Demonstration für Lina E.: Mit allen polizeilichen Mitteln gegen die Versammlung
Leipzig Mit einem massiven Polizeiaufgebot und Verboten von Versammlungen ging die Stadt Leipzig gegen Demonstrationen für die verurteilte Linksradikale Lina E. vor. Die Versammlung sollte mit allen Mitteln unterbunden werden
Die Polizisten sind gekommen, um die Demonstration in Leipzig für Lina E. zu verhindern
Foto: Moritz Schlenk / Imago
Seit zweieinhalb Jahren beherrscht Lina E. die Medienlandschaft in Sachsen. Nach Ermittlungen der Soko Linx wurde die Leipzigerin im November 2020 wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung angeklagt. Kein Gerichtstermin verging seitdem, ohne dass neue Details über die mutmaßlichen Angriffe gegen Neonazis in Sachsen und Thüringen öffentlich wurden. Mit jedem Gerichtstermin rückte allerdings auch eins in den Vordergrund: Der Tag, an dem Lina E. verurteilt wird.
Bereits im Juli letzten Jahres hatten Aktivisten angekündigt, am Samstag nach der Urteilsverkündung im Prozess gegen Lina E. in Leipzig protestieren zu wollen. Unter dem Motto „United we stand – Trotz alledem, autonomen Antifaschismus verteidigen!“ riefen sie unabhän
abhängig vom Strafmaß dazu auf, auf die Straße zu gehen. Als das Oberlandesgericht Dresden im Mai dieses Jahres schließlich das Datum der Urteilsverkündung bekannt gab, war klar: Die geplante Demonstration zum Prozess gegen Lina E. wird am Samstag, dem 03. Juni 2023 in Leipzig stattfinden.Es ist das Leipziger Super-Wochenende: Mehrere Versammlungen sind an diesem Tag bereits angemeldet. Aufgrund des Stadtfestes, eines Fußballspiels zwischen Lok Leipzig und dem FC Chemnitz sowie eines Herbert-Grönemeyer-Konzerts erwartet die Stadt außerdem mehrere Zehntausend Besucher. Mit Blick auf selbige sagte der sächsische Innenminister Armin Schuster gegenüber dem MDR: „Die wollen an diesem Tag alle Freude haben und feiern und das ist für uns auch ein wichtiger Auftrag.“ Doch statt sich im Laufe der Zeit auf die Versammlung vorzubereiten, scheint die Stadt lieber an deren Verbot gefeilt zu haben. Vier Tage vor Beginn der geplanten Demonstration erlässt sie schließlich eine 14-seitige Allgemeinverfügung, die es allen untersagt, am Samstag und Sonntag nach Urteilsverkündung im Fall von Lina E. Versammlungen, die im Zusammenhang mit dem Urteil stehen, abzuhalten. Die Stadt begründete das Vorgehen mit einer durchgeführten Gefahrenprognose, laut der mit einem unfriedlichen Verlauf der Versammlung zu rechnen sei.Es ist ein Grundrechtseinschnitt in das Recht auf Versammlungsfreiheit, von dem früher bereits im Zuge der Querdenken-Demonstrationen in Leipzig Gebrauch gemacht wurde. Die Anmelder hatten noch versucht, vor dem Verwaltungsgericht Leipzig und schließlich vor dem Oberverwaltungsgericht in Bautzen gegen das Verbot vorzugehen. Das Bundesverfassungsgericht als letzte Instanz hatte die Entscheidung über die Aufhebung des Verbotes schließlich gar nicht erst angenommen. Eine Begründung der Entscheidung gab es nicht. Auf Twitter sprach der Jurist Patrick Heinemann in diesem Zusammenhang von aufkommenden „Fragen nach der prozessualen Vertretung der Beschwerdeführung“. So sei es auf anderen Wegen durchaus möglich gewesen, das Gericht zu einem Urteil zu zwingen.Einschnitte in das Grundrecht auf VersammlungDabei hätten sich viele Beteiligten eine Begründung sicher durchaus gewünscht. Schließlich handelt es sich bei dem Vorgehen der Stadt Leipzig um einen Einschnitt in das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit. Mit der Allgemeinverfügung stellten die Behörden alle Teilnehmenden der Versammlungen, die anlässlich des Urteils stattfinden sollten, unter Verdacht, eine Gefährdung für die öffentliche Sicherheit darzustellen. Damit würde allerdings selbst eine Gruppe von Strafrechtswissenschaftlern, die das Urteil zum Anlass nehmen, um rechtsdogmatische Argumente gegen den Paragrafen zur Bildung einer kriminellen Vereinigung ins Feld führen, per se als gefährlich gelabelt werden, wie der Leipziger Jurist Jonathan Schramm auf dem Verfassungsblog schreibt.In der Begründung zur Erlassung der Allgemeinverfügung bezieht sich die Stadt Leipzig auf die im Zuge der G20-Proteste in Hamburg angewendeten Allgemeinverfügung, durch die es verboten war, sich innerhalb der Stadt Hamburg zu versammeln. Laut Schramm habe das Oberverwaltungsgericht Hamburg diese Allgemeinverfügung in einer Eilentscheidung zunächst zwar nicht beanstandet. Das Verwaltungsgericht Hamburg erklärte das daraus resultierende Verbot zweier Versammlungen fünf Jahre später allerdings für rechtswidrig. Das Gericht sah es laut Schramm „nicht länger für ausreichend [an], dass aus dem Kreis aller Teilnehmer von Demonstrationen und sonstigen Aktionen im Geltungsbereich der Allgemeinverfügung eine unmittelbare Gefährdung für die öffentliche Sicherheit zu erwarten ist.