Am 17. August 1999 erwacht die Metropole Istanbul durch eine gewaltige Erschütterung aus ihrem Schlaf. Ein schweres Erdbeben hat gerade Gölcük, 100 Kilometer östlich, erschüttert. Tausende Gebäude liegen in Trümmern, die Menschen warten auf Hilfe. Der Staat ist unvorbereitet und nirgendwo anzutreffen. Mehr als 18.000 Menschen sterben. Die regierende Koalitionsregierung ist erst seit einigen Monaten an der Macht, Recep Tayyip Erdoğan ist zu dieser Zeit ein ehemaliger Bürgermeister von Istanbul, der gerade aus dem Gefängnis kommt, weil er ein reaktionäres Gedicht rezitiert hat. Obwohl er in der konservativen Bevölkerung beliebt ist, steht er unter lebenslangem Politikverbot. Trotzdem besucht er das Erdbebengebiet und spricht mit den
Nach dem Erdbeben in der Türkei kämpft Recep Tayyip Erdoğan um seine Zukunft
Türkei Nach der Katastrophe ist vor der Wahl: In der Türkei ist jede Hilfslieferung und jedes staatliche Versagen unmittelbar politisch. Wer profitiert am meisten?

Der türkische Präsident Erdogan ist fünf Tage nach dem Erdbeben in Diyarbakır
Foto: Ilyas Akengin/AFP/Getty Images
den Opfern und den Medien. Er tadelt die Regierung für ihre langsame Reaktion und die fehlende Gebäudeinspektion.Anderthalb Jahre später stürzt das Land in eine massive Wirtschaftskrise. Die Regierungskoalition aus der nationalistischen Mutterlandspartei (ANAP), der Demokratischen Linkspartei (DSP) und der Partei der Demokratischen Türkei (DTP) bricht auseinander, was zu vorgezogenen Neuwahlen im Jahr 2002 führt. Erdoğan verspricht den Menschen mit seiner neu gegründeten Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) – obwohl sie politisch nach wie vor nicht zugelassen ist –, das Land von Armut, Korruption und Verboten zu befreien. Die Menschen wollen Veränderung und geben ihm ihre Stimme. Erdoğans AKP erhält eine Mehrheit im Parlament. Seitdem regiert Erdoğan das Land.6. Februar 2023. Der Südosten der Türkei, in dem 13 Millionen Menschen leben, und der Nordwesten Syriens werden von zwei Erdbeben erschüttert, die verheerende Folgen haben. Es sind die stärksten Beben in der Region seit 1268. Gebäude stürzen ein wie Kartenhäuser. Der Staat ist nirgends zu sehen. Bis Montagmorgen werden 32.000 Tote gezählt, Zehntausende liegen noch ungeborgen unter dem Schutt. Wie schon bei den Todesfällen in türkischen Kohlebergwerken im Oktober 2022 spricht Erdoğan von „Schicksal“. Die staatlichen Medien bezeichneten das Erdbeben als „Jahrhundertkatastrophe“ und versuchen so, Verantwortung von der Regierung abzulenken. Während Angehörige der Opfer und Freiwillige versuchen, die Hilfsmaßnahmen zu koordinieren, erscheinen auf Twitter Tausende von Bildern und Videos, in denen die mangelnde staatliche Präsenz kritisiert wird. Die Regierung reagiert, indem sie den Zugang zu Twitter einschränkt.Die Generaldirektion der Polizei gibt bekannt, dass 56 Personen wegen „provokanter Beiträge in den sozialen Medien“ festgenommen wurden. Erdoğan, der verspricht, die Städte innerhalb eines Jahres wieder aufzubauen, gibt zu, dass die Reaktion besser hätte ausfallen können, aber er wirft denjenigen, die die Untätigkeit seiner Regierung kritisieren, Verleumdung und Propaganda vor. Er ruft einige der Führer der Oppositionsparteien an, was ungewöhnlich ist. Es scheint eine Zeit der nationalen Einheit zu sein, nicht der Politik. Und das, obwohl am 14. Mai Parlaments- und Präsidentschaftswahlen anstehen.Die Opposition ist gespaltenDoch die Opposition