Jonathan Coe, britischer Autor und Jahrgang 1961, ist bekannt dafür, in seinen Romanen die Befindlichkeiten der britischen Gesellschaft herauszuarbeiten. Man könnte auch sagen: Wer verstehen will, wie es zum Brexit kommen konnte, sollte unbedingt Jonathan Coe lesen.
In seinem jüngsten Roman Bournville steht Mary Lamb, Jahrgang 1934, im Mittelpunkt. Coe erzählt ihre Lebensgeschichte über sieben wichtige Ereignisse der britischen Geschichte der vergangenen 75 Jahre – beginnend mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa am 8. Mai 1945 bis zum 75. Jubiläum im Jahr 2020 während der Coronapandemie. Wie der Titel ankündigt, spielt die Handlung in und um Bournville, einem Ort südwestlich von Birmingham.
Seit Ende des 19. Jahrhunderts dominiert di
Jahrhunderts dominiert die Schokoladenfabrik Cadbury, die von zwei Quäker-Brüdern gegründet wurde, die Gemeinde. In Großbritannien kennt die Schokolade jedes Kind, ähnlich wie Milka in Deutschland. Jonathan Coe selbst ist diese Gegend vertraut: Zwar ist er in Birmingham geboren, doch Angehörige seiner Familie haben in der Cadbury-Fabrik gearbeitet.Coe bedient sich der Cadbury-Schokolade, um das britisch-deutsche beziehungsweise das britisch-europäische Verhältnis aufzuzeigen. Zum einen auf persönlicher Ebene: Entfernte Verwandte aus Deutschland kommen während der Fußballweltmeisterschaft 1966 in England zu Besuch zu Mary und deren Familie. Sie bringen als Gastgeschenk Milka-Schokolade mit, die den Söhnen von Mary eigentlich besser schmeckt. Doch weil der älteste Sohn Jack den Comic Victory liest, in dem die Überlegenheit Englands gegenüber Nazideutschland während des Zweiten Weltkriegs immer wieder heroisiert wird, gibt er sich patriotisch und sagt, dass die Cadbury-Schokolade besser sei. Später wird er für den Brexit stimmen.Tragisch-komische SzenenNeben der persönlichen Ebene gibt es auch die harte politische rund um die Cadbury-Schokolade: Als Großbritannien 1973 in die EWG eintritt, konnte man sich nicht einigen, mit welchen Zutaten eine Schokolade „Schokolade“ heißen darf. Cadbury benutzt seit dem Zweiten Weltkrieg Pflanzenfett, da es im Krieg weniger Kakaobutter gegeben hatte. Diese Rezeptur wurde in den Nachkriegsjahren beibehalten, weshalb Cadbury nicht als Schokolade exportiert werden konnte. Marys Sohn Martin, der bei Cadbury arbeitet, wird als Lobbyist nach Brüssel beordert. Dort mahlen die Mühlen naturgemäß langsam. Erst im Jahr 2000 wird der „Schokoladenkrieg“, wie er in der Presse bezeichnet wird, beigelegt. Dieser Schokoladenkrieg ist eine hierzulande kaum beachtete Episode, die aufzeigt, wie schwer sich das Vereinigte Königreich durch Beharren auf Eigenarten mit der EWG/EG/EU tat. Coe erinnert daran, wie britische Medien seinerzeit aus Brüssel berichteten. Lobbyist Martin beobachtet 1997, wie britische Korrespondenten sich einig sind, „dass die EU nichts als ein Schwindel war, den sich Bürokraten ausgedacht hatten, um selbst Macht zu erlangen; schlimmer noch, dass alles ein Komplott der Franzosen und Deutschen war, um Europa zu übernehmen“.Dieser euroskeptische Tenor wird sich fatalerweise bis zum Brexit-Referendum fortsetzen. Einer dieser Journalisten damals war der spätere Premierminister Boris Johnson, der als Reporter unter anderem für The Daily Telegraph und The Spectator schrieb – darunter unverfrorene Unwahrheiten.Kritik äußert Coe in seinem Roman auch bezüglich harter Coronamaßnahmen, die im Sterbe- und Todesfall für Angehörige unwürdig und unmenschlich waren. Der Autor selbst hat dies bei seiner eigenen Mutter während der Pandemie erlebt, von der er sich nicht würdig habe verabschieden können, wie er im Nachwort bitter schreibt.Coe gelingt es, tiefgründig und unterhaltsam unterschiedliche Haltungen und Ansichten in einem Gesellschaftsroman zusammenzulegen und zwar so, dass er jede einzelne Position ernst nimmt. Man liest herrliche Dialoge, tragisch-komische Szenen und immer lernt man dazu, nicht nur über die große Geschichte der Cadbury-Schokolade. Coe zeigt auf, weshalb Engländer so ticken, wie sie ticken. In einem Interview mit dieser Zeitung (der Freitag 5/2020) fasst er das so zusammen: „Engländer haben ein starkes Gefühl der Einzigartigkeit und von ihrer Inselidentität.“ Der englische Nationalismus speise sich aus der Erinnerung an das Empire und auch aus der Rolle Großbritanniens im Zweiten Weltkrieg. Auch das lernt man diesem großartigen Roman nachzuvollziehen.Placeholder infobox-1