert sind, sich so zu engagieren, wie sie das in 16 Monaten gemacht haben. Wenn Sie sehen, dass Deutschland und die USA auf dem Gipfel in Vilnius relativ einsam zusammen verhindert haben, dass ein Datum genannt wird für den NATO-Beitritt der Ukraine, dann zeigt das die Richtung an. In Deutschland und den USA verlaufen die Diskussionen differenzierter als etwa in den osteuropäischen Staaten. Da gibt es massive Risse.Frau Schattenberg, hätte man der Ukraine auf dem NATO-Gipfel eine Perspektive für einen Beitritt geben sollen?Schattenberg: Es wäre gut gewesen, wenn ein klarer Fahrplan eröffnet worden wäre, wenn nicht sogar eine bedingte Mitgliedschaft versprochen worden wäre. Ich glaube, dass man hier tatsächlich neu denken und alte Denkmuster beerdigen muss.Man hat so ein bisschen den Eindruck, dass die Balten und die Polen bereit wären, wirklich in einen Krieg mit Russland einzutreten. Wie schätzen Sie das ein? Jedenfalls scheinen mir die antirussischen Stimmungen massiv in diesen Ländern.Schattenberg: Ich bin Russland-Expertin. Dennoch: Ich glaube das nicht. Ich glaube, dass hier tatsächlich mehr Propaganda und Absichtsbekundungen im Spiel sind. Oder eben der Versuch, Druck auszuüben. Ich denke natürlich schon, dass in den baltischen Staaten die Möglichkeit, dass Russland einmarschieren oder zumindest Luftangriffe beginnen könnte, als real empfunden wird – während wir hier im sicheren Deutschland eher der Meinung sind, das wird nicht passieren, weil es NATO-Gebiet ist.Wie sehen Sie es denn persönlich?Schattenberg: Ich glaube nicht, dass Russland den Schritt gehen wird, tatsächlich einzumarschieren. Umgekehrt sind es zwei Paar Schuhe, sich gegen Russland auszusprechen oder die eigene Bevölkerung in einen Krieg zu schicken. Die baltischen Staaten werden auch nicht die Konfrontation innerhalb von NATO und EU wagen.In den 16 Monaten des Krieges ist vieles schon wieder der Vergessenheit anheimgefallen. Ein Beispiel. Auch im „Freitag“ erscheinen Artikel über das potenzielle Pulverfass Kaliningrad, als Litauen gedroht hat, sanktionierte Waren nicht mehr durchzulassen. Nun scheint Kalininigrad nicht mehr der „gefährlichste Ort der Welt“. Sie nun als Russland-Expertin gefragt: Warum nicht?Schattenberg: Ich kann nicht sagen, was genau da geregelt wurde, aber es gibt auf jeden Fall eine Rest-Diplomatie. Man sieht das ja auch anhand der Gefangenenaustausche, die immer wieder zustande kommen, oder auch anhand der Getreideausfuhr-Abkommen, auch wenn es nun von den Russen nicht verlängert wurde. Mich beruhigt, dass diese Kommunikation noch da ist, dass eben nicht alle Kanäle geschlossen und alle Drähte gekappt wurden.Varwick: Die litauische Regierung hat mit dem Feuer gespielt, das muss man ganz offen sagen, indem sie gedroht hat, diese Routen zu blockieren. Und es gab massiven Druck aus den NATO-Staaten und insbesondere aus den USA, bis es ganz aufgehört hat. Das zeigt einfach, welche Hasardeure da am Ruder sind. Und wenn Sie sich die innenpolitische Diskussion anschauen: CDU-Außenexperte Roderich Kiesewetter hat neulich noch mal sinngemäß gesagt, dass man die Russen auch in Kaliningrad piesacken sollte. Das zeigt, wie gedacht wird. Ich halte das für unverantwortlich.Schattenberg: Da stimme ich mit Ihnen überein.Erdoğan hat einen Beitritt der Ukraine zur NATO ausdrücklich für wünschenswert gehalten. Man hielt es für einen Witz. Aber es zeigt: Vielleicht wird es ja in Zukunft einen überraschenden und überzeugenden Friedensplan geben?Schattenberg: Es gab ja die Hoffnung, dass China tatsächlich einen Friedensplan vorlegen würde und nicht einfach nur zwölf allgemein formulierte Wünsche. Das ist leider nicht geschehen. Eine wirkliche Verhandlungslösung wäre großartig. Ich sehe zurzeit einfach nicht, wer Putin dazu bewegen sollte, weil China sich letztlich wieder zurückgezogen hat und offensichtlich mehr daran interessiert ist, zu schauen, wie weit Russland Erfolg hat.Varwick: Solange der Westen, also die NATO-Staaten und die G7, die ukrainischen Forderungen als Grundlage für Friedensverhandlungen nimmt, wird sich nichts bewegen. Die Aufgabe, die jetzt ansteht, ist es, die Chinesen, die Afrikanische Union, die Indonesier, die Brasilianer und viele andere ins Boot zu holen, um wirkliche Verhandlungen zu führen. Verhandlungen heißt immer Kompromisse schließen. Wer glaubt, dass er seine Position zu 100 Prozent durchsetzen kann, der braucht nicht zu verhandeln. Das ist das kleine Einmaleins der Diplomatie, das wir vergessen haben.Vielleicht auch, weil es im öffentlichen Diskurs eine schleichende Militarisierung gibt. Jedenfalls in Deutschland. Man sieht das zum Beispiel daran, dass der „Spiegel“ zu einem Organ für Waffenkunde geworden ist. Oder sind meine Befürchtungen übertrieben?Varwick: Ich teile Ihre Einschätzung. Ich glaube, wir haben einen militarisierten Diskurs in dieser Frage, und zugleich haben wir einen moralisch aufgeladenen Diskurs, beides sehr schädliche Kategorien für Außenpolitik.Schattenberg: Ich finde tatsächlich, dass dieser Diskurs über Waffen viel mehr von den jeweiligen Experten geführt werden sollte. Ich glaube, um eine fundierte Debatte zu führen, brauchen wir dieses Wissen. Und ich habe nicht den Eindruck, dass wir jetzt alle nach Waffen schreien. Im Gegenteil finde ich es immer noch erstaunlich, wie zögerlich sich die Bundesregierung durchgerungen hat, Panzer zu liefern. Wichtig wäre zu begreifen, dass Russland nicht wie eine normale Kriegspartei verstanden werden kann, die eine Aggression begonnen hat, die lokal befriedet werden kann. Wir müssen endlich verstehen, was seine Ziele in Bezug auf die Ukraine, aber auch eben in Bezug auf Europa und die Weltordnung sind. Die Zeitenwende muss in den Köpfen endlich ankommen.Varwick: Aber wenn man schon über Weltordnung redet oder vielleicht etwas bescheidener die Wiederherstellung einer tragfähigen europäischen Sicherheitsarchitektur, dann müsste man auch über den Platz Russlands in dieser Architektur reden.Placeholder infobox-1