Etwas kläglich flattert das rote Werbebanner mit der weißen Aufschrift im nassen Wind, während ein Dutzend Enten versucht, auf den Ruinen im Park vor dem Meininger Staatstheater zu landen. Einst von Georg I., Herzog von Sachsen-Meiningen, zur romantischen Erbauung errichtet, dienen sie heute als Geräteschuppen und Vogel-Ausflugspunkt. Geschnatter zerreißt die Stille. Ansonsten wirkt die Stadt im fränkischen Süden Thüringens wie ausgestorben, selbst die Wurstbude auf dem Markt ist kurz vor 18 Uhr schon dicht.
Georgs Enkel, der als Theaterherzog bekannte Georg II., der immer über die engen Grenzen seines Residenzstädtchens hinausdachte, bot hier im Dezember 1886 einem Skandalstück eine Bühne: Henrik Ibsens Gespenster war in Skandinav
6 einem Skandalstück eine Bühne: Henrik Ibsens Gespenster war in Skandinavien der Zensur zum Opfer gefallen. Georg II. sorgte für die erste öffentliche Aufführung im deutschsprachigen Raum, die den internationalen Erfolg des Stücks begründete.138 Jahre später kehren Ibsens Gespenster nun als Opern-Adaption zur Uraufführung nach Meiningen zurück; in einer Fassung des norwegischen Komponisten Torstein Aagaard-Nilsen und der Librettistin Malin Kjelsrud. Ob es diesen „Gespenstern“ gelingen wird, an diese glorreiche Theatergeschichte anzuknüpfen?Liebe, Angst, Erinnerung werden wiedergekäutAus dem Orchestergraben dringt leises Gläserklirren, wozu sich auf der Drehbühne eine dunkle Bretterwand öffnet. Vor den Bühnenprospekt, der an Caspar David Friedrichs erhabenes Eismeer-Bild erinnert, schiebt sich eine Ikea-Tapete samt passender Sitzgarnitur (Bühne: Dieter Richter). Helene Alving beklagt den Tod ihres Gatten Erik. Verzweifelt rauft sie sich den silberweißen Bob, nachdem sie ein Bild des Verstorbenen in die grauen Polster gedrückt hat. Doch hinter ihrer Trauer lauert die Angst vor den Erinnerungen – die bereits bei der Beerdigung die Regie übernehmen: Ein Bett fährt aus dem Bühnengrund, worin die junge Helene ihren Jugendfreund Pastor Manders umschlingt. Er weist sie zurück, bedrängt sie, zu Erik zurückzukehren. Der Glasharfenklang aus dem Graben wird von nervösen Streicherpizzicati erstickt, ein düsteres Cello-Tremolo bäumt sich auf.Liebe, Angst, Erinnerung lauten die wiedergekäuten Schlüsselwörter im Libretto Malin Kjelsruds, die Ibsens dreiaktiges Familiendrama zu einer Einakt-Oper mit assoziativen Szenen dekonstruiert und die ursprüngliche Figurenkonstellation um die Stimmen der Toten erweitert. Auch das Zimmermädchen Johanne und Hausherr Erik Alving werden hier zu wichtigen Partien – die Figur der Helene wird in ein junges und ein altes Alter Ego gespalten. Fast alle Wörter stammen aus Ibsens Feder, die aber nun, in neue Zusammenhänge gestellt, die Toten in einen Dialog mit den Lebenden treten lassen.Aagard-Nilsens Musik zitiert BekanntesDie Lebenslüge entsteht dabei weniger aus den Verfehlungen der Väter als vielmehr aus der erdrückenden Liebe einer Mutter. Es ist Helene Alvings Narzissmus, der die Toten nicht ruhen und die Lebenden nicht glücklich sein lässt. Sätze von therapeutischem Pathos fallen da, während die Meininger Drehbühne unzählige Runden drehen muss.Ansgar Haags Inszenierung wirkt über weite Strecken wie eine Familienaufstellung, obwohl das Programmheft einen Krimi mit schnellen Rückblicken und Schnitten wie im Film verspricht. Doch die vom Bühnenhimmel abgelassene Leinwand, auf die immer mal wieder ein malerischer Fjord samt Jahreszahl projiziert wird, schafft eher die erzwungen-gemütliche Atmosphäre eines Retro-Dia-Abends.Dass diese Gespenster-Fassung trotzdem bleibenden Eindruck hinterlässt, liegt an der Musik Aagaard-Nilsens, die intuitiv und unbekümmert aus bekanntem Repertoire zitiert. Da zersetzen elektronische Klänge Walzerrhythmen, lässiger Jazz mündet in eine schwelgende Elegie, ein Akkordeon verströmt Tango-Esprit, bricht einen Marsch. Die Meininger Hofkapelle lässt sich unter Philippe Bachs Dirigat auf jede Nuance ein. In der zentralen Szene, in der es Osvald Alving gelingt, sich durch vorgetäuschten Selbstmord endgültig aus der mütterlichen Umarmung zu befreien, verdichtet sich die Musik zu beinahe wagnerhafter Deklamatorik.Marianne Schechtel und Mykhailo Kushlyk erzeugen einen SogIn der Interpretation der Mezzosopranistin Marianne Schechtels als „alter“ Helene (die „junge“ Helene singt Sara-Maria Saalmann mit mitreißendem Mezzosopran) und des ukrainischen Tenors Mykhailo Kushlyk als Osvald entfaltet die Musik einen Sog, dem man sich nur schwer entziehen kann. Überhaupt besticht das Meininger Ensemble mit besonderen Stimmen, die jedes Wort des manchmal zu therapeutisch anmutenden Librettos verständlich machen, jeden Seufzer über quälende Erinnerungen und vergiftete Lieben neu akzentuieren.Die Familie als Keim- oder Terrorzelle der Gesellschaft – der Gedanke ist heute aktueller denn je. In Zeiten, in denen Konservative und Rechtspopulisten die Deutungshoheit über diese Konstellation erlangen wollen, sich bemühen, sie als nationale Dreiecksgeschichte mit klassischen Aufgaben zu zementieren, wirken selbst Ibsens vermeintlich längst überwundene Tabubrüche wieder anrüchig.Doch kann eine neue Oper dagegen etwas ausrichten? Vielleicht zum Nachdenken verführen. Mit der so undidaktischen Musik Torstein Aagaard-Nilsens, die festgefahrene Konstellationen lustvoll aus den Angeln hebt und subtile Fragen stellt – Fragen nach der Notwendigkeit von Grenzen und Eindeutigkeit.