“ Im Fall von Leipzig sind die Gerichte zu einem anderen Urteil gekommen sein. Die Frage nach der Verallgemeinerbarkeit der Intentionen von Demoteilnehmern stellt sich dennoch.Denn wer am Samstag auf der Demonstration „Die Versammlungsfreiheit gilt auch in Leipzig“ war, muss trotz der Ausschreitungen mit Stein- und Flaschenwürfen anerkennen, dass die Mehrheit der Teilnehmer friedlich war. Einen Tag vor der verbotenen Lina E. Demonstration kündigte das Netzwerk „Say it Loud“ die Versammlung an, zu der auch Unterstützergruppen im Prozess gegen Lina E. mobilisierten.Was sich an diesem Nachmittag in der Leipziger Südvorstadt zeigte, sind eine Polizei und eine Stadt, die eine Versammlung um jeden Preis verhindern wollen. Zur Strategie der Polizei sagte Sachsens Innenminister Armin Schuster noch vor Beginn der Versammlung im Lagezentrum der Polizeidirektion Leipzig: „Wir haben die Hand ausgestreckt. Aber wer reinschlägt, kriegt die Antwort.“ Inwiefern der Innenminister die Hand ausgestreckt haben soll, bleibt auch in Hinblick auf die Demonstration am Nachmittag in der Leipziger Südvorstadt offen. Im MDR teilte der Innenminister kurz vor dem Wochenende noch mit, er habe Hoffnung „dass die linke Szene zur Beruhigung kommt“, da Lina E. nach der Urteilsverkündung zunächst frei gekommen ist und „das Motto [der Aktivisten] sie freizulassen, das passt ja jetzt insgesamt nicht mehr.“Eingekesselt von der PolizeiStatt den angemeldeten 100 sind laut Polizei etwa 1500 Menschen am Alexis-Schumann-Platz zusammen gekommen. Die Versammlungsleitung sucht deswegen nach weiteren Ordnern auf dem Platz. Parallel dazu laufen Gespräche zwischen Versammlungsbehörde und Versammlungsleitung, um weiterhin eine Demoroute zu ermöglichen. Schon eine halbe Stunde nach dem geplantem Beginn der Demonstration bilden die aus insgesamt 12 Bundesländern angereisten Polizisten ohne erkennbaren Grund eine Personenkette um den Ort der Versammlung herum. Für das große Polizeiaufgebot scheint die Koordination äußerst organisiert. Kurze Zeit später stellen sich auf der Hauptverkehrsstraße eine Reihe von Einsatzfahrzeugen dem Demozug in den Weg. Nach kurzem Erkunden des Versammlungsortes wird klar: Alle Anwesenden sind nun von der Polizei umstellt. Zeitlich parallel dazu twittert Ministerpräsident Michael Kretschmer „Polizisten aus Sachsen + weiteren Bundesländern schützen die Leipziger vor Gewalttouristen. Das Ziel ist, Menschen und Sachwerte zu beschützen und Gewalttäter festzunehmen. Ich danke allen Einsatzkräften für Ihren Dienst für unsere Sicherheit + unseren demokratischen Rechtsstaat.“Auf dem Platz wird es derweil unruhig, ein Demonstrationszug scheint angesichts der Umstellung durch die Polizisten nicht mehr in Sicht. Rund eine Stunde nach geplantem Start fordert die Polizei die Menschen dazu auf, ihre Vermummung abzulegen. Wenige Zeit später verkündet die Polizei, die Versammlung dürfe nur stationär bleiben. Außerdem würden Teilnehmende Steine aufsammeln und damit die Versammlung gefährden. Die Situation läuft schließlich aus dem Ruder: Erst werden an einer Ecke des Platzes einige Böller und Feuerwerk gezündet, dann läuft eine größere Gruppe von Vermummten quer über Straße, einige werfen Steine und Flaschen in Richtung der Polizeikette. Dann gehen die Polizisten auf die Demonstranten los, etwa 300 Menschen werden später im Kessel stehen, und erst am frühen Sonntagmorgen, herauskommen. Insgesamt zehn Wasserwerfer werden zum Zeitpunkt des Kessels an den Einmündungen zum Versammlungsgeschehen aufgestellt. Die Demonstration wird schließlich aufgelöst. Bis in die späten Abendstunden bleiben weiterhin viele der friedlichen Demonstranten vor Ort.Oberbürgermeister Burkhard Jung, der mit Blick auf das Wochenende zuvor noch den Geist der friedlichen Revolution beschwor, verkündete am Sonntag: „Ich finde es schon etwas naiv, zu glauben, man könne an einem solchen Tag eine Demonstration anmelden und davon ausgehen, dass sie friedfertig bleibt. Wir hatten im Vorfeld gebeten, trotz dem Respekt vor der Meinungsfreiheit, natürlich vor dem Demonstrationsrecht, darauf zu verzichten.“ In Anbetracht der Einschränkungen scheint das Zugeständnis an die Versammlungsfreiheit eher halbherzig zu sein.Was bleibt, ist die Fassungslosigkeit aller Beteiligten über den Umgang von Stadt und Polizei mit dem Recht auf Versammlungsfreiheit. Mit Blick auf die Allgemeinverfügung und das massive Polizeiaufgebot muss sich die Stadt die Frage gefallen lassen, ob die Ausschreitungen eine solch lang angelegte und massiv unterstützte Einschränkung der Versammlungsfreiheit aller rechtfertigen kann. Auch wenn die Versammlung gegen Polizeigewalt am Sonntag nach der Demonstration verboten wurde, wird die Menge der Versammlungen als Reaktion auf das Verbot eher zunehmen. Für diesen Montag, wenn die Allgemeinverfügung an Gültigkeit verloren hat, ruft das Netzwerk „Leipzig nimmt Platz“ bereits zur Versammlung „Grundrechte gelten auch in Leipzig“ auf.