Animal triste

Im archinaut: Spekulationen über Heimweh und Revolution, außerdem berichtet El Lissitzky über die Ergebnisse des Wettbewerbs zu Ehren seines 100. Geburtstags

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Nur zwei müde Kerzenflammen blinzeln leise noch im archinaut: Das Feuer im Kamin ist längst gelöscht, der Tisch ist leer bis auf zwei Gläser, Mies und El Lissitzky ventilieren in Vergangenheit. Gerade reden sie über die Schweizer Krankheit:

„Wechsel der Umgebung, ungewohnte Luftqualität und fremde Sitten hielt man für die Ursache," erinnert sich Mies und lächelt.... "Bei den Heimwehkranken wohnen die Lebensgeister in jener Gehirnregion, wo die nationale Identität verankert ist...“vielleicht hat er dabei im Sinn die Dissertatio medica de Nostalgia oder Heimwehe von Johannes Hofer, 1688 in Basel veröffentlicht. Als wirksamste Methode zur Heilung des Heimwehs empfiehlt Hofer die Rückkehr in die Heimat, behelfsweise auch ein Klistier zur Besserung der gestörten Einbildungskraft.

„Heimweh und Verbrechen“, setzt Lissitzky den Titel der Promotion von Karl Jaspers dagegen, „veröffentlicht ein Jahr nach Ornament und Verbrechen,.... Heimweh ist ein reaktionärer Reflex, keine Krankheit!“

„Was als Nostalgia bezeichnet wird, ist als symbolische Rückkehr zu Objekten oder Vergegenwärtigung von Ereignissen zu verstehen, die großen Satisfaktionswert versprechen,“ versucht Mies eine Definition von Zwingmann zu rekapitulieren.... ob sie auch für Schweizer Kühe gilt, die durch alle Zäune gehen, wenn man sie mit dem heimatlichen Kuhreihen lockt?

„Die Revolution kennt kein Heimweh!“postuliert El Lissitzky, Mies hält dagegen: „Ich kenne Menschen, die vor Heimweh nach der Revolution krank werden....“ wieder lächelt er kurz.

„Müssen wir den Sozialistischen Klassizismus nicht als gebaute Nostalgia bezeichnen? Die Residenzen waren gestürmt, aber die historisierenden Stilelemente sollten die Wohnpaläste der arbeitenden Klasse schmücken wie Trophäen..... Stalins Architekten haben mit dem Rückgriff auf die feudalistische Machtsymbolik auch Nistplätze des Heimwehs errichtet,“überlegt Mies laut.

El Lissitzky errinnert sich nicht gern an diese Zeit: „Ein Irrweg!“ wirft er ein, „Stalin ist verurteilt worden, der Personenkult war unerträglich!“ Der unvollendete Palast in Moskau zerfällt langsam vor seinem geistigen Auge....

Bei dem Wort Personenkult kommt Mies ein Gedanke: „Die Berliner Kunsthochschule hatte doch einen Wettbewerb ausgeschrieben, hast Du erzählt, eine Hommage zu Deinem Hundertsten, dann sind wir vom Thema abgekommen......bist Du Mitglied der Jury gewesen?“

Letzte verirrte Sylvesterböller krachen fernweit in die Stille der Nacht am Schlossplatz, klingen fast wie Schüsse aus einer Flinte größeren Kalibers.

El Lissitzky schüttelt den Kopf: „Nein, zur Sitzung der Jury war ich nicht eingeladen, sie tagte im Oktober 1990.... Ein Geleitwort zum Katalog wollte ich gerne schreiben, sozialistische Grüße zur Eröffnung der Ausstellung.... aber durch den Umsturz der Demokratischen Republik hat sich alles anders ergeben: Der Wettbewerb war auch in seinen Anfängen nicht gedacht als selbstgewisse Nachlassverwaltung, schrieb der Leiter der Projektgruppe später in das Vorwort des Katalogs. Dennoch hatte sich der erste Aufruf bald zu korrigieren...... Die geschichtlichen Ereignisse des vergangenen Jahres, Revolution und eine Wende, trugen einen doppelten Ansatz in sich...... Auf viele alte Ideen und Unternehmungen wirkte der Abriss der DDR wie ein Sandstrahlgebläse....“

„Der Konstrukteur des neuen Weltaufbaus ist schon zu seinen Lebzeiten bitter widerlegt worden, äußerte er über meine Hinterlassenschaften, Die Rettung aus dem inzwischen längst verkommenen Neuen bietet sich an aus dem inzwischen längst bewährten Alten. Es mag so aussehen, als sei die Utopie verantwortungslos gewesen, wenigsten zu Zeiten töricht.

„Das klingt, als hätten sie Dir einen goldenen Sarg angeboten,“ wundert sich Mies, „warum waren sie so müde?“

„Übertölpelt waren sie, überrumpelt und besoffen vor Glück,“ grummelt Lissitzky, „die ausgelobten Preise haben sie eins zu eins in West-Mark ausgezahlt und waren auch noch stolz darauf! Abgereist bin ich, mir war zum Heulen zu mute, und ich weiß nicht einmal, ob aus Scham oder aus Wut!“

„Konntest Du die Ergebnisse des Wettbewerbs sehen? Waren die Teilnehmer mutig...... habe sie Revolution neu buchstabiert?“

El Lissitzky stöhnt: „Es war entsetzlich, Verwirrung und Sprachlosigkeit, ironische Fingerübungen, Kunsthandwerk, Babel im Bild..... übrigens hatte auch der frischgebackene Architekt Rapido seine Arbeit eingereicht...... zehn erste Preise hat die Jury vergeben, die Ausstellung wurde im feudalen Marmorsaal eingerichtet, gleich nebenan.....“

„Warum sagst Du das?“ wundert sich Mies, „Wieso nebenan.... unser Tourbus steht doch hier an der Schlossbaustelle!“

El zuckt zusammen: „Für einen Moment bin ich eingenickt, pardon..... habe geträumt, ich wäre im Maxim-Gorki-Theater.....“ er starrt verwirrt in das Dunkel: „Ist da jemand?“



Hier endet der 137. Eintrag: Dieser Blog mischt Fiktion und Realität. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind zufällig und in der historischen Überlieferung nicht verbürgt. Ich bin nur der Navigator, mein Name sei NEMO:

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Textpassagen kursiv

von Prof. Axel Bertram

Leiter der Projektgruppe

„Hommage à Lissitzky“

Kunsthochschule Berlin

zit. nach:

Dokumentation

zum Wettbewerb

Hommage à Lissitzky

AusstelIung vom 1. bis 30. November 1990

im Palais am Festungsgraben

Veranstalter

Kunsthochschule Berlin

Verband Bildender Künstler e.V.

Palais am Festungsgraben

(Interclub Berlin)

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