Joachim Gauck und die Freiheit

Bestandsaufnahme Im März ist Joachim Gauck seit zwei Jahren Bundespräsident. Zur Kontrolle staatlicher Überwachung weiß er "ein ganz wunderbares Hilfsmittel"

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Joachim Gauck und die Freiheit

Foto: Guido Bergmann/Bundesregierung via Getty Images

Horst Köhler habe sich mit den Bürgern verbündet, konstatierte im Mai 2009 ein "Spiegel"-Autor. Der damalige Bundespräsident biete sich als Megafon einer weitverbreiteten Politikverdrossenheit an und habe sich ganz dem neuen Zeitgeist angeschmiegt. Der neue Zeitgeist: ein nicht so neoliberaler wie der, den er zu Beginn seiner ersten Amtszeit gepredigt hatte.

Und Köhlers Nach-Nachfolger? Nachdem Joachim Gauck nach Köhlers Rücktritt am 30. Juni 2010 in der Bundesversammlung gegen Christian Wulff angetreten war und erst in der dritten Runde verloren hatte, drängte sich nicht unbedingt der Eindruck auf, der "Demokratielehrer Gauck" (Zitat Merkel, Januar 2010) habe ein für allemal auf das protokollarisch höchste Amt der Bundesrepublik verzichtet.

Gauck und die Datenausspähung

Im Dezember 2010 - die Wahl Wulffs lag fünf Monate zurück - warf Gauck in einer vom österreichischen "Standard" in Wien veranstalteten Diskussion dem grünen Bundestagsabgeordneten Christian Ströble vor,

im Grunde mit der von mir [mit?]getragenen Sorge, ob unsere Grundrechte eingeschränkt werden, nicht im Grunde so eine, sagen wir mal, hysterische Welle mit aufbaut, als würde mit der Speicherung von Daten, die möglicherweise meine Grundrechte einschränkt - ein wenig einschränkt -, als wäre dann der Beginn zu dem Spitzelstaat. [...] Das ist eine ganz tiefsitzende Angst in vielen europäischen Völkern. Und ich sehe die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland nicht in der Gefahr, zu einem Spitzelstaat zu werden.

Gauck fügte allerdings hinzu:

Umso mehr müssen wir Regierungen da tun, und zwar wirklich mit tragfähigen Belegen - wieviel mehr Kontrollmöglichkeiten, Speicherungsmöglichkeiten, Fahndungsmöglichkeiten uns tatsächlich Erfolge bringen. Sonst würde ich das doch als eine beginnende Gefahr dieses Sicherheitsmantras gegenüber der Freiheitsbotschaft sehen, und das ... so verstehe ich ... und ich finde auch diesen Streit sehr interessant, weil er abbildet, was unsere Gesellschaften hier in Westeuropa auch trägt: nämlich einmal die Spezialverantwortung all der Politiker, die die innere und äußere Sicherheit wirklich zu garantieren haben. Das tun die nicht als Übermütige, sondern das tun die im Auftrag eines Rechtsstaates. Und für die andere Seite ist eben das Rechtsstaatsprinzip die übergeordnete Größe. Und das muss mal knirschen. Ich finde, dass diese Debatte sehr deutlich zeigt, in welchem Raum wir gestalten. Wir haben nicht Zugriff auf das absolut Richtige, sondern wir handeln das Richtige aus im ständigen Gespräch mit der Rechtsordnung und unseren Verfassungen. So ist das, und so soll das auch in Europa sein.

Ich bin ja sehr oft anderer Ansicht - ich empfinde es auch anders - als Hans-Christian Ströbele, aber diese Sorge um die Unverletzlichkeit unserer Grundrechte, die teile ich. Ich habe so lange eben in einem Europa gelebt, wo das Rechtsstaatsprinzip überhaupt nicht galt, sondern das Übermachtprinzip der herrschenden Klasse. Und deshalb ist mir dieses Recht so heilig.

