Das Recht des Volkes auf Glück

Jean-Luc Mélenchon In unserer Wahrnehmung überschattet die Le-Pen-Frage die französischen Präsidentschaftswahlen. Dabei sind der Kandidat Mélenchon und sein Programm durchaus präsidiabel

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Durchaus präsidiabel: Jean-Luc Mélenchon
Durchaus präsidiabel: Jean-Luc Mélenchon

Foto: LOIC VENANCE/AFP/Getty Images

Ein halbes Jahrhundert Erfolge und Niederlagen, politische Freundschaften und Intrigen haben ihre Spuren hinterlassen. Jean-Luc Mélenchon kann unglaublich sarkastisch sein, vor allem Journalisten gegenüber. Seine Ironie ist gefürchtet. Seine Verachtung bestimmter Politiker, vor allem Marine Le Pens, ist immens („Elle est nulle“). Und doch teilt er mit der Chefin des FN eins: im Unterschied zu all den medial glattgestreichelten Politikern hat er Charisma. Mélenchon kommt bei den „Leuten“ an. Hunderttausende folgen seiner wöchentlichen Youtube-Sendung. Als Intellektueller kann Mélenchon auf Augenhöhe mit Chantal Mouffe diskutieren. Gleichzeitig ist er ein begnadeter Volksredner, einer in der Tradition von Jean Jaurès oder Léon Blum. Und einer, der sich nicht scheut, seine Reden mit einem revolutionären Gedicht oder – wie kürzlich in Lyon – mit dem Seidenwirkerlied zu beenden: Notre règne arrivera/Quand votre règne finira. Mit dem Ende eurer Herrschaft beginnt die unsere. Es folgt die Marseillaise, zunächst noch schüchtern gesungen, aber mit der Faust im Himmel. Simultan erleben ihn Tausende in Paris - als Hologramm. Der Kandidat ist auch medientechnisch auf der Höhe der Zeit.

Karriere

Mélenchon wird 1951 in der damals internationalen Zone Tanger geboren, wo seine algerisch-französischen Eltern arbeiten – der Vater als Postbeamter, die Mutter als Grundschullehrerin. Nach deren Scheidung zieht er mit seiner Mutter nach Frankreich, zunächst in die Normandie, dann ins Jura. In Besancon studiert er Philosophie. Er arbeitet als Korrektor in einer Druckerei und schließlich als Philosophie- und Französischlehrer in einem Berufsgymnasium. Der Habitus des Pädagogen haftet ihm noch heute an. Er weiß halt vieles besser. Schon vor dem Abitur agitiert er politisch, wird im Mai 68 Sprecher der lokalen Schülerbewegung. Es folgen zeittypische Engagements in unterschiedlichen linken Gruppen. Als Mitglied der studentischen "Organisation communiste internationale", einem trotzkistischen Grüppchen in der lambertistischen Variante (soviel Differenz musste damals sein), der PSU und der Ligue communiste nimmt er an zahlreichen politischen und sozialen Konflikten teil, unter anderem am legendären Kampf der Arbeiter der Uhrenfabrik LIP. Mélenchon ist zu dieser Zeit Mitarbeiter linker und sozialistischer Regionalzeitschriften.

1978 entdeckt ihn der Abgeordnete und Bürgermeister Claude Gernon und macht ihn zu seinem Büroleiter (eine Karrierestufe nicht weniger heutiger „Alphapolitiker“) im Département Essonne. 1981 wird Mélenchon, der sich als mittlerweile mitterandistischer Regionalpolitiker von den zahlreichen Strömungen im politischen Feld des PS positioniert, Erster Sekretär der Fédération Essonne. Schon damals sind seine großen Themen das Ideal der Republik, die Verteidigung der Laizität, aber auch die internationale Solidarität (der Hispanophone hat eine besondere Affinität zu Lateinamerika). 1986 wird Mélenchon Senator. Weiterhin agiert er als Linker in der Partei. Er wendet sich gegen die wirtschaftsliberale Politik Mitterands, gegen den Mitterand-Antipoden Michel Rocard, gegen die „wachsweiche Linke“. Folgerichtig plädiert er gegen den ersten Golfkrieg, unterstützt allerdings den Maastrichtvertrag als „Linkskompromiss“, eine Fehleinschätzung, wie er schnell zugeben muss.

