Mileva Marić, Eleanor Marx, Lise Meitner, Margarete Steffin. Vier Frauen, deren Namen relativ unbekannt sind. Albert Einstein, Karl Marx, Otto Hahn und Bertolt Brecht hingegen kennt jedes Kind. Die vier Frauen stehen alle in einer persönlichen und beruflichen Beziehung zu einem der vier Männer. Ihre Arbeit und Anteil an den Werken dieser männlichen „Genies“ findet allerdings kaum Erwähnung. Leonie Schöler erzählt auf ihrem TikTok-Kanal von Frauen, deren Leistungen Männer aktiv für sich reklamierten oder die ihnen, einfach weil sie Männer waren, automatisch zugeschrieben wurden. Ihr erstes Sachbuch „Beklaute Frauen“ fügt die Geschichten dieser Frauen zusammen und zeigt, wie das System dahinter bis ins Jetzt wirkt
Leonie Schöler über ihr Buch „Beklaute Frauen“: „Historisch ist der Mann die Blaupause“
Im Gespräch Wie, diese genialen Männer waren gar nicht so genial? Die Historikerin Leonie Schöler liest Geschichte feministisch, zeigt, wie Errungenschaften von Frauen systematisch von Männern geklaut wurden und wie dieses System heute noch wirkt
Alina Saha
|
7
Montage: Der Freitag; Fotos: Science Source/Akg, Uig/Imago, Ruth Berlau/Akg, Heritage/Imago, Istock (2), Portrait Unten: Peter Rigaud
rkt.der Freitag: Frau Schöler, wie kommt Geschichtswissen mit antirassistischem und feministischem Schwerpunkt auf TikTok und bekommt dann auch noch hunderttausende Views?Leonie Schöler: Ich habe mir TikTok während der Coronapandemie runtergeladen und hatte in relativ kurzer Zeit eine ziemlich coole kuratierte Startseite, wo es viele Bildungsinhalte aus dem englischsprachigen Raum gab; viel Geschichte, viel Politik. Die Creator*innen haben mir innerhalb kürzester Zeit so viel neue Perspektiven und Wissen mitgegeben, dass ich dachte, das könnte man auch im deutschsprachigen Raum machen. Ich habe schnell gemerkt, dass es ein Interesse von jungen Frauen an Geschichte gibt, die normalerweise nicht die Zielgruppe von Medien-Formaten zu diesem Thema sind.Die titelgebenden „beklauten Frauen“ haben als Playlist auf Ihrem Tiktok-Account angefangen. Aber nicht alle haben es in das Buch geschafft.Als ich das Buch entwickelt habe, habe ich gleich gesagt: „Ich würde gern über die beklauten Frauen auf der ganzen Welt schreiben. Aber das wird kein gutes Buch.“ Denn dann würde ich über Frauen schreiben, in deren Heimatländern ich noch nie war, deren Sprache ich nicht spreche, deren Kultur ich nicht kenne. Da muss ich so ehrlich sein und sagen, mein Studien- und Arbeitsschwerpunkt liegt im neuzeitlichen Europa. Wenn man schon ein Buch über Geschichte schreibt, dann muss man das auch sauber erzählen können. Ich wollte die Geschichten von unterschiedlichen Frauen zeigen, die nicht alle weiß, gutbürgerlich und Ende des 19. Jahrhunderts geboren sind. Ich habe auch versucht, in jedem Kapitel mindestens eine deutsche Biografie zu haben, damit dann nicht irgendein Typ kommt und sagt: „Ja, hast aus jedem Land irgendwo eine Frau gefunden, der es mal nicht so gut ging. Glückwunsch.