Dem Skandal sei Dank

Streaming Barbara Schweizerhof findet die „Cuties“ nicht süß, sondern wohltuend komplex. Spoiler-Anteil: 25%
Ausgabe 39/2020

Um es mal von der verkehrten Seite herum aufzuziehen: Ein französischer Film über eine elfjährige Pariserin mit senegalesischer Migrationserfahrung, zumal als Regiedebüt einer jungen, senegalesisch-französischen Filmemacherin, hat nicht unbedingt das Zeug dazu, zum Publikumshit aufzusteigen. Auch nicht in der neuen Streaming-Ära. Um einen Film wie Maïmouna Doucourés Cuties der breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen, ist tatsächlich ein Skandal das Beste. Laut Flixpatrol stieg Cuties im September in den USA unter die Top 5 auf Netflix auf – für einen französischen Film ziemlich ungewöhnlich.

Womit nicht gesagt sein soll, dass Netflix es auf den Skandal abgesehen hätte, als der Streamingdienst für die Werbung ein Filmstill auswählte, auf dem eine Gruppe von vorpubertären Mädchen mit Hauptheldin Amy (Fathia Youssouf) im Vordergrund mit Schmollmund und Schulterblick einen auf sexy Pose macht. Das Plakat führte vor allem in den USA zu einen Sturm der Entrüstung. Kinderschutzvereine forderten die sofortige Absetzung des Films, der republikanische Senator Ted Cruz rief nach einer Untersuchung vor dem Kongress, ob sich Netflix der Werbung für Kinderpornografie schuldig mache, und in der Türkei erwirkte der Familienminister augenblicklich ein Ausstrahlungsverbot. Das Hashtag #CancelNetflix setzte sich kurzzeitig an die Twitterspitze, auf change.org wurden über 650.000 Unterschriften gesammelt und in QAnon-Kreisen gab es schon gleich die Verschwörungstheorie dazu: Der Film sei von den Obamas finanziert. Und während offenbar tatsächlich mehr Menschen als sonst im September ihr Neflix-Abo kündigten, stieg der Film in den Hitlisten weiterer 17 Länder unter die ersten zehn auf. So weit, so gut und schlecht zugleich.

Denn sosehr man ihm die Publicity gönnt, hat der Film diesen Skandal natürlich alles andere als verdient. Sowohl bei seiner Premiere im Januar auf dem Festival von Sundance als auch beim Filmstart in Frankreich Mitte August waren die Kontroversen ausgeblieben. Wer den Film sieht, weiß auch warum: Cuties ist eine sehr ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema weibliches Erwachsenwerden: Die elfjährige Amy bezieht mit Mutter und zwei kleinen Geschwistern eine neue Wohnung, in der das schönste Zimmer zunächst verschlossen bleibt. Warum, das muss sie sich durch Mitgehörtes erschließen: Ihr Mann, so erzählt die Mutter mit bitterem Ton einer Freundin am Telefon, werde demnächst aus Senegal eine zweite Ehefrau mitbringen. Sei es, dass Amy die darin liegende Demütigung ihrer Mutter spürt oder einfach nicht verstehen kann, warum diese sich in ihr „Schicksal“ ergibt, in jedem Fall löst sich Amy aus den traditionellen muslimischen Frauenkreisen um sich herum und geht ihrer Faszination für das körperbewusste Tanzen ihrer Nachbarin Angelica nach. Durch Hartnäckigkeit erkämpft sie sich einen Platz in der Mädchenclique ihrer Schule, die als Tanzcombo bei einem Wettbewerb auftreten möchte. Mit offenen langen Haaren, Shorts und meist bauchfrei getragenen T-Shirts üben sich die Mädchen im rhythmischen Hinternwackeln. Die Videos der sozialen Medien machen es ihnen vor, und in eifriger Unschuld ahmen sie nach, irgendwie daran glaubend, dass man genau das von ihnen erwartet.

Nicht nur, dass Doucouré ihre kleinen Heldinnen nie einem ausbeuterischen Blick preisgibt, auch nicht da, wo sie deren Twerk-Bemühungen filmt, ihr Film lotet die schwierige Realität aus, vor die sich Mädchen auf der ganzen Welt gestellt sehen. Amys Liebe zu den sexy Posen ist auch eine Rebellion gegen das Unglück der Mutter, wie überhaupt aus Mädchenperspektive das „Frauwerden“ oft wie ein Prozess des Unterordnens aussieht. Selbstbewusstes „Twerking“ wirkt da zunächst wie ein Akt der Emanzipation. Dass in einer Tanznummer, wie sie die „Cuties“ schließlich aufführen, auch eine ungute Zurichtung auf den männlichen Blick liegt, müssen Amy und ihre Freundinnen erst noch durchschauen. Dass man sich über sie empört, ihre Posen gar als Einladung zur Übergriffigkeit benutzt, macht ihre Lage nicht einfacher. Es gibt nur wenige Filme, die den mit Demütigungen, Zurechtweisungen und Konflikten gepflasterten Hindernislauf des weiblichen Aufwachsens so präzise und dabei komplex auf den Punkt bringen wie Cuties. Die Publicity des Skandals sei ihm deshalb aus ganzem Herzen gegönnt – und die Vorwürfe winkt man am besten einfach ab.

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Geschrieben von

Barbara Schweizerhof

Redakteurin „Kultur“, Schwerpunkt „Film“ (Freie Mitarbeiterin)

Barbara Schweizerhof studierte Slawistik, osteuropäische Geschichte und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin und arbeite nach dem Studium als freie Autorin zum Thema Film und Osteuropa. Von 2000-2007 war sie Kulturredakteurin des Freitag, wechselte im Anschluss zur Monatszeitschrift epd Film und verantwortet seit 2018 erneut die Film- und Streamingseiten im Freitag.

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