Auch wenn seine Kampfkandidatur gegen einen gewissen Hollande als Erster Parteisekretär auf dem Kongress von Brest 1997 kläglich scheitert, hat Mélenchon gerade als politischer Direktor der Parteizeitschrift mit dem schönen Namen „Vendredi“ (Freitag) einen gewissen Einfluss. 2000 macht ihn Ministerpräsident Jospin zum Minister für Berufsbildung. Nach der enttäuschenden Wahlniederlage Jospins 2002 (gegen Chirac und den alten Le Pen) beginnt das so langsame wie schmerzvolle Abnabeln von der sozialistischen Partei: Gründung interner oppositioneller Gruppen, Kampf gegen den europäischen Verfassungsentwurf 2005 (mit der PC-Chefin Buffet, dem Trotzkisten Besancenot und dem Ökolinken Bové). Erst 2008 verlässt er endgültig seine Partei.

Mélenchon gehört zu den Mitbegründern des 2009 nach dem Vorbild der Partei Die Linke formierten Parti de gauche, für den er noch im selben Jahr Europaabgeordneter wird. 2012 ist er Präsidentschaftskandidat (mit Unterstützung der kommunistischen Partei). Zu seinen Meetings kommen tatsächlich bis zu 120.000 Menschen. Trotzdem wählen ihn schließlich nur 11,1 Prozent der Bevölkerung. Der Populismusforscher Dominique Reynié sieht hier die Grenzen des linken Populismus. Marine Le Pen erreicht 2012 mehr Arbeiter und Angestellte (auch des öffentlichen Dienstes) als Mélenchon. Le Pens fremdenfeindlicher Kurs spricht sie mehr an als die intellektuelle Weltoffenheit eines Mélenchon. Das wird bei den Parlamentswahlen desselben Jahres deutlich. Mélenchon tritt bewusst im gebeutelten Nord-Pas-de-Calais gegen le Pen an …und unterliegt. Die Führerin des FN erhält das Doppelte an Stimmen. Selbst der sozialistische Kandidat überflügelt Mélenchon.

Nun also der zweite (und letzte) Anlauf. Schon früh hat er sich zum Präsidentschaftskandidaten erklärt (zum Verdruss der kommunistischen Partner). Den Vorschlag, an den Primaires der Sozialisten teilzunehmen, um einen linken Einheitskandidaten aufstellen zu können, hat er indigniert abgelehnt. Und wie beim ersten Mal legt er (bisher) einen guten Wahlkampf hin. 14 Prozent sagten die Druiden vom Stamm der Demoskopen voraus – bis Benoît Hamon auftrat.. In seinen Reden, Videobotschaften und Medienauftritten präsentiert sich Mélenchon kampflustig und brillant wie ehedem.

Es ist natürlich zu befürchten, dass die Wahlkampfanstrengungen auch diesmal vergebene Volksliebesmüh sein werden. Was aus der politischen Repräsentation und den kritischen Diskursen verschwand, war nicht nur die Arbeiterbewegung mit ihren Kämpfen und Traditionen, es waren die Arbeiter selbst, ihre Kultur, ihre spezifischen Lebensbedingungen (Didier Eribon). Große Teile der alten Arbeiterklasse und der sich deklassiert fühlenden Angestellten haben resigniert – oder wählen FN. Schließlich hat Marine Le Pen die soziale Frage annektiert, ohne große Gegenwehr übrigens. Was hat Mélenchon neben seiner offensichtlichen Erfahrung und seiner Bildung zu bieten?

Als genuiner Linkspopulist appelliert auch Mélenchon an das "Volk". Das Volk entsteht, wenn sich die die Multitude bildenden so unterschiedlichen Individuen die Macht über ihre Lebensbedingungen erkämpfen, wenn sie dadurch Bürger (Citoyens) und das Volk ein politischer Akteur werden, schreibt er in L'Ère du peuple (2015). Er übernimmt damit die Volksdefinition der Französischen Revolution und ist meilenweit von den ethnischen Repräsentationen nicht nur Le Pens entfernt. Allerdings finden sich auch bei ihm Sätze wie: Das Volk wird die kleine Oligarchie der Reichen entthronen, genauso wie die vergoldete Kaste von Politikern, die deren Interessen bedienen, genauso wie die Mediakraten, die die Gehirne vernebeln. Her mit dem Besen! Die Besenmetapher erinnert an Lenin, könnte aber auch von Le Pen der Jüngeren stammen. Mélenchons Gegner greifen solche Sätze nur zu gerne auf.