“ Sondern ich wollte darstellen, dass es um ein systematisches Problem geht.Das Buch hat einen leichten Fokus auf die Naturwissenschaften. War das eine bewusste Entscheidung?Wenn wir uns angucken, welcher akademische Zweig bis heute am prägnantesten unterbesetzt ist mit Frauen, dann sind es die Naturwissenschaften. Die Naturwissenschaften sind aber, und ich glaube, das ist uns häufig gar nicht so bewusst, sehr prägend für unser gesellschaftliches Zusammenleben. Denn das, was wir als gesellschaftlichen Standard ansehen, wird dort diskutiert. Es gibt aber ein krasses Missverhältnis, was thematisch recherchiert wird, wo die Fördergelder hingehen, wer bei Preisen ausgezeichnet und wer übergangen wird. Und das hat Folgen auf alle Bereiche – das zeige ich in meinem Buch auf.Zum Beispiel?Ein ganz simples Beispiel ist die Medizin. Historisch gesehen wurde der weiße Mann seit spätestens dem 19. Jahrhundert als Blaupause des Menschen gesehen, Frauen und People of Color als Abweichung davon. Das hat zur Folge, dass der weiße, männliche und gesunde Körper bis heute als medizinischer Standard genommen wird. Die Studierenden lernen an den entsprechenden Modellen, und auch wenn sich Krankheitsbilder und Symptome bei den Geschlechtern unterscheiden können, werden sie so beigebracht, wie sie sich bei weißen Männern zeigen. Studien zeigen: Bei Frauen, aber auch beispielweise Schwarzen Menschen führt das zu deutlich häufigeren Fehlbehandlungen und Falschdiagnosen, was sogar tödlich enden kann. Mittlerweile machen Frauen prozentual den Großteil der Studentinnen in der Medizin aus, sodass sogar über Quoten diskutiert wird – da geht es dann auf einmal. Dabei sitzen in den Fachgremien und Chefetagen nach wie vor größtenteils Männer und das Fachgebiet ist auch auf ihre Belange ausgelegt.Es weckt aber den Eindruck, als wäre es in den Naturwissenschaften leichter, fremde Leistungen für sich zu reklamieren. Es gibt ein ganzes Kapitel, in dem Sie von Frauen schreiben, die bei der Vergabe von Nobelpreisen übergangen wurden, während die männlichen Mitglieder aus den Forschungsbereichen gemeinsam ausgezeichnet wurden.In den Naturwissenschaften ist das einfach viel prominenter passiert, weil man da viel klarer die Anteile sieht. Wenn zwei Leute in einem Labor arbeiten und einen gemeinsamen Fund machen, dann ist klar, dass die beide ihren Teil zu dem Ergebnis beigetragen haben. Aber wenn eine Sekretärin und ihr Chef in einem Büro sitzen und er ein Buch schreibt und sie wirkt daran mit, ist es nachher schwer nachzuweisen, dass sie mehr gemacht hat, als es nur leserlich aufzuschreiben. Das wird aber eingefordert. Die Leute wollen, dass du konkret sagst, „diesen Satz hat diese Person geschrieben, das sieht man in Manuskript XY“. Dann sind die Arbeitsbedingungen in den Naturwissenschaften für Frauen bis heute mit am schwersten, weil der Widerstand am größten ist. Ich habe Freundinnen, die Mathe oder Chemie studiert haben, wo schon in der ersten Vorlesung der Professor sagt: „Ihr seid am Ende eh nicht mehr dabei. Frauen überleben hier nicht.“ Der stellt nur männliche Studierende als Studentische Hilfskraft ein. Dann wird dir schon in der ersten Vorlesung, in der ersten Woche an der Uni signalisiert „Du gehörst hier nicht hin.“ Das ist bis heute so. Da habe ich, die jetzt Geschichte und Literatur studiert hat, was anderes erlebt.Ich habe Literaturwissenschaften studiert. Bei uns war die überwiegende Mehrheit Frauen. Trotzdem hatte unser Professor mit einer Ausnahme nur männliche Doktoranden.Ich hatte schon auch an der Uni das Gefühl, dass einige Dozierende ihre Lieblingsstudierenden haben. Und dann, gerade wenn es darum geht, sich als Studentische Hilfskraft zu bewerben, weiß man einfach als Frau, „ich habe es immer ein kleines bisschen schwerer. Ich muss immer noch ein bisschen mehr beweisen, dass ich es kann.