Sivan Ben Yishais „Nora oder Wie man das Herrenhaus kompostiert“: Freiheit für Anne-Marie
Bühne Ibsens „Nora“ ist ein feministischer Klassiker. Doch befreien darf sich hier nur die Herrin. Am Schauspiel Hannover räumen Sivan Ben Yishai und Marie Bues daher den Nebenfiguren mehr Platz ein. Die nutzen ihn prompt und reißen alles ab
In Sivan Ben Yishais Ibsen-Überschreibung „Nora oder Wie man das Herrenhaus kompostiert“ bekommen endlich die Bediensteten Platz
Foto: Kerstin Schomburg
Im Herrenhaus rumort es. Zwar ist Ibsens Nora (Birte Leest) in Nora oder Wie man das Herrenhaus kompostiert am Staatstheater Hannover ganz zufrieden damit, eine berühmte feministische Heldin in einem oft gespielten Stück zu sein. Sie ist gut im Geschäft. Aber die Nebenfiguren haben Existenzängste: „Ein Paketbote“ (Torben Kessler) ist schon rausgekürzt worden und zu schlechteren Bedingungen wieder eingestellt. Anne-Marie (Irene Kugler), das 73-jährige Kinder„mädchen“, bekommt zwar ein 13. Jahresgehalt, vermisst aber ihre eigenen Kinder. Einzig Kristine (Florence Adjidome), die in der Inszenierung über lange Passagen als eine Art Erzählerin agiert, kann das alles, ohne Mann, Geld, Haus, von außen betrachten. Ibsens Dra
. Ibsens Drama sei „zu lebendig, um zu sterben, zu tot, um sich zu verändern“, sagt sie.In Nora oder Wie man das Herrenhaus kompostiert inszeniert Bues nicht einfach nur Ibsens Klassiker Nora oder Ein Puppenheim. Die zurzeit sehr gefragte Autorin Sivan Ben Yishai lässt in dem in Hannover uraufgeführten Auftragswerk die Nebenfiguren aus dem Stück sprechen – die namenlosen Dienstbotinnen, Köchinnen, Freundinnen mit ihren insgesamt 30 Zeilen in dem Drama, diejenigen, für die es am Ende keine Auflösung gibt, kein anderes Leben. Schon in ihrem Text Nora: Prolog beschäftigte sie sich mit den Nebenfiguren. Die Nora-Inszenierung an den Münchner Kammerspielen, in die der Text aufgenommen wurde, war zum Theatertreffen 2023 eingeladen. In Hannover nun kommen jene, die auch in München nur am Rande standen oder gar nicht besetzt wurden, zu ihrem Recht. Oder versuchen es zumindest. Ben Yishai schreibt nicht neu oder um – sondern denkt in ihrem Text über den Stoff nach. Sie verschiebt mit einem Text voller grandioser Sätze und satter Sprache einfach nur den Fokus.Schon in „Nora: Prolog“ wandte sich Sivan Ben Yishai den Bediensteten zuDabei bleibt die Inszenierung dem Geist von Ibsen und seinem Herz für Unterdrückte erstaunlich treu, auch wenn es in Hannover um eine Gruppe Unterdrückter geht, die Ibsen übersehen hat. Das 1879 erschienene Werk zumindest ist und bleibt die Geschichte einer toxischen Beziehung und ein Angriff auf die Institution der Ehe. So sehr, dass – auch das erfährt das Publikum in Hannover – bei der deutschsprachigen Erstaufführung 1880 Nora bei ihrem Mann bleiben musste. Dem Publikum im Kaiserreich konnte die revolutionäre Idee von einer Frau, die ihre Kinder und ihren Mann verlässt, nicht zugemutet werden.Wie auch schon in Nora: Prolog ist der zentrale Satz des Textes: „Dies ist die Geschichte eines Hauses.“ Mantraartig wiederholen die Figuren auf der Bühne ihn, gerne auch mal im Chor. „Haus“ meint hier vor allem eines: ein System, in dem Ausbeutung und Unmenschlichkeit herrschen. In Ibsens Drama wird das Haus, wenn man so will, neu möbliert – Nora verlässt es. Das Haus selbst bleibt aber stehen. Bues und Ben Yishai reißen es ab. Die Seitenplatten des Herrenhauses bröckeln dabei genauso wie Noras Feminismus. Die Frau, die bei Ibsen aus dem Puppenhaus fliehen will, weil sie sich kontrolliert fühlt, wird hier selbst zur Puppenspielerin. Denn in Bues’ Inszenierung verlässt sie, um des lieben Geldes willen, das System nicht wirklich. Abend für Abend gibt sie die Herauslaufende, die Abhauende nur – denn das wollen die Leute sehen, dafür zahlen sie. Würde sie wirklich verschwinden, müsste sie ja was anderes machen, aber der privilegierte Feminismus ist nun mal bequemer.Die Nebenfiguren dagegen würden gerne was anderes machen, können aber nicht: Zu abhängig sind sie von Nora, Unabhängigkeit können sie sich nicht leisten. Niemand denkt an sie. Denn wer weiß schon, dass Anne-Marie, das Kindermädchen, ihre eigenen Kinder für die „gute Stellung“ verlassen hat, um zuerst Nora und dann Noras Kinder aufzuziehen? Interessiert hat es nicht einmal das so ums Kinderwohl besorgte Kaiserreich-Publikum.Marie Bues' Inszenierung wirkt nur auf den ersten Blick respektlosUnabhängigkeit, Gerechtigkeit für die Nebenfiguren ist in dem bestehenden System nicht zu machen. Also weg damit. Die Nebenfiguren ziehen sich in die Fußnoten zurück, in den Keller des schon stark zerbröckelnden rosa Hauses, das auf der Drehbühne rotiert, besetzen es schließlich lautstark, demolieren es, vergraben es unter Blut und Erde und versenken es im Bühnenboden. „Die Autoren, die das schrieben, sind alle tot. Wir nicht“, deklamieren sie, tanzen auf den Resten des Hauses, überlassen es der Natur. Kompostieren es, damit etwas Neues, Besseres daraus wächst.Das alles ist ein wenig absurd, ein wenig lustig, ein wenig überdreht – gerade auch, weil die Sprachspielerin Ben Yishai sich in Hochform zeigt. Letztendlich basteln sich Bues und Ben Yishai in Nora oder Wie man das Herrenhaus kompostiert eine Reflexion über Ibsen zusammen, die auf den ersten Blick vielleicht respektlos wirken soll – es aber nicht ist. Vielmehr benennt sie einerseits klar, dass, wer nicht auf seine systemgegebenen Privilegien verzichtet, sich immer noch mit dem System gemeinmacht, selbst, wenn es aktiv abgelehnt wird. Andererseits schlägt die Inszenierung eine Alternative vor: Raus mit dem alten Kram, die alten Autoren sind tot, der Kanon abgearbeitet und gehört auf den Komposthaufen. Nur dann kann fruchtbarer Boden daraus werden, auf dem die alten Ideen neu gedacht werden können. Ideen, bei denen dieses Mal wirklich alle mitgenommen werden können. Das ist zwar nicht neu und schon gar nicht radikal – aber immer wieder wert, wiederholt zu werden.
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