Das Programm der "Sechsten Republik"

Das Wahlprogramm für „La France insoumise“, das „nicht unterworfene Frankreich“, beruht auf zahlreichen Bürgereingaben und erinnert damit an die berühmten „Cahiers de doléances“ der Französischen Revolution. Auf das übliche Klassenkampfgerede wird weitgehend verzichtet, schließlich geht es angesichts der Menschheitsprobleme um das „Genre humain“.

Zentrale politische Forderung ist die Institutionalisierung der „Sechsten Republik“. In Anlehnung an die große Revolution soll eine „Constituante“ (der kein Angehöriger eines ehemaligen Parlaments angehören darf) die Grundlagen der neuen Republik erarbeiten. Ich würde gerne als letzter Präsident der Fünften Republik nach Annahme der neuen Verfassung durch das Volk nach Hause gehen können, so Mélenchon. Die „präsidiale Monarchie“ mit ihrem Hintertürentscheidungen wäre beendet. Theoretisch. In der Praxis braucht die Demokratie definitionsgemäß die aktive Teilnahme des Demos, daraus folgen: Senkung des Wahlalters, Verhältniswahlrecht, das Recht, Abgeordnete abzuwählen, echte Volksentscheide, parlamentarische Transparenz, Verbot der Lobbyarbeit.

Die neue Verfassung hat die Menschen- und Bürgerrechte zu garantieren und jede kommunitäre Diskriminierung zu verbieten. Die neue Republik ist konsequent weltlich. Ihre Laizität ist die Bedingung der Freiheit des Einzelnen. Die Verfassung garantiert auch die Freiheit der Medien. Mélenchon favorisiert die Transformation der Privatmedien in Kooperativen. Ein „Conseil national des médias“ soll als staatsbürgerliches Kontrollorgan die Pluralität der Meinungen überwachen. Vor allem die „Sondokratie“, die oft schamlose Meinungsmache mit Umfragen, sei zu bekämpfen.

Das Programm spiegelt aber auch die Unsicherheitsgefühle der Bevölkerung. Wie hält es der „Linkspopulismus“ mit der Bekämpfung des Terrorismus? Verweigern wir die Logik des Clashs of civilizations und des „inneren Krieges“, so das Programm. Kampf gegen den Terrorismus bedeutet: mehr Republik, mehr Laizität, mehr Bildung und soziale Gerechtigkeit. Über den Notstand kann nur das Parlament entscheiden, nicht ein einsamer Präsidentenmonarch. Und natürlich sind die Polizeimaßnahmen staatsbürgerlicher Kontrolle zu unterwerfen. Die Polizei muss effektiv, aber republikanisch sein. Sehr jakobinisch - und für linke Ohren in Deutschland ungewöhnlich - erscheint die Forderung eines neunmonatigen Dienstes aller jungen Menschen im „allgemeinen Interesse“ (inklusive militärischer Ausbildung, mit dem Recht auf Verweigerung) sowie die Schaffung einer ziviler Führung unterworfener Nationalgarde zwecks „Bewahrung der Sicherheit und der Integrität der Nation“.

Alles steht und fällt mit der Lösung der immensen ökonomischen Probleme. Eine parlamentarische Kommission soll die Schäden der neoliberalen Privatisierungen untersuchen. Schlüsselunternehmen sind zu re-nationalisieren. Das Programm fordert einen „solidarischen Protektionismus“: Die Verteidigung unserer industriellen Souveränität ist die unerlässliche Bedingung für neue internationale Kooperationen. Das könnte auch von Le Pen sein, nicht aber folgendes: 100 Milliarden Euro sollen als Pilotinvestition für den ökologischen Umbau verwendet werden. Das bedeutet natürlich staatliche Eingriffe in die Finanzwelt. Die allgemeinen Banken sollen sozialisiert werden, auch, um die Investitionen kleiner und mittlerer Unternehmen in den Regionen zu finanzieren. Vor jeder Betriebsschließung oder Veräußerung sollen die Mitarbeiter ein Vorrecht auf Bildung einer betrieblichen Kooperative haben – hier hallt sicherlich die alte LIP-Erfahrung nach. Die Betriebsräte bekommen mehr Rechte, das arbeitnehmerfeindliche unter Hollande eingeführte El Khomri-Gesetz wird abgeschafft. Ein (bisheriges?) Alleinstellungsmerkmal der „France insoumise“ ist die Forderung „Travailler tous en travaillant moins“ (Weniger arbeiten, damit alle arbeiten können“). Ziel, so das Programm, ist die 32-Stunde-Woche. Gleichzeitig soll der Mindestlohn um 16% auf 1326 Euro erhöht werden, bei starker Minderung der oft exorbitanten Managerlöhne. Diese Maßnahmen werden mit einer „Steuerrevolution“ finanzierbar: Progressivsteuer, 100prozentige Steuer ab 400000 Euro Einkommen p.a., Erhöhung der Erbschaftssteuern und – natürlich – Schließung der Steuernischen.

