Rapidos Umnachtung

Im archinaut: Später erzählt El Lissitzky von der Vision, die Graph Rapido erschöpfte

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„Neunundachtzig habe ich Graph Rapido erst gegen Ostern wieder getroffen,“ blickt El Lissitzky zurück in das janusköpfige Jahr, „er hatte sich tief in seinen Stoff vergraben: bei den Zeitgenossen Foucault, Virilio, Lyotard, Deleuze/Guattari, auch ältere Texte von Panofsky, Giedion, Eisensteins Schriften und andere..... die ersten Wochen des Jahres hatte er genutzt, um eine Versuchsanordnung für einen utopischen Entwurf einzurichten, hatte Texte zusammengestellt und viele Schnitte skizziert...... Die Stadt hat sich so weit ausgedehnt, dass wir keinen gemeinsamen Ort finden können, so begründete er sein Konzept für ein dezentrales Forum....“

„Das klingt paradox!“ widerspricht Mies vorsichtig, „wenn man keinen gemeinsamen Ort hat, findet man sich nicht!“

„Ich versuche die Stimmung zu beschreiben, in der ich ihn traf..... Rapido verstand die Entwurfsarbeit als Expedition: Ich muss in mir selbst den Brunnen suchen, aus dem diese Gedanken zu schöpfen sind, hat er mir erklärt, dort werde ich alles finden, was der Plan braucht....er suchte er eine Strategie um Inseln des Stadt-Atolls in mehreren Stufen zu einer Erzählung zu verknüpfen, eine narrative Strategie sozusagen.“

„Er beschrieb eine Reise?“ wundert sich Mies: „Meine Häuser habe ich wie einen Stein geschlagen und gefügt, schwere Massen zwischen den lichten, dann die Strukturen aus Stahl und kristalline Häute aus Glas!“

„Du kennst doch das Gefühl, lieber Mies, wenn die neue Aufgabe noch ein Rätsel ist: der Gegenstand Deines angespannten Interesses beschäftigt nicht nur Deine Gehirnzellen, sondern erfüllt alle Winkel und jede Nervenfaser Deines Selbst mit einer unerfüllten Sehnsucht..... stellt Euch also einen verzweifelten Graph Rapido vor, der zwölftausend Meter Straße in seinem Kopf hin und her wendet! Wie also anfangen?“

„Der Geschichte folgen?“ schlägt Peggy vor.

„Ist die Vergangenheit nicht ebenso hart umkämpft wie die Gegenwart? Die historische Geschichte steht uns nur als Interpretation zur Verfügung, als eine gewählte Erfindung der Vergangenheit, die täglich neuen Änderungen und Deutungsversuchen ausgesetzt ist, aber der Schritt in die Zukunft ist aus der Geschichte nicht erkennbar, denke ich.......Rapido hat daher einen kurzen Urplot erfunden und sich endlich über unzählige Bögen von transluzent schimmerndem Skizzenpapier auf die Reise begeben, die ihn auf den letzten Grund des Entwurfes führen sollte.“

Mies ist nicht einverstanden, aber er sieht, dass Peggy aufmerksam den ausgeführten Umständlichkeiten folgt. Die Verarbeitung der Mahlzeit verursacht eine gewisse Trägheit in seinem Kopf, so überlässt er das Wort El Lissitzy, der immer weitere Details in den Archiven seiner Erinnerungen entdeckt.

„Unser Gehirn ist doch ein rätselhafter Ort.... speichert Dein ganzes Leben, jeden Gedankengang, alle Räume, alle Laute, alle Gerüche, wirft aber auch einen Strahl der Erwartung in die Zukunft wie das Auge in der Vorstellung von Pythagoras und Ptolomäus, das mit einem heißen Sehstrahl die Gegenstände und den Raum vor Dir abtastet..... ob unser Gehirn selbst nicht auch die Zeit erfunden hat, um diese Totalität zu ordnen?“

„Ist der arme Graph Rapido denn verzweifelt? Oder hat er es geschafft, zwölf Kilometer auf’s Papier zu werfen?“

„Sein Zugang war der Film, den ich Euch eben zeigen konnte...... der Blick verbindet eine Distanz von zwölftausend Meter in sechzig Sekunden.... überwindet also zweihundert Meter in der Sekunde, erfasst demnach etwa zwanzig Bilder auf zweihundert Meter, das ergibt rechnerisch alle zehn Meter eine fotografische Abbildung ...... vielleicht sollte ich daran erinnern, dass Graph Rapido im März 1989 noch keine Rechner zur Verfügung standen, um die Daten großer Räume zu speichern. Erst in den Jahren danach entwickelten sich die Techniken, die Archive der virtuellen Architektur und die unübersehbaren Entfaltungen der Datensätze im Internet, das aus Milliarden von Rechnern gespeist wird wie ein mächtiges Rhizom... Damals hing das Telefon sogar noch am Festnetz!“

„Er zeichnete also von Hand... an einer Reißschiene?“ fragt Mies nach und sieht dabei aus, als habe er gerade ein verloren geglaubtes Körperteil wieder entdeckt....