Ein Sowohl-als-auch mithin, zwischen dem ebenfalls an der Diskussion beteiligten - und regelmäßig explodierenden - Ex-Innenminister Otto Schily einerseits und Ströbele andererseits. Es war ein moderierender und geradezu bundespräsidialer Auftritt auf österreichischer Bühne.

Von einem potenziellen Präsidenten aller Deutschen konnte allerdings auch 2010 keine Rede sein:

Wenn der Verfassungsschutz bestimmte Personen oder Gruppen innerhalb [der Linkspartei] observiert, wird es dafür Gründe geben,

hatte Gauck die "Rheinische Post" vier Tage vor dem Showdown gegen Wulff in der Bundesversammlung wissen lassen.

Das Potenzial zu Übergriffen traute Gauck westlichen Diensten von Ferne zu. Für substanziell schien er solche Sorgen aber nicht zu halten.

Als Präsident trennte Gauck zweieinhalb Jahre später - im Juni 2013 - messerscharf zwischen der Tätigkeit amerikanischer oder britischer Geheimdienste einerseits und bundesdeutscher andererseits, als ergäbe sich daraus für die informationelle Selbstbestimmung von Bundesbürgern irgendein praktischer Unterschied.

Gaucks Interviewerin vom ZDF hakte in dieser Hinsicht nicht nach. Gauck bekam die Kurve mit den Sätzen:

Und es gibt ein ganz wunderbares Hilfsmittel, das legt uns unsere Verfassung auch nahe, nämlich immer zu fragen: Kann sein, dass wir zur Gefahrenabwehr jetzt mehr Überprüfung brauchen, aber wie lange brauchen wir sie und haben wir genügend Ergebnisse, die den Eingriff in meine Persönlichkeitsrechte rechtfertigen würden? Ist das wirklich erfolgreich gewesen? Und zu dieser Überprüfung müssen sich die politischen Kräfte verpflichten. Das ist unbedingt erforderlich.

Damit war Gauck wieder bei seiner Wiener Position gelandet. Eine öffentliche Berichterstattung der Politik und der Sicherheitsbürokratie über rechtfertigende Ergebnisse allerdings hat es seitdem nicht gegeben, und zu einem Dauerthema scheint das "wunderbare Hilfsmittel" für Gauck nicht geworden zu sein.

Unrecht im Rechtsstaat

Im Oktober 2011 machte Gauck mit Aussagen auf sich aufmerksam, die Horst Köhler - und Christian Wulff - wohl kaum gemacht hätten. Angesichts der "Occupy-Wallstreet"-Aktionen merkte er an, er habe "in einem Land gelebt, in dem die Banken besetzt waren" - gemeint war offensichtlich die DDR. die Antikapitalismusdebatte sei "unsäglich albern". Dafür, dass die Konzentration finanzieller Vermögen und finanzieller Macht eine Gefahr für das Recht darstellen könnte, scheint Gauck blind zu sein.

Auch im Zusammenhang mit Recht und Rechtsordnung lohnt sich ein Blick auf Gaucks Verhältnis zur Überwachung von Mitgliedern der Linkspartei - so, wie von ihm gegenüber der "Rheinischen Post" im Juni 2010 dargestellt. Die Überwachung werde Gründe haben. Der Verfassungssschutz arbeite nicht im luftleeren Raum, sondern befolge einen gesetzlichen Auftrag, so Gauck. Wenn er eine beginnende Gefahr solcher bürokratischer Maßnahmen für die Freiheit überhaupt für möglich hält, dann lohnt sich das Hinterfragen für ihn offensichtlich nicht, wenn es um die Rechte von Gysi und Genossen geht.
Sowohl bei wirtschaftlichen Themen wie auch bei Fragen der DDR-Vergangenheit wird Gauck blind, sobald er Rot sieht.

Verhältnis zu Russland

Am 8. Dezember bestätigte das Bundespräsidialamt, dass Gauck die olympischen Winterspiele in Sotschi nicht besuchen werde. Das Echo darauf in der deutschen Politik fiel gemischt aus; Bundeskanzlerin Merkel soll über Gaucks Entscheidung - oder auch darüber, wie sie öffentlich ankam - "verärgert" sein.

