Unsere schöne Auto- und Eigenheimwelt: Ein deutscher Albtraum
Meinung In deutschen Eigenheimsiedlungen zeigt sich die Veränderungsunfähigkeit der deutschen Gesellschaft. Angesichts von Klimawandel und Krise müssten wir sehr viel verändern. Das wissen wir – aber wir wollen es nicht
Der Traum vom Eigenheim ist im Grunde ein Albtraum
Foto: Christian Thiel/Imago Images
Kurt Tucholsky hat unser Dilemma schon 1927 als das „Ideal“ beschrieben: „Eine Villa im Grünen mit großer Terrasse, vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße; mit schöner Aussicht, ländlich-mondän, vom Badezimmer ist die Zugspitze zu sehn – aber abends zum Kino hast du es nicht weit.“ Und heute? Spätestens wenn Kinder kommen, beginnt der Deutschen liebster Traum. Eigene Familie. Eigenes Auto – auf dem Land unbedingt ein Diesel, gerne mit Anhängerkupplung. Eigenheim – mit Carport, der muss sein, auch wenn das Grundstück noch so klein ist. Eigener Hund und zum Glück Kinder. Der Traum ist – auch jenseits von architektonischen Geschmacksverirrungen – im Grunde ein Albtraum.
In deutschen Eig
tschen Eigenheimsiedlungen versammelt sich der Kern des Dilemmas der Veränderungsunfähigkeit der deutschen Gesellschaft. Versiegelt, eingezäunt, Terrasse, Wäschespinne, Grill, Trampolin und vor allem: alles privat. Eigenzeit. Eigenraum. Eigentum. Alles meins und ändern soll sich bis zur Scheidung bitte nichts. Und wer es nicht hat, will es haben. So wollen wir leben. So sind wir das gewohnt. Auf diesen Traum haben wir unsere Gesellschaft aufgebaut, Stadt, Land, Fluss, alles haben wir zugerichtet auf dieses Narrativ. Autogerechte Landschaften und Bausparkassen.Und wenn Offenheit demonstriert werden soll, dann nur gegenüber Technologien, die absichern, dass alles so bleiben kann, wie es ist. Leuchtende Augen auf Automessen, SUV und Porsche, groß und schnell und abgeschottet. Privatheit im rollenden Eigentum ebenso wie hinter dem Gartenzaun. Vielleicht bald mit E-Fuel, einer Art Wunderdroge, die alles so lässt wie bisher und uns in die Illusion versetzt, wir wären nachhaltig unterwegs.Wer im Westen aufgewachsen ist, hat dieses Leitbild quasi mit der Geburt inhaliert. Der Deutschen liebste Kinder sind Autos und Eigenheime. Hierfür wird das meiste Geld ausgegeben. Das sind Lebensziele, Träume, dafür lohnt sich die ganze Plackerei. Dem wird alles untergeordnet. Wenn es einen Konsens gibt, dann diesen.Auto vor KlimakriseAber jetzt haben wir Klimawandel und Krise. Wir haben überlaufende Flüsse und Bäche, absaufende Landschaften, Hitzestaus in den Städten, kaputte Wälder, ausgetrocknete Böden und viele geschiedene Ehen. Wir müssten sehr viel verändern, wir wissen es – aber wir wollen nicht. Wir haben uns unsere Gesellschaft so gezimmert, dass wir weder aus dem Auto noch aus dem Eigenheim herauskommen, weil wir das Auto brauchen, um zum Eigenheim zu kommen. Und zur Arbeit, zur Schule, in den Urlaub, wo auch immer wir hinwollen, brauchen wir das Auto. Deshalb haben wir fast 50 Millionen Stück davon und wir brauchen immer noch mehr. Und dafür brauchen wir Platz. Viel Platz.Lenin wird folgender Satz zugeschrieben: Wenn diese Deutschen einen Bahnhof stürmen, kaufen sie sich erst eine Bahnsteigkarte. Es wurde und wird den Deutschen eine fundamentale Veränderungsresistenz bescheinigt. Hierzulande sind die Gemüter öffentlich erregt, wenn ein neues Heizungsgesetz kommen soll oder die Leichtigkeit des Autoverkehrs – zugunsten der Unversehrtheit von Menschen und Umwelt – tangiert werden könnte. Alle Visionen und Ideen für Veränderungen enden spätestens beim Tiefbauamt. Wir dürfen nicht einmal 500 Meter für den Autoverkehr sperren, um sichere Straßen für alle zu bekommen.Es soll nichts verboten werden, was die Freiheit einschränkt. Der Verkehr muss fließen, das Auto muss immer Vorrang haben, sonst melden sich die Verwaltungsgerichte auf Bitten besorgter Bürger. Pendlerpauschale, Verbrennungsmotor, Ehegattensplitting, Dieselsubventionen, Dienstwagenprivileg und freie Fahrt auf Autobahnen, es muss alles so bleiben, wie es fürs eigene Ego wichtig ist. Wer will schon an morgen denken. Wer daran rüttelt, dem kippen wir Mist in den Garten und lassen ihn nicht von der Fähre.Sympathie für Bauern und AfDNun ist es aber damit vorbei. Wir wissen es und deshalb klammern wir umso mehr. Wir wollen die Grünen zum Teufel jagen und sympathisieren mit den Bauern und vielleicht wählen wir die AfD, nur damit sich nichts ändert. Aber die Bilanz geht nicht auf, wir versiegeln immer noch eine Fläche von mehr als 70 Fußballfeldern jeden Tag. Wir betonieren uns praktisch zu Tode, als ob es kein Morgen gäbe. Versprochene Klimaziele werden ganz natürlich nicht eingehalten und die Warnung des Verfassungsgerichts, jetzt in Freiheit noch umzudenken, damit wir morgen nicht in Unfreiheit drangsaliert werden, ignorieren wir lieber.Wir stecken den Kopf in den Sand und glauben auch nicht, dass unsere schöne Auto- und Eigenheimwelt nicht mehr funktioniert: Vater, Mutter, Kinder, alle in einem Haushalt repräsentieren nicht einmal mehr 15 Prozent aller Haushaltsformen. Die Welt ist auch in Deutschland bunter und vielfältiger geworden, nur wir wollen es nicht wahrhaben.Woher kommt diese Angst, diese Unfähigkeit, Wahrheiten als Wahrheiten zu erkennen und mit Kraft und Spucke, gerne auch mit Gottvertrauen ans Werk zu gehen? Mit dem Slogan mehr Demokratie wagen hat schon mal ein Kanzler in Westdeutschland einen Wahlkampf gewonnen und in Ostdeutschland ist gar ein ganzer Systemwechsel gelungen. Jetzt sind wir ein Volk, das seinen gelebten und geliebten Egoismus als Freiheit verkauft. Wie hatte es Tucholsky schon damals so trefflich analysiert: „Jedes Glück hat einen kleinen Stich. Wir möchten so viel: Haben. Sein. Und gelten. Dass einer alles hat: das ist selten“.
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