„Mit Reißschiene und Graphit wird vorgezeichnet, dann wird die Reinzeichnung auf einem neuen Transparent über der Vorzeichnung mit Tusche und Rapidograph ausgezogen, liebe Freunde...... Rapido arbeitete wie im Fieber: er zog eine gerade Linie aus der Mitte der Schlossbrücke in Folge des Straßenzugs nach Westen, auch über den letzten Straßenknick am Scholzplatz hinaus, durch den Grunewald bis er das Wasser der Havel im Stößensee erreichte... in den großen Kartenmaßstab schrieb er eine regelmäßiges Teilung der Strecke...... die ersten Zeichnungen waren anderthalb Meter lang, 1:10.000 der Maßstab, dann wechselte er in den Maßstab 1:1.000, damit lag ein Plan von dreizehn Meter Länge vor ihm..... und die Zeit drängte, denn er hatte einen Termin für die Abgabe einzuhalten!“

„Für das dezentrale Forum setzte er eine Reihe von kleinen Gebäuden, er nannte sie 27 Gehäuse für eine noch unbenannte Bewegung, für jedes Gehäuse zeichnete er eine grobe Kommunikationsstruktur, ordnete einige Nutzungen und ein paar Flächen, das erste sollte südlich vor der Schlossbrücke im Wasser stehen, Entwurf für Entwurf trieb er durch das Gewebe der Stadt, die beiden nächsten am Rand der Linden, fünfhundert Meter Abstand von Haus zu Haus...“ „Siebenundzwanzig? An die Zahl kannst Du Dich sogar noch erinnern?“ fragt Mies zweifelnd: Das ist keine moderne Zahl, denkt er noch.

„Die Strecke von Spree zu Havel hatte er mit dreizehn Kilometer vermessen, das Teilungsmaß betrug fünfhundert Meter...... mit dem vierten Gehäuse traf er zufälligerweise die Berliner Mauer am Brandenburger Tor..... sein Entwurf durchmaß in Fünfhundert-Meter-Schritten den Tiergarten, dann das ganze Berliner Urstromtal, rollte hinter Charlottenburg nach Westen über die Hügel..... Tag um Tag, Stunde für Stunde kämpfte Graph Rapido sich durch das Stadtgewebe voran, erschöpfte seine Fantasie in jeder Fläche, in jedem Gehäuse noch einmal neu, Strich um Strich näherte er sich dem westlichen Ende....... allein das letzte Gehäuse wollte er detaillieren, ein Gebäude entwerfen mit Wänden, Räumen und Terrassen, Trägern und Stützen, mit jeder Treppenstufe, mit Aussichtspunkten hoch über der Wasserfläche des Stößensees, mit einer Glaswand, die sich öffnen und den Blick zurück bis zum Palast der Republik freigeben sollte...... aber in jeder Nacht wuchsen Angst und Zweifel: Könnte er diesen Entwurf bis zum Ende führen? Immer wieder einen neuen Strich setzen, eine neue Erfindung notieren?“ „Termine sind der Tod jeder Idee,“ murmelt Mies, „Ideen müssen reifen wie Wein... doch es braucht den bestimmten Tag, die Idee zu präsentieren: sonst verdirbt sie ungenießbar!“

„Es muss schon Pfingsten gewesen sein, als er versuchte, den Öffnungsmechanismus für die Glashülle zu entwerfen, und er verzweifelte schließlich, weil ihm über mehrere Tage die Konstruktion der beweglichen Mechanik nicht gelingen wollte...... er fand keinen Schlaf und träumte über seinem einsamen Zeichentisch von einer eleganten Bewegung, mit der sich der gläserne Kelch aufdrehen sollte wie eine taufeuchte Blüte zur Morgensonne im Osten...“

„Umnachtung und Erleuchtung sind Geschwister,“ räuspert sich Ernst Jünger...... vielleicht möchte er überspielen, dass er gerade einen Moment gedöst hat.



Hier endet der 127. Eintrag: Dieser Blog mischt Fiktion und Realität. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind zufällig und in der historischen Überlieferung nicht verbürgt. Ich bin nur der Navigator, mein Name sei NEMO:

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archinaut

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