weigert sich, im Angesicht der humanitären Katastrophe die politische Auseinandersetzung auszusetzen. Für sie, die schon lange glaubt, dass Erdoğans Zeit abgelaufen ist, ist es genau der richtige Zeitpunkt, Politik zu machen. Der Vorsitzende der sozialdemokratischen CHP und mögliche Kandidat eines breiten Bündnisses, das bei den kommenden Wahlen im Mai gegen Erdoğan antreten will, Kemal Kılıçdaroğlu, besucht das Erdbebengebiet. Die CHP nutzt die enormen Ressourcen der von ihr regierten Großstädte wie Istanbul und Ankara, um Hilfe zu leisten, obwohl die Regierung zeitweise versuchte, sie zu blockieren. Am dritten Tag der Katastrophe sagt Kılıçdaroğlu in einer Videobotschaft: „Ich habe gesehen, in welchem Zustand sich unser Volk befindet. Ich weigere mich, dies als etwas zu betrachten, das über der Politik steht, oder mich mit dem Regime zu verbünden.“Kılıçdaroğlu ist als Chef der größten Oppositionspartei seit 13 Jahren Erdoğans Gegner. Nachdem er seit 2011 jede Wahl gegen Erdoğan verloren hatte, zahlte sich seine Strategie, mit verschiedenen Oppositionsparteien zusammenzuarbeiten, aus: Die Kommunalwahlen 2019 brachten der CHP nach 25 Jahren AKP-Herrschaft Istanbul und Ankara. Kılıçdaroğlus CHP bildete ein Bündnis mit der rechten İYİ Parti und vier weiteren kleinen Parteien. Zusammen bilden sie die „Allianz der Nation“, sie verfügen über ungefähr so viel Unterstützung wie Erdoğans Koalition, laut verschiedenen Umfragen Mitte Januar liegen beide um die 40 Prozent. Mit seinen 75 Jahren gilt Kılıçdaroğlu als verdiente, aber wenig aufregende Figur, um die unterschiedlichen Parteien gegen Erdoğan zu vereinen. Einige kritisieren, dass es ihm an Charisma mangele. Kılıçdaroğlus Versuche, sich um Erdoğans konservative Wähler zu bemühen, haben in der Vergangenheit zu Diskussionen geführt. Im Jahr 2016 stimmte die CHP für die Entscheidung der AKP, die Straffreiheit im Parlament aufzuheben. Viele HDP-Parlamentsabgeordnete wurden daraufhin inhaftiert. Die CHP hat außerdem türkische Militäroperationen in Nordsyrien befürwortet.Obwohl alle Parteien die Stimmen der kurdischen Minderheit benötigen, um Erdoğan zu schlagen, bemüht sich die Allianz der Nation, nicht den Eindruck zu erwecken, dass sie mit der pro-kurdischen Partei HDP im Gespräch sei. Seit 2015 steht die HDP ständig im Visier Erdoğans, der sie als Terroristen verunglimpft. Dies führt dazu, dass die CHP-Partnerin İYİ unter keinen Umständen mit der HDP in Dialog treten will. Deshalb hat die HDP ein drittes Bündnis mit der linken Türkischen Arbeiterpartei gebildet, das sich „Bündnis für Arbeit und Freiheit“ nennt. Nachdem es von den Gesprächen über einen gemeinsamen Gegenkandidaten mit der CHP ausgeschlossen wurde, kündigte das Bündnis für Arbeit und Freiheit an, dass es bei den Wahlen am 14. Mai einen eigenen Kandidaten aufstellen werde.Das komplexe Kräfteverhältnis hat dazu geführt, dass die Allianz der Nation zögert und schwächelt, obwohl Erdoğan angesichts der schon lange grassierenden Hyperinflation, die sich Ende 2022 der 100-Prozent-Marke näherte, viel an Unterstützung verloren hat. Da die Öffentlichkeit verzweifelt nach einer Alternative sucht, die die Türkei stabilisieren kann, verliert die Kandidatur von Kılıçdaroğlu an Zustimmung. Die Partei İYİ ist nicht von seinen Erfolgschancen überzeugt. Stattdessen wünscht man sich einen der beiden in den Umfragen besser platzierten CHP-Politiker, entweder den Bürgermeister von Istanbul, Ekrem İmamoğlu, oder den Bürgermeister von Ankara, Mansur Yavaş. Die HDP erklärt ausdrücklich, dass sie Yavaş, der eine Vergangenheit bei den Grauen Wölfen hat, nicht unterstützen könne. Somit bleibt İmamoğlu, der nach der Wahlwiederholung im Jahr 2019 seine Popularität als Bürgermeister ausbauen und Erdoğans AKP besiegen konnte. İmamoğlus Popularität zwang das AKP-Regime schon Ende 2022 zum Handeln: Im Dezember wird er wegen Beleidigung von Mitgliedern des Wahlvorstands zu einer zweieinhalbjährigen Haftstrafe verurteilt. Im Januar wurde gegen ihn ein weiterer Prozess wegen angeblicher Angebotsabsprachen vor acht Jahren eröffnet. Das bedeutet, dass İmamoğlu, genau wie Erdoğan vor über 20 Jahren, ein Politikverbot droht.Findet die Wahl im Mai statt?Doch das war die Lage vor dem Erdbeben. Die Opposition war zwar theoretisch vereint, doch ohne Momentum. Der Wind, den sie aufgrund der schweren Wirtschaftskrise in den Segeln hatte, war mangels eines überzeugenden Kandidaten abgeflaut. Das Beben könnte dies geändert haben. Kılıçdaroğlu und der Co-Vorsitzende der HDP, Pervin Buldan, kamen in Diyarbakır zusammen und sprachen gemeinsam in die Kameras. Der inhaftierte frühere Co-Vorsitzende der HDP, Selahattin Demirtaş, der immer noch Einfluss auf die Politik des Landes hat, unterstützt nun Kılıçdaroğlus Kandidatur. Und Kılıçdaroğlu zieht von einer Stadt zur nächsten – und setzt damit Erdoğan unter Druck.Das Image des Präsidenten als eines abgehobenen Führers, der in seinem riesigen Palast residiert, den er jahrelang für sich selbst gebaut hat, erlitt durch das Erdbeben einige Risse. Es sind erst noch kleine Vorboten, aber Erdoğan steht immer schlechter da. Die Anreise seines Konvois verursachte einen kilometerlangen Stau vor Hatay, der Stadt mit den meisten Todesopfern, wo die Menschen verzweifelt darauf warteten, dass Hilfe eintraf. Eine von Erdoğans Entscheidungen führt zu Ärger bei einer Gruppe, bei der er ohnehin unbeliebt ist: den Student:innen. Um Wohnraum für mehr als eine Million Menschen bereitzustellen, beschloss Erdoğan, dass die gesamte Hochschulbildung auf Fernunterricht umgestellt werden soll. Einen Tag später werden zahlreiche Student:innen aus ihren Wohnheimen geworfen. Kılıçdaroğlu sprach sich gegen diese Entscheidung aus. Er schlug vor, die Menschen stattdessen in leeren Hotels unterzubringen.Seit dem Erdbeben wurden keine Umfragen mehr veröffentlicht, doch es wäre nicht überraschend, wenn Erdoğan an Zustimmung eingebüßt hätte. Und Kılıçdaroğlu hat womöglich etwas Wichtigeres gewonnen als ein paar Punkte in den Umfragen: eine Kandidatur, die von der gesamten Opposition unterstützt wird. Wie der im Berliner Exil lebende Journalist Can Dündar es ausdrückt, könnte Erdoğan, der dank eines Erdbebens an die Macht kam, auch wegen eines Erdbebens stürzen. Vorausgesetzt, die Wahlen finden wie geplant statt. Schon jetzt machen Gespräche über eine mögliche Verschiebung der Wahlen die Runde. Die Verhängung des Ausnahmezustands durch Erdoğan in den zehn vom Erdbeben betroffenen Städten wirft auch die Frage auf, ob die Wahlen auf sichere Art und Weise stattfinden können. Der Ausnahmezustand könnte die Austragung freier Wahlen gefährden. Am Montag behauptete ein Journalist, Fatih Altaylı, zudem, dass die Wahlen um sechs Monate bis ein Jahr verschoben würden. Erdoğan hat sich dazu noch nicht geäußert. Es ist jedoch schwer vorstellbar, dass Erdoğan an einer Wahl teilnimmt, bei der seine Niederlage gewiss ist.