Noch stärker als im letzten Wahlkampf thematisiert der Kandidat den Kampf gegen die drohende ökologische Katastrophe, die auch eine soziale sein wird. Während neoliberale Politiker die „goldene Regel“ des Verbots der Staatsverschuldung predigen, vertritt Mélenchon die „grüne Regel“: Verbot der vom produktivistischen Kapitalismus verursachten ökologischen Verschuldung. Es geht nicht darum, den Individuen Schuldgefühle zu implementieren, sondern zu verhindern, dass mehr aus der Natur genommen wird, als diese reproduzieren kann. Dies, so Mélenchon, ist verfassungsrechtlich zu verankern. Die Regel ist in französischer Tradition in einem Planifikationsprozess anzuwenden. Bis 2050 soll der Atomstaat Frankreich zu 100 Prozent erneuerbare Energie produzieren. Die Privatisierung der Energiekonzerne wird zurückgenommen. Die ökologische Transformation führt zur Regionalisierung der Produktion, der Bedarf an ökologischen Lebensmitteln stärkt die Bauern, die unter dem Diktat der Milch- und Getreidekonzerne und der „fermes usines“ (der Agrarfabriken) vom Ruin bedroht sind (und nicht selten nach rechts driften).

Aber wie hält Mélenchon es mit Europa? Le Pen sieht den Frexit vor, die neoliberalen Kandidaten setzen weiter auf die neoliberale Eurokratie. Das Programm der „Linken links von der Linken“ stellt zwei Pläne vor. Plan A bedeutet eine demokratische, soziale und ökologische Neugründung Europas. Die Unabhängigkeit der EZB wird aufgehoben. Eine europäische Konferenz soll die geeigneten Maßnahmen zur Regelung der Schuldenfrage beschließen (Moratorien, Zinsen, Schuldenerlasse etc.). Die Liberalisierung der öffentlichen Dienste wird aufgehoben, der „solidarische Protektionismus“ soll die jeweiligen nationalen ökonomischen Stärken sichern und Lohndumping verhindern. Falls die notwendigen Neuverhandlungen scheitern, tritt Plan B in Kraft: der Frexit mit Stopp der Zahlungen Frankreichs an die EU, Requisition der Bank von Frankreich, Grenzkontrollen und in der Folge die Entwicklung neuer Kooperation der europäischen Staaten (Allianz der südeuropäischen oder mittelmeerischen Staaten).

All diese skizzierten Maßnahmen dienen in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit jedoch nur einem Ziel, das hier im Original präsentiert wird, weil es so noch schöner klingt: le bien-vivre et le progrès humain. Le droit au bonheur est encore une idée neuve! Das Recht auf Glück ist noch immer eine neue Idee. Und mehr als ein Glücksversprechen.

Und dann kam Hamon

Erreicht dieses Programm die „kleinen Leute“? Offensichtlich werden die "classes populaires" eben nicht "als stummer Gegenstand politischer Verfügungen" (Eribon) betrachtet. Und trotzdem bleiben Zweifel. Die Angst ist ein schlechter politischer Ratgeber. Allein am obsoleten AKW Fessenheim hängen mindestens 800 Arbeitsplätze. Mélenchon wird nicht müde, auf die Chancen des Energiewandels hinzuweisen, auf die Arbeitsplätze, die allein der lange Umbau der Atomindustrie notwendigerweise generiert – die Menschen leben im Heute. Sie wollen schnelle Lösungen. Die „radioaktiven“ Politiker (Mélenchon) haben es da einfacher.