Fragt man ein offizielles Medium Russlands - also zum Beispiel die "Stimme Russlands" -, so hätte man schon im Sommer die Wahl gehabt zwischen zwei Erklärungen. Die Einstellung von Gauck zu Russland ist, milde gesagt, unklar, merkte Valentina Choschewa, Redakteurin der "Stimme", im Juni 2013 an. Gauck habe Russland auf einem deutsch-russischen Forum in Potsdam zu einer Vergangenheitsbewältigung nach deutschem Muster geraten. Und Choschewa erinnerte an die NSdAP-Mitgliedschaft der Eltern Gaucks, und an die Haft des Vaters Gaucks in einem sibirischen Arbeitslager.

Eine Wiedergabe der "Badischen Zeitung" lässt vermuten, dass das russische Auslandsradio nicht zu Unrecht verstimmt auf Gaucks Potsdamer Auftritt reagierte. Sie haben Pech, aber ich betrachte mich als Fachmann auf diesem Gebiet - so soll Gauck sich im Forum eingeführt haben. Was "locker" gemeint gewesen sein mag, lässt sich ebenso gut als Arroganz, und vielleicht sogar als Unsicherheit, interpretieren. Roman Herzog, für "unverkrampfte" Gesprächseinstiege bekannt und vielleicht auch gefürchtet - hätte sich in Potsdam vermutlich etwas zurückgehalten.

Geht es um die Linkspartei, um Fragen der Wirtschaftsordnung oder um die deutsch-russischen Beziehungen, scheinen persönliche Gefühle Gaucks Äußerungen zu bestimmen. Das entscheidet nicht darüber, ob seine jeweiligen Positionen richtig oder falsch sind. Er sollte sie aber nachvollziehbar vertreten, wenn er sie fünf Jahre lang durchhalten will. Zumindest die Ansage, bestimmte Bundesbürger bedürften einer Überwachung durch den Verfassungsschutz, ist erklärungsbedürftig.

Versuch einer Zwischenbilanz

Im März amtiert Gauck seit zwei Jahren. Wie steht er da, im bundespräsidialen Vergleich?

Geht es nicht gerade um seine persönlichen roten Tücher, dann gar nicht so schlecht. Dabei könnte es auch bleiben, wenn er nicht eines Tages die Annahme eines Beglaubigungsschreibens verweigert, nur weil ihm das politische System des Landes nicht gefällt, aus dem ein neuer Botschafter kommt. Im inner-EU-Verhältnis kann Gaucks scheinbare oder tatsächliche Spontaneität ohnehin ein Aktivposten sein - wie zum Beispiel bei seinem Besuch in Sant’Anna di Stazzema, im März 2013.

Niemand scheint sich große Sorgen zu machen, dass Gauck irgendwann einmal einen einen Privatkredit erklären muss. Und dass er wie Horst Köhler die Brocken hinwerfen und eine überstürzte Nachfolgesuche auslösen könnte, ist offenbar auch nicht zu erwarten.

Anders als Köhler macht er sich auch nicht zu einem Megafon der "Politikverdrossenheit" - seine Kritiker würden ihm wohl eher das Gegenteil vorwerfen.

Aber eine Rede wie die Richard von Weizsäckers am 8. Mai 1985 kann man ihm wohl auch nicht zutrauen, und auch keine wie die Roman Herzogs zugunsten der Islamforscherin Annemarie Schimmel im Oktober 1995.

Letztlich repräsentiert und verteidigt Gauck den Status Quo. Innovation ist nicht seine Sache. Aber jeder kann wissen, wie er mit Gauck dran ist.

Und wenn man sich erst einmal wieder an Präsidenten gewöhnt hat, die nicht mit ihren Krisen in den Schlagzeilen auftauchen, bricht vielleicht ein Gauck-Nachfolger - oder eine Nachfolgerin - zu neuen Ufern auf.

Vielleicht ja sogar Gauck selbst.

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