“ Ich glaube, uns ist manchmal gar nicht bewusst, wie schwer das eigentlich wiegt. Das ist eine ganz, ganz feine Linie, die man nicht überschreiten darf als Frau, ohne als zu zickig, zu unbequem, zu schwer zum Zusammenarbeiten zu gelten und gleichzeitig für dich einzustehen und selbstbewusst auf dein Können pochen.Die Frauen in Ihrem Buch sind zum Teil genau an solchen Einstellungen gescheitert. Sie wurden von ihren „genialen“ Ehemänner oder Kollegen als „schwierig“ dargestellt und ausgelacht. Während diese widerstandslos offene Türen einranntenGenau, Männern wird das einfach leichter gemacht. Dadurch entwickeln sie von vornherein ein viel größeres Selbstbewusstsein. Die bewerben sich einfach auf die Stellen. Ich würde mir wünschen, dass Frauen hier auch mehr Selbstbewusstsein entwickeln.Wie funktioniert es aber, dass Männer es so leicht hatten und vielleicht immer noch haben, die Leistungen von Frauen in ihrem Umfeld als die eigenen auszugeben?Weil wir als Gesellschaft eher davon ausgehen, dass Männer diejenigen sind, die große Leistungen erbringen. Das Rollenbild ist klar: Männer sind diejenigen, die nach draußen gehen, Großes tun, wichtig sind, denen wir zuhören und denen wir Raum geben. Sie bekommen die Medaillen, Trophäen, aber auch die Beförderung. Frauen sind hingegen diejenigen, die ihnen zuarbeiten sollen, ihnen im Hintergrund den Kaffee hinstellen, die Arbeitsplatte abwischen, Blätter sortieren und dann zuhause die Care-Arbeit übernehmen. Diese Rollen sitzen in uns alle drin. Dem entgegenzusteuern, was du von allen Seiten gespiegelt bekommst – im Film, in Serien, in Literatur, in der Schule, in allen Bereichen, in der Berufswelt – ist wahnsinnig schwierig. Ein Beispiel: Ich habe gestern nochmal meinen Namen gegoogelt. Einer der ersten Vorschläge ist „Studium“. Das überrascht mich überhaupt nicht, weil ich ständig Nachrichten von Männern bekomme, die wissen wollen, ob ich wirklich studiert habe, ob ich nicht meine Zeugnisse ins Internet stellen kann, weil sie nicht glauben können, dass eine junge Frau etwas über Geschichte zu sagen hat!Sie zeigen in dem Buch auch konkret, dass das „Genie“ ein Mythos ist. Egal, ob Albert Einstein, Karl Marx oder Bertolt Brecht – keiner von ihnen war allein so genial.Nie ist jemand etwas alleine. Ich habe zwar dieses Buch alleine geschrieben, aber ich habe trotzdem Lektorinnen, die noch mal über das Manuskript gegangen sind und Hinweise gegeben haben. Ich habe auf dem aufgebaut, was andere recherchiert haben. Das macht meine Leistung nicht weniger wert. Ich glaube, wir müssen von dieser absoluten Überhöhung der Einzelperson wegkommen. Wir neigen dazu, Menschen total zu überhöhen oder zu verteufeln.Sie kritisieren, dass der weiße Feminismus bestimmte Stimmen ausschließt und damit intern nicht so viel anders funktioniert als das Patriarchat, das die Leistungen von Frauen leugnet.Das Thema beschäftigt mich schon länger. Ich habe meine Bachelorarbeit über feministische Frauenzeitschriften der verschiedenen Wellen geschrieben und geguckt, ob sich anhand der Thematik wirklich sagen lässt, dass es drei Wellen gab und dass wir jetzt in der dritten sind. Zwischen der ersten und zweiten Welle war der Zweite Weltkrieg, die NS-Zeit, in der vieles, was der Feminismus bereits erreicht hatte, zurückgedreht wurde, wo viel Wissen über Frauen verloren gegangen ist und wo Feminismus sich noch mal neu formieren musste. Das nehme ich aktuell nicht so wahr. Viele Themen sind weiter existent, sie werden nur anders besprochen. Die intersektionalen Perspektiven, die fragen, was Feminismus mit dem Kampf gegen Ableismus, Rassismus und Queerphobie zu tun hat, die wurden nicht erst vor zehn Jahren entdeckt. Das haben Frauen schon in den Siebzigern und Achtzigern diskutiert. Aber es waren nicht weiße Feministinnen wie Alice Schwarzer. Die übrigens auch, ähnlich wie die „genialen“ Männer, auf ein Podest gestellt wurde: „Alice Schwarzer ist jetzt Feminismus“. Damit bestimmt sie, worüber wir reden und worüber nicht. Es gab damals schon andere Strömungen aus der queeren Community und von migrantischen Frauen und Schwarzen Frauen, die gesagt haben, „was die erzählt, das holt mich einfach nicht ab.“In dem Kapitel zu Karl Marx habe ich mich sehr an Sahra Wagenknecht erinnert gefühlt: Hauptsache, dem weißen Arbeiter geht es gut. Frauen, Migrant:innen, anders marginalisierte Gruppen kommen bei beiden nicht vor.Ja, das ist ein gutes Beispiel. In dem Buch habe ich auch an sehr vielen Stellen kritisiert, dass die Ausbeutung der migrantischen Frau ein Thema ist, über das viel zu wenig geredet wird. Frauen und gerade Migrant:innen sehen wir häufig nicht als Teil der Gesellschaft. Sie sind hier, um die Stellschrauben zu drehen und die Arbeit zu machen, ohne die unsere Wirtschaft überhaupt nicht mehr funktionieren würde. Und wenn sie dann nichts mehr machen können für uns, dann sollen sie schnell wieder weg. Sobald man sich eingesteht, dass wir die Belange von Arbeiter:innen, von migrantischen Arbeiter:innen, von Frauen in den Fokus stellen müssen, muss man diese deutsche Leitkultur, über die so gerne geredet wird, komplett neu schreiben. Dazu sind viele Menschen nicht bereit und lassen sich stattdessen lieber von populistischen Sprecher:innen, zu denen leider Sahra Wagenknecht inzwischen auch gehört, einlullen. Ich finde die Person Karl Marx sehr interessant. Da zeigt sich, dass so eine Ideologie auf vieles eine Antwort liefern kann, aber man sich deswegen nicht selber in die Tasche lügen sollte, dass sie auf alles eine Antwort liefert und deswegen perfekt ist.Lohnt sich der historische Ansatz dafür, ein gesellschaftliches Umdenken anzustoßen, indem wir die Geschichte unserer Gesellschaft neu schreiben?Ich glaube, dass wir bestimmte Dinge so gewohnt sind, dass wir sie nicht mehr hinterfragen. Auch die sogenannte „Leitkultur“ und die dazugehörige Geschichte. Doch genauso wie wir die vor 200, 300 Jahren für uns definiert haben, können wir uns auch heute neu fragen: Was und wer ist Teil unserer Gesellschaft und Kultur? Die AfD nutzt diese Debatte zum Beispiel gezielt. Wenn man sich ihre Argumente ansieht, ist es immer geschichtsvergessen, revisionistisch und vereinfachend: Früher war alles besser, weil da waren die Deutschen noch weiß und Mutti war zuhause. Damit kannst du sehr leicht ein Bild formen, das für deine Forderung passt. Doch genauso wie die AfD das macht, können wir das auch. Wir können auch Argumente aus der Geschichte liefern, dann allerdings korrekt und nuanciert. Ich glaube, wir müssen insgesamt fitter werden, rechten und antifeministischen Narrativen historisch etwas entgegenzusetzen. Deshalb ist Geschichte aktuell auch so beliebt in den Sozialen Netzwerken, weil sich darüber ganz viele Diskussionen anders führen lassen.Placeholder infobox-1
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken. Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos. Mehr Infos erhalten Sie hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt. Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.