Auch Le Pen verweist auf die Elite, auf die Oligarchen. Das unterscheidet sie nicht von Mélenchon, der schreibt: Eine kleine Zahl von Personen hält alles in der Hand. Diese Kaste ist die Oligarchie. Und er zögert nicht, diese zu kennzeichnen: Die Hegemonie des Dollar ist die der USA. Und weiter in der Logik: Der Dollar wird zusammenbrechen, und die USA mit ihm... Ungewiss ist, wie die USA reagieren werden. Werden sie einen allgemeinen Krieg vorziehen, um ihrem Schicksal zu entgehen? Auch dies könnte von Marine Le Pen stammen (oder ihren Beratern). Mélenchons Gegner weisen genüsslich darauf hin. Verkürzte Kapitalismuskritik und Antiamerikanismus dienen in der Regel den Rechten. Und schon jetzt ist klar: selbst im unwahrscheinlichen Fall eines Sieges der „France insoumise“, dem ja auch noch ein Sieg bei den Parlamentswahlen folgen müsste, könnten sich all die gut gemeinten Vorschläge des Programms angesichts der realen Machtverhältnisse des globalen Kapitalismus als Makulatur erweisen. Es haben nicht alle Länder die revolutionären Erfahrungen des "nicht unterwerfbaren Frankreich".

Und dann noch dieses unerwartete Ereignis: seit kurzem feiert ein schon abgeschriebener Akteur sein Comeback: die sozialistische Partei. Der „Linke in der Linken“ Benoît Hamon hat überraschend die Primaires gewonnen, mit Positionen, die zum Teil aus dem Programm der „France insoumise“ stammen könnten, aber vage gehalten sind. Von der Konstituierung einer neuen Republik durch das Volk ist zumindest nicht die Rede. Auch nicht davon, auf das politische Führungspersonal der alten Republik zu verzichten. Der Politikwissenschaftler Jacques Julliard urteilt in "Marianne": Da ist nichts Revolutionäres, nichts Sozialistisches, noch nicht einmal Radikales (im französischen Sinn) an den Hauptvorschlägen Hamons.

Und trotzdem: Mit der Idee des „universellen Einkommens“ erwischt Hamon Mélenchon quasi auf dem falschen Fuß. Dabei ist überhaupt nicht geklärt, wie dieses finanziert werden kann. Man weiß nur, dass es zunächst auf die jungen Leute beschränkt werden soll (wenn überhaupt). Sicher ist allerdings, dass Hamon von den Medien als „neuer Mann“ (neben dem ständigen "jungen Hoffnungsträger" Macron) gepuscht wird. Resultat: der linke deus ex machina, bisher weit hinter Mélenchon platziert, überholt diesen in den Umfragen locker – und liegt um einige Prozentpunkte vor diesem. Allerdings sind die Werte in ständiger Bewegung. In den letzten Tagen holt Mélenchon wieder leicht auf.

Mit dem Erfolg Hamons stellt sich allerdings ein strategisches Problem: Bisher war davon auszugehen, dass im zweiten Wahlgang der ehrbare Konservative Fillon Frankreich vor dem Drachen zu bewahren habe. Nach dessen Fehl und Tadel ist nun der mittlerweile auch von prominenten Sozialisten (und Cohn-Bendit) gestützte Prätendent Macron „en marche“ in diesen Kampf, wenn er nicht noch dem altehrwürdigen Juppé den Vortritt lassen muss. Doch auch auf Macron warten Attacken ad personam. Und nun eröffnet sich unerwartet die Möglichkeit einer starken vereinten Linken: Hamon und Mélenchon könnten zusammen die Wahlstimmenzahl der Macron, Juppé und Le Pen erreichen (wenn man die gegenwärtigen Umfragewerte addiert, was jedoch arg simpel ist). Wer aber ist der linke Kandidat der Linken? Hamon braucht die Mobilisierungskraft Mélenchons, dieser wiederum große Teile der sozialistischen Basis. Die kommunistische Partei äugt schon in Richtung Hamon. Mitglieder des PC kritisieren offen den "Personenkult" um Mélenchon. Das scheint unklug und geschichtsvergessen. Zudem wird ein Mélenchon nicht auf seine Kandidatur verzichten. Vielleicht ist die Geduld manchmal doch revolutionär. Reaktionär ist die Geduld einer Marine Le Pen. Sie kann warten.

Jean-Luc Mélenchon, L'Ère du peuple. Paris 2016 (Fayard)

Jean-Luc Mélenchon, L'avenir en commun. Le programme de la France soumise et son candidat. Paris 2016 (Seuil)

Amüsant, wenn auch manchmal zu pauschal: ders., Le hareng de Bismarck (le poison allemand), Paris 2015 